2 Anmerkungen zur Prozess-Arbeit im Allgemeinen
2.1 Was ist Prozess-Arbeit?
Der Begriff Prozess-Arbeit hat sich mehr und mehr im psychotraumatologischen Sprachgebrauch etabliert, sodass ich mich darauf beziehen, ihn zunächst aber noch definieren möchte.
Wir kennen das R aus dem EMDR als sogenanntes Reprocessing, übersetzt als Aufarbeitung, Verarbeitung, Umarbeitung, d. h., es wird eine frühere (traumatisch aufgeladene) Situation wieder aufgerufen und bearbeitet, wodurch sich das Erleben verändert. Im psychotraumatologischen Kontext sprechen wir von Integration, wenn durch diese Verarbeitung Erinnerungen an Brisanz verlieren und dann weniger affektiv aufgeladen in das biografische Gedächtnis aufgenommen werden können. (Re-)Prozessieren ermöglicht also durch die Umarbeitung des damaligen traumatischen Erlebens in heutiges – weniger belastendes – Erleben eine Integration alter Erfahrungen in das heutige biografische Gedächtnis. Dabei geht es nicht nur um kognitives Verstehen und emotionales Verarbeiten. Auch der Körper muss in diesen Prozess einbezogen sein, das Trauma quasi verdaut und verstoffwechselt werden, damit es integriert wird. Wenn wir dies nicht berücksichtigen, bleiben Teile des Erlebens abgespalten.
Traumaintegration bedeutet nach Sachsse, dass die zuvor voneinander dissoziierten Ebenen von Wort, Bild, Affekt und Körpersensationen (BASK-Modell8) synthetisiert und dabei als ganzheitlich erlebt und ausgehalten werden können. Die zuvor fragmentarischen Informationen des impliziten Gedächtnisses werden ins verbale, explizite Gedächtnis und Wachbewusstsein integriert. Die Traumabearbeitung war dann erfolgreich, wenn der davon betroffene Mensch das Ereignis erinnern kann, aber nicht mehr erinnern muss, ohne Symptome zu bekommen wie Hyperarousal, Dissoziation, Selbstschädigungs- oder Suchtdruck, Suizidalität etc. Somit werden aus unerträglichen und unkontrollierten Intrusionen und Flashbacks erträgliche und kontrollierbare Erinnerungen. Expositionsmethoden, die sich bewährt haben, aktivieren die erlebte Intrusion und das kognitive Wachbewusstsein gleichzeitig oder im raschen Wechsel (Sachsse 2010).
Oft wird Stabilisieren und Prozessieren als Entweder-oder einander gegenübergestellt, worin sich auch eine Grundlagendebatte der verschiedenen Traumatherapieansätze spiegelt. Eine Seite betont die Wichtigkeit der Stabilisierung, eine andere Seite hält dagegen, dass ausschließlich durch Traumakonfrontation Traumafolgestörungen effektiv behandelt werden könnten. Wie immer bei solchen Debatten gibt es mehrere Wahrheiten, und wir sollten vermehrt Ansätze in der Mitte suchen und entwickeln.
Luise Reddemann (2011) plädiert für eine Pendelbewegung zwischen Prozess- versus Phasenorientierung entlang des Bedarfs der Klienten. Auch Michaela Huber (2011) hat diese Gegensätze zusammengefasst und dafür votiert, frühzeitig mit Prozessieren zu beginnen, dies aber sehr vorsichtig und achtsam und vor allem unter Beachtung von Kontraindikationen und unerwünschten Nebenwirkungen zu tun. Auch weist sie darauf hin, dass Prozessieren nicht erst dann beginnt, wenn wir Traumakonfrontation durchführen. Jeder Vorgang im Lernfenster9, mit dem die Klientin eine neue Erfahrung, neues Erleben oder eine neue Erkenntnis verknüpft, ist bereits ein integrativer Vorgang, d. h., Integration findet fortwährend in »bits and pieces« statt und nicht nur in detaillierten und umfassenden Traumakonfrontationen.
Zu Recht weist Reddemann (2011) darauf hin, dass der Wunsch von Klientinnen, die Traumaerfahrung zu erzählen, nicht gleichbedeutend ist, diese nach dem BASK-Modell zu prozessieren. Wenn also eine Klientin den Wunsch äußert, über ihre Erfahrung zu sprechen, dann sollten wir nicht reflexartig abblocken, um sie nicht ungewollt in eine Exposition hineingleiten zu lassen. Gerade bei sexualisierter Gewalt kann dies wie ein früheres Redeverbot erlebt werden und hierdurch die therapeutische Beziehung belasten. Dennoch finde ich es wichtig, mit den Traumainhalten vorsichtig umzugehen. Daher erkläre ich der Klientin, warum ich für ihren Bericht eine gute Rahmung wichtig finde und dass dies nicht dem Schutz von Tätern dient, sondern ihrer eigenen psychischen Sicherheit. Zudem vergewissere ich mich über das Motiv für dieses Bedürfnis – meist geht es um Validierung, um Zeugenschaft und Würdigung ihrer Erfahrung und dass ihr endlich jemand glaubt und sie darin erst nimmt –, und dann erarbeiten wir gemeinsam einen möglichst sicheren Rahmen, sodass die Klientin aus sicherem Abstand heraus über ihre Erfahrung berichten kann.
2.2 Hippocampus und Amygdala
Ich gehe in diesem Buch nicht detaillierter auf die Erkenntnisse der neueren hirnphysiologischen Forschung ein, das ist in der Fachliteratur ausführlich und gut beschrieben10. Stattdessen möchte ich Ihnen ein deutlich vereinfachtes Modell an die Hand geben, das sich gut für Psychoedukation mit Klientinnen eignet. Wohlwissend, dass die aktuellen Modelle weitaus komplexer dargestellt werden, habe ich mir erlaubt, die Sachverhalte auf die Gegenüberstellung von Amygdala- und Hippocampus-Funktion zu reduzieren (Tabelle auf S. 34).
Amygdala und Hippocampus sind Bereiche des limbischen Systems, die Reize prüfen und verarbeiten, bevor diese über die Großhirnrinde in unser Bewusstsein vordringen. Der Hippocampus kann hierbei als unser biografisches und Alltagsgedächtnis betrachtet werden. In diesem Areal bzw. Netzwerk werden die Reize des Alltagslebens verarbeitet und in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet. Dadurch ist es möglich, über ein früheres belastendes Ereignis recht neutral zu berichten und dieses räumlich und zeitlich einzuordnen, z. B.: »Ich habe mir 1975 zwei Zehen gebrochen, das tat weh, und ich hatte 6 Wochen lang ein Gipsbein.« Diese Erinnerung ist integriert (= assoziiert) und handhabbar, es kommt weder zu Hyperarousal noch zur Dissoziation. Über eine Verbindung zum Sprachzentrum kann das Erlebte auf der Meta-Ebene verbalisiert werden, da Wissen und Worte zur Verfügung stehen.
Traumatische Erfahrungen sind zu heiß, zu toxisch, um vom expliziten Gedächtnis des Hippocampus-Netzwerkes aufgenommen zu werden. In einem solchen Notfall schaltet sich die Amygdala wie eine Art Brandmelder ein. Das Notfallgedächtnis wird aktiviert, und die traumatischen Inhalte werden fragmentiert und voneinander dissoziiert gespeichert, quasi in einer Giftmülldeponie abgelegt, ohne dass diese heißen Fragmente sich dort abkühlen. Das Amygdala-Netzwerk enthält – diesem Modell folgend – also zahlreiche Bruchstücke der Traumatisierungen, häufig sind dies auch nur Sinneseindrücke, Körperempfindungen, Emotionen, Wort- oder Gedankenfetzen. Durch einen Auslösereiz kann das Amygdala-Netzwerk aktiviert werden, der Hippocampus-Modus wird ausgeschaltet, und die Amygdala »feuert« ihr toxisches Erleben heraus, was dann zu Intrusionen oder zu dissoziativem Erleben führt.
Archiv | Notfallgedächtnis/»Giftmülldeponie« |
explizites Gedächtnis | implizites Gedächtnis |
zusammenhängend | bruchstückhaft |
biografisch, narrativ, episodisch | Hier-und-Jetzt-Erleben (Flashback) |
integriert = assoziativ | abgespalten = dissoziativ |
Verbindung zum Sprachzentrum, d. h. Wissen und Worte verfügbar | keine Verbindung zum Sprachzentrum, d. h. (überflutende) Gefühle |
→ schaltet bei Trauma ab | → wird durch Trauma oder Trigger aktiviert |
Tab.: Hippocampus und Amygdala
Wir wissen heute, dass solche »Amygdala-Zustände« nicht dazu beitragen, traumatisches Erleben aufzulösen und zu integrieren. Eine Klientin kann hundert Mal das gleiche Flashback durchleben, ohne dass sich hierbei etwas integrieren und dies zur Heilung beitragen würde. Stattdessen gräbt sich durch solches Nacherleben das traumatische Erleben immer tiefer ein, die Bahnung im Gehirn wird befördert, sodass schließlich immer kleinere Auslösereize ausreichen, um Flashbacks zu produzieren, es kommt damit zu einer Symptomzuspitzung. Der früher durchaus übliche und von mir etwas salopp formulierte Ansatz »rauf auf die Matte und rein ins Trauma« ist daher obsolet.
Heute gehen wir davon aus, dass für eine gelingende Traumaintegration der Hippocampus mit aktiviert sein muss – gleichzeitig oder durch eine Pendelbewegung zwischen Amygdala und Hippocampus-Qualität. Manche Autoren nennen dies Parallelisierung, andere Präsentifikation. Durch das Verbalisieren des Erlebens wird zwischen beiden Gedächtnisnetzwerken eine Art Brücke geschaffen, das implizite...