VORWORT
Ende Juli 2013 in Frankfurt am Main. Ich habe mein Auto nahe der Bockenheimer Warte geparkt und bewege mich nachdenklich in Richtung des chinesischen Generalkonsulats. Es ist heiß, die Menschen sind luftig gekleidet und verströmen eine Stimmung sommerlicher Leichtigkeit. Ich habe Visaanträge für meinen Kameramann und mich dabei und gehe in Gedanken das Worst-Case-Szenario durch. Der erste Teil der Dreharbeiten für die Dokumentation »Straße der Achttausender« ist abgeschlossen. Die aufregende und gefährliche Etappe durch Pakistan liegt hinter uns. Von der pakistanischen Grenze am Punjerab-Pass soll die Tour nun weitergehen durch die autonomen chinesischen Gebiete Xinjiang und Tibet. Und von dort nach Nepal und Sikkim, den indischen Bundesstaat am Südrand des Himalaja mit den berühmten Teegärten von Darjeeling. Ich kenne diese Gegenden sehr gut, vor fünfundzwanzig Jahren habe ich schon einmal eine ähnliche Reise unternommen, doch seitdem sind die Gefahren deutlich größer geworden. Mit Terrorattacken muss ständig gerechnet werden. Aber auch plötzliche Wetterumschwünge können dem Vorhaben schnell ein Ende setzen.
Fünfzig Tage werden wir insgesamt unterwegs sein. 5000 Kilometer durch ein mühsam zu bereisendes Gebiet. Exakt planen lassen sich die Strecke und die Reisedauer nicht. Was, wenn Erdrutsche und Schlammlawinen den Weg versperren? Wenn uns bürokratische Hindernisse am Fortkommen hindern? Für viele Straßen brauchen wir ohnehin Sondergenehmigungen. Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten.
Der Forscher Günter Dyhrenfurth nannte die Linie der vierzehn höchsten Berge der Welt einst den »Dritten Pol«, so atemberaubend, einzigartig und überwaltigend ist sie. Die Bezeichnung »Straße der Achttausender« indes ist eher willkürlich, denn es gibt viele Wege durch den Himalaja und den Karakorum. Einer der abwechslungsreichsten und schönsten Routen durch diese einzigartige Hochgebirgsregion wollen wir hier folgen. Sie führt uns durch vier Länder und zwei autonome Gebiete – durch Pakistan, China, Xinjiang, Nepal, Tibet und Indien –, und besticht durch ihre Vielfalt an Landschaften, Völkern, Religionen, Sprachen und Traditionen. Seit jeher faszinieren mich diese ganz unterschiedlichen Kulturen am Fuße der Achttausender – und die Idee, dass diese Vielfalt eine Art symbolträchtige Arche Noah für die Menschheit darstellt.
Unsere Reise beginnt in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, und führt dann Richtung Norden, den Indus entlang, auf dem Karakorum Highway nach Chilas und Gilgit. Knapp 600 Kilometer sind wir mit Lastwagen und Jeeps unterwegs, auf einer zum Großteil unbefestigten Straße. Von dort startet die erste Expedition – hoch nach Fairy Meadows, der berühmten »Märchenwiese« am Nanga Parbat. Nach dem wüstenhaften Industal erwartet uns auf 3200 bis 3500 Metern eine überraschende Szenerie – grüne Bergwiesen und Wälder, eine Almenlandschaft, wie man sie so in Pakistan nicht erwarten würde. Und direkt vor unseren Augen taucht der erste Achttausender auf: der 8125 Meter hohe Nanga Parbat.
Von dort folgen wir dem Indus weiter nach Baltistan im pakistanisch verwalteten Kaschmirgebiet. Über die Bergsteigerstadt Skardu geht es nach Machaloo, an der Grenze zu Ladakh. Von dort steigen wir unter Expeditionsbedingungen zu einem Aussichtspunkt auf fast 5000 Meter Höhe, von dem aus man die vier anderen Achttausender des Karakorum sehen kann – den K2 (8611 m), den Broad Peak (8047 m) sowie Gasherbrum I (8068 m) und Gasherbrum II (8035 m). Weiter dann über den Khunjerab-Pass nach China.
Wir besuchen den Muztagata, den heiligen Berg der Kirgisen im Pamir, einer rauen, kargen Hochgebirgslandschaft, und Kashgar, die Metropole der autonomen chinesischen Provinz Xinjiang. Hier ist das traditionelle Siedlungsgebiet der Uiguren; einst durch den Zusammenschluss verschiedener Steppenvölker entstanden, wird dieses Volk – ähnlich wie das tibetische – heute von der chinesischen Zentralmacht bevormundet. Seine Kultur ist bedroht.
Weiter geht es über das Autonome Gebiet Tibet zu den Basislagern von Shishapangma (8027 m), Cho Oyu (8201 m)und Mount Everest (8850 m). Tibet, das oft auch das »Dach der Welt« genannt wird, kenne ich sehr gut. Schon seit dreißig Jahren bereise ich dieses zentralasiatische Land, dessen politische Situation seit der Eingliederung in die Volksrepublik China 1959 nach wie vor angespannt ist. Jetzt erhoffe ich mir von den Begegnungen mit Einheimischen nicht nur Einblick in ihr Alltagsleben, ich möchte auch mehr über die Unterdrückung ihrer Kultur erfahren.
Nach der spektakulären Kulisse des Lhotse (8516 m), des vierthöchsten Bergs der Welt, und des Makalu (8463 m) treffen wir in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, ein. Hier geht es um den Buddhismus und Hinduismus, aber auch um Umweltfragen, die im Himalaja in den letzten Jahren immer drängender geworden sind.
Das ehemals buddhistische Königreich Mustang, das offiziell bis 1992 kein Fremder betreten durfte, liegt als nächstes Ziel auf unserem Weg. Wir wollen Dörfer besuchen, aus denen die legendären Gurkha-Kämpfer kommen, denen in der britischen und indischen Armee der Ruf nacheilte, absolut furchtlos zu sein. In Pokhara, der zweitgrößten Stadt Nepals, genießen wir dann die wahrlich spektakuläre Sicht auf den nahen Himalaja-Hauptkamm mit den drei Achttausendern Dhaulagiri (8167 m), Annapurna I (8091 m) und Manaslu (8163 m).
Eine ganz andere Szenerie bietet die nächste Station: der Chitwan-Nationalpark, an der Grenze zu Indien. Ausgiebige Monsunregen sorgen hier für eine üppige dschungelartige Vegetation. Mit etwas Glück bekommen wir vielleicht sogar einen der berühmten Bengalischen Tiger zu Gesicht, den »König des Dschungels«, der bis in die 1950er-Jahre hinein eine begehrte Trophäe europäischer Großwildjäger war. Im nordindischen Bundesstaat Sikkim tauchen wir schließlich ein in eine ganz andere Welt der Bräuche, Gerüche und Farben. Zum Abschluss der Reise soll es zum Basislager des Kangchendzönga (8586 m) gehen, des dritthöchsten Bergs der Welt. An seinen Südhängen, in Höhenlagen über 2000 Meter, liegen die berühmten Teegärten Darjeelings. Die Teepflanzen wachsen auf dieser Höhe nur ganz langsam und entwickeln bei der intensiven Sonneneinstrahlung ein blumig-feines Aroma. Von Hand gepflückt gilt der Darjeeling als einer der feinsten Tees überhaupt.
Zurück nach Frankfurt. Die bevorstehende Chinareise bereitet mir am meisten Kopfzerbrechen. In den vergangenen Jahren waren Xinjiang und Tibet immer wieder für ausländische Besucher gesperrt gewesen – für ein paar Monate, manchmal aber auch für ein ganzes Jahr. In Tibet hatte vor wenigen Jahren ein französischer Reiseleiter Fotos des Dalai Lama verteilt und damit für einen Einreisestopp gesorgt. Als eine kanadische Bergsteigertruppe auf einem Hügel nicht weit vom Cho Oyu die tibetische Flagge in den Schnee steckte, wurde die Bewegungsfreiheit im Land daraufhin rigoros eingeschränkt. Meine geplante Reise durch Tibet folgt also einer unsicheren Reiseroute, die infolge kleinster Vorkommnisse in der Vergangenheit regelmäßig geschlossen wurde. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ein französischer Arzt mit dem Handy filmte, wie ein 75-köpfiger tibetischer Flüchtlingstrupp am Nangpa La von der chinesischer Polizei aufgebracht wurde. Dabei wurden tibetische Nonnen am helllichten Tag einfach so im Schnee erschossen. Natürlich durfte danach auch wieder niemand mehr ins Land.
Noch schwerer ist eine Xinjiang-Durchquerung. Dort gibt es seit Jahren schlimme Ausschreitungen und Armeeeinsätze mit Tausenden Toten und Inhaftierten. Die Chinesen sprechen von Maßnahmen gegen den uigurischen Terrorismus, die Uiguren hingegen beklagen die Sinisierung, Unterdrückung und Ausbeutung ihres Landes. 2008, im Jahr der Olympischen Spiele in Bejing, wurde Xinjiang einfach ganz für Reisende gesperrt, was sich bei Aufständen in den Jahren danach monatelang wiederholte. Was mache ich also, wenn ich nicht in die beiden autonomen Gebiete reinkomme? Was, wenn man mir schlichtweg das Visum verweigert? Schließlich drehe ich seit 1985 Filme in Tibet und berichte auch über den Dalai Lama, was den Chinesen nicht sonderlich behagen wird. Mein letzter Dreiteiler »Himalaja – Im Reich des Windpferds« wird seit 2011 regelmäßig in diversen Programmen wiederholt. Auch mein jetziges Projekt lässt sich nicht vollkommen von dieser früheren Reise trennen, die mich durch die tibetischen Teile Indiens und Nepals geführt hatte. Vieles knüpft daran an, vieles ergänzt sich. So gesehen hat das Abenteuer entlang der »Straße der Achttauender« schon im August 2010 im Anflug auf die Hauptstadt Leh im indischen Ladakh begonnen.
Hauptfigur in diesen »Windpferd«-Filmen ist Manuel Bauer – der Leibfotograf des Dalai Lama, was ihn automatisch zu einem roten Tuch für die Chinesen macht. Spätestens nach seiner mutigen Fotoreportage über die Flucht eines tibetischen Mädchens nach Nepal wird er auf der Schwarzen Liste der chinesischen Machthaber stehen. Gilt das womöglich auch für seine alten Filmkollegen?
Was soll ich also tun, wenn die Visaanträge abgelehnt werden? Schicke ich nur...