Einleitung
Nachdenken über das Judentum oder Das Judentum im Denken
Über zweitausend Jahre lang haben Menschen über das Judentum nachgedacht. Die alten Ägypter beschrieben viel Papyrus über die Hebräer. Die frühen (und auch die späteren) Christen füllten zahlreiche Seiten bei dem Versuch, Judentum und Christentum, altes und neues Israel voneinander zu unterscheiden. Die Anhänger Mohammeds dachten über das Verhältnis ihres Propheten zu den Juden und «Söhnen Israels» nach. Die Europäer des Mittelalters benutzten Juden zur Erklärung von so unterschiedlichen Dingen wie Hungersnöten, Pest und der Steuerpolitik ihrer Herrscher. Und in den gewaltigen Archiven mit Quellen, die uns aus Europa seit der Frühen Neuzeit und seinen geistigen Kolonien überliefert sind, lässt sich leicht zeigen, dass Wörter wie Jude, Hebräer, Semit, Israelit und Israel mit einer Häufigkeit auftauchen, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Zahl von Juden in diesen Gesellschaften steht.
Wir wissen alle, dass es sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten zwischen diesen Wörtern gibt. Jude ist nicht dasselbe wie Hebräer, Israeliten sind keine Israelis, Israeli muss nicht Zionist oder Jude bedeuten (und umgekehrt), und viele, die «Jude» oder «Judaisierer» genannt wurden, identifizierten sich in keiner Weise mit dem Judentum. Doch all diese und zahlreiche andere Wörter existieren in enger Nachbarschaft zueinander und sind im Laufe der Ideengeschichte so oft miteinander verschmolzen, dass wir unser Thema der Einfachheit halber die Geschichte des Nachdenkens über das «Jüdischsein» nennen können.
Warum dachten so viele unterschiedliche Kulturen – sogar viele Kulturen, in denen überhaupt keine Juden lebten – so intensiv über das Judentum nach? Welche Aufgabe erfüllte dieses Nachdenken bei ihren Versuchen, die Welt zu verstehen? Beeinflusste dies wiederum das Denken späterer Gesellschaften über das Judentum? Und wie beeinflusste die Geschichte dieses Denkens spätere Existenzmöglichkeiten für reale Juden?
Das sind die Fragen, mit denen ich mich in diesem Buch beschäftige. Sie sind von einschüchternder, teils sogar grotesker Ausdehnung und ähneln der Frage, wie das, was Menschen in der Vergangenheit gedacht haben – die Ideengeschichte –, das Denken von Menschen in der Zukunft beeinflusst. Früher bewegte diese Frage die Geschichtswissenschaft. Heute wird sie nur noch selten explizit gestellt, weil sie einerseits so groß ist und weil andererseits viele Historiker, Philosophen und andere Erforscher des menschlichen Wissens zu Recht misstrauisch gegenüber einfachen Antworten auf diese Frage geworden sind. Doch obwohl es keine einfachen Antworten auf solche Fragen geben kann, müssen wir sie stellen, wenn wir uns unseres Denkens bewusst werden wollen, sei es über die Welten der Vergangenheit oder über unsere eigene.
Im Bewusstsein dieses Dilemmas lege ich im Folgenden dar, welche Aufgabe das Judentum in den Werkstätten des westlichen Denkens erfüllte. (Ich werde zeigen, warum zumindest in dieser Frage der Islam dabei einbezogen werden sollte.) Das Buch soll vor allem einige der wichtigen Spielarten zeigen, in denen die «Judenfragen» die Geschichte des Denkens geprägt haben. Es ist aber auch ein allgemeineres Plädoyer dafür, dass die Ideengeschichte uns vor Augen führen kann, wie frühere Verwendungen der Konzepte, mit denen wir unser Denken fundieren, unsere Gedanken einschränken können.
Ich bin gewiss nicht der erste, der sagt, dass Fragen über das Judentum Teil der Denkgewohnheiten sind, mit denen Menschen sich die Welt erklären, oder der danach fragt, wie eine kritische Haltung gegenüber diesen Gewohnheiten zu erreichen ist. Der Begriff der «Judenfrage» wurde zuerst von einer Gruppe junger deutscher Philosophen in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgebracht, die sich als Pioniere einer sogenannten «kritischen Kritik» sahen. Der berühmteste Teilnehmer dieser Diskussionen war Karl Marx, der mit seinem Aufsatz Zur Judenfrage und dem zusammen mit Friedrich Engels geschriebenen Buch Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (beide 1843/44) in eine hitzige Debatte eingriff, ob deutsche Juden zum Christentum konvertieren müssten, um sich von ihrer rechtlichen Benachteiligung zu emanzipieren und Staatsbürger zu werden.
Marx betonte, dies sei die falsche Fragestellung. Seiner Auffassung nach konnte die Konversion weder die deutschen Juden emanzipieren, noch Deutschland vom Judentum befreien, weil letzteres nicht nur eine Religion, sondern auch eine Haltung sei, eine Haltung geistiger Knechtschaft und Entfremdung von der Welt. Diese Entfremdung betreffe nicht nur die Juden. Geld sei der Gott des Judentums, aber auch der Gott jedes Menschen, unabhängig von seiner Religion, der die Produkte seines Lebens und seiner Arbeit dafür entfremde. Solange das Geld ein Gott sei, das heißt solange Privatbesitz existiere, seien weder die Emanzipation der Juden noch die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum zu erreichen, denn «aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden».[1]
Die fundamentale Einsicht von Marx lag darin, dass die «Judenfrage» sich ebenso sehr auf die grundlegenden Werkzeuge und Konzepte bezieht, durch die Menschen in einer Gesellschaft in Beziehung zur Welt und zueinander treten, wie auf die Anwesenheit «realen» Judentums und realer Juden in dieser Gesellschaft. Er verstand, dass einige dieser grundlegenden Werkzeuge – wie Geld und Besitz – in der christlichen Kultur als «jüdisch» galten und daher potenziell das «Jüdischsein» derjenigen Personen schufen, die sie benutzten – gleichgültig ob sie Juden waren oder nicht. «Judentum» ist also nicht nur die Religion spezifischer Menschen mit spezifischem Glauben, sondern auch eine Kategorie, ein Repertoire von Ideen und Attributen, mit denen Nichtjuden ihre Welt deuten und kritisieren können. Ebenso ist «Antijudaismus» nicht bloß eine Haltung gegenüber Juden und ihrer Religion, sondern ein Weg, sich kritisch mit der Welt auseinanderzusetzen. Ich verwende die Wörter «Judentum» beziehungsweise «Judaismus» und «Antijudaismus» in diesem breiten Sinne. Aus demselben Grund benutze ich auch nicht das Wort «Antisemitismus», das historisch und semantisch nur einen kleinen Teil dessen einfängt, wovon dieses Buch handelt.[2]
Marx’ Einsicht, dass unsere Konzepte selbst das «Judentum» der Welt erzeugen können, auf das sie angewendet werden, erscheint mir als zentral. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für jedes Bewusstsein davon, wie unsere Denkgewohnheiten Vorstellungen vom Judentum auf die Welt projizieren. Von dieser Einsicht hätte Marx zu einer Kritik solcher Denkgewohnheiten fortschreiten können. Er hätte etwa die Frage stellen können, warum die christliche Kultur Europas den Kapitalismus als «jüdisch» ansah, und eine kritische Geschichte schreiben können, um seinen Zeitgenossen diese Assoziation bewusster zu machen. Bekanntlich beschloss er stattdessen, diese Gewohnheiten auszunutzen, indem er alten Vorstellungen von und Ängsten vor dem Jüdischsein eine neue Funktion gab: der Planung einer Welt ohne Privatbesitz und Lohnarbeit.
In Kapitel 13 werden wir uns ausführlicher mit Marx beschäftigen. Hier möchte ich nur andeuten, dass beide Aspekte von Marx’ Werk über die Judenfrage lehrreich sind. Einerseits hat seine Einsicht, dass unsere Werkzeuge der Erkenntnis – Kommunikation und Interaktion – Vorstellungen vom Judentum in die Welt hineinprojizieren, das Nachdenken über die Funktionen des Judentums im modernen Denken angeregt. Diese Anregung ist zum Beispiel offensichtlich in Jean-Paul Sartres am Ende des Zweiten Weltkriegs geschriebenen Überlegungen zur Judenfrage. Sie ist auch offensichtlich in deren berühmtem Kernsatz, dass das Denken des Antisemiten den Juden hervorbrachte, und zwar so sehr, dass «existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden».
Andererseits schränkte Marx’ messianischer Drang (der durchaus «christlich» ist), sein revolutionäres ökonomisches und politisches Programm als Weg zur Befreiung der Welt vom Judentum darzustellen, die Tiefgründigkeit seiner Behandlung der Judenfrage stark ein. Sicherlich stärkten seine Schriften das kritische Bewusstsein über wichtige Themen wie Klasse und Arbeit, aber sie verstärkten nur Grundannahmen über die Rolle des Judentums in der Welt – etwa seine Nähe zu Geld und Entfremdung – und bekräftigten das Gefühl, dass diese Rolle in einer besseren Welt verschwinden würde. Wir können einige der schlimmeren möglichen Folgen dieser Tendenzen im Handeln späterer Regime erkennen, die in Marx’ Namen zu sprechen behaupteten, ebenso wie die subtileren Folgen in den Schwierigkeiten, die marxistische Kritiker weiterhin mit «Judenfragen» haben.[3]
Das Beispiel Marx zeigt, dass diese Fragen über die Rollen, die Vorstellungen vom Judentum in unserem Denken über die Welt spielen, jene Art von Reflexion anregen können,...