Achim Landwehr
Im Zoo der Souveränitäten.
Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann
Von Fröschen und Vögeln
Die Welt ist aufgeteilt. Unterschiedlich eingefärbte Puzzleteile, die sich in enormer Variationsbreite hinsichtlich Form und Größe über den Globus verteilen. Kein Fleckchen Erde, das nicht erfasst wäre. Kein Platz mehr frei. Die Welt ist verstaatet. Wenn wir über Politik sprechen und über Souveränität, über Staaten und über deren Territorien, dann sehen wir vor unserem geistigen Auge säuberlich geordnete Landmassen, durch eindeutige Demarkationslinien voneinander geschieden. Wenn wir an Staaten denken, denken wir an hochkomplexe Gebilde, die für die Organisation und Verwaltung des von ihnen okkupierten Oberflächenausschnitts unseres Planeten zuständig sind. Eine staatenlose Welt ist – zumindest in der Theorie – undenkbar geworden. Und selbst in Regionen, in denen man davon auszugehen hat, dass es keine funktionierende Staatlichkeit gibt, Somalia oder Afghanistan beispielsweise, setzen wir eben eine solche zumindest voraus, um sie mit einem negativen Vorzeichen versehen zu können: failed states.
Der Vorteil von mental maps, von Landkarten also, die wir in unseren Köpfen mit uns herumtragen, ist offensichtlich: Sie ermöglichen Orientierung, verorten den Einzelnen mitsamt seiner Umgebung in einem größeren Zusammenhang, verbinden geografische Stichworte mit visuellen Eindrücken und (zumindest näherungsweisen) Zuordnungen zu bestimmten Weltregionen. Die Tatsache, dass bereits Kinderzimmer mit Weltkartenpostern und Globen ausgestattet sind, dass die allabendlichen Fernsehnachrichten selbstverständlich durch erläuternde Landkarten illustriert werden oder dass geografische Informationen jederzeit und überall zur Verfügung stehen, hat dazu geführt, dass es politisch einigermaßen aufmerksame Zeitgenossen vor keine allzu großen Probleme stellt, eigenhändig die ungefähren Umrisse der Kontinente der Erde zu zeichnen oder die Lage der größeren Länder Europas zu bestimmen. Mental maps sind sicherlich keine genauen Landkarten, aber es sind Bilder, die Stichworte in kartografische Informationen übersetzen können.1
Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gilt es sich vor Augen zu halten – weil sie alles andere als selbstverständlich sind.2 Versucht man ihnen auf den Grund zu gehen, dann mag es noch unmittelbar einsichtig sein, dass es sich bei der Verstaatlichung der Welt um das Ergebnis einer langfristigen historischen Transformation handelt. Aber ein Leben, in dem man weitgehend auf Vorstellungen davon verzichten muss, wie die Gestalt der Erde aussieht, wie die Konturen des eigenen Kontinents beschaffen sind, in welchem Land man lebt oder wo man sich selbst politisch-räumlich befindet – das mag für uns schwer vorstellbar sein. Und doch ist genau das die Situation, die für den weitaus größten Teil der europäischen Geschichte vorherrschend war, dass nämlich die erdrückend große Anzahl der Bevölkerung keine Ahnung davon hatte, in welchen staatlich-geografischen Zusammenhängen sie sich befand.
Diesem Phänomen will ich im Folgenden nachgehen und zunächst den Zusammenhang von Raum, Staat und Souveränität für die europäische Geschichte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in aller Kürze und vergröbernder Vereinfachung beleuchten. Das lohnt sich für den genannten Zeitraum besonders, weil man gemeinhin mit aller Berechtigung davon ausgeht, dass in ihm die europäischen Staatsgewalten ein erhebliches Wachstum erfahren haben, sich also auch die Kategorien »Raum« und »Souveränität« verändert haben müssen. Dieses historische Streiflicht soll sodann dazu dienen, eine andere Seite des Konzepts der Postsouveränität zu beleuchten.
Wenn in der Frühen Neuzeit der politische Raum aufgrund anderer technischer Voraussetzungen nicht unseren Vorstellungswelten entspricht, dann heißt das nicht, dass keine geografischen Kenntnisse vorhanden gewesen wären.3 Sie haben sich nur anders konstituiert: eher aus der Frosch- denn aus der Vogelperspektive. So konnte sich beispielsweise über Jahrhunderte hinweg, also vor der allgemeinen und selbstverständlichen Verfügbarkeit von Landkarten in nationalen, kontinentalen oder globalen Maßstäben, das Raumwissen kaum in Form ausgedehnter Flächen ausprägen, sondern war vielmehr durch Punkte und Linien bestimmt. Die Erfahrung des Raums war geprägt durch die Er-Fahrung des Raums, also durch die Art und Weise, wie man sich in ihm bewegte: reisend, Verkehrswege benutzend und konzentriert auf markante Punkte wie Städte und andere zivilisatorisch bedeutende Orte. Wie lange es dauern konnte, ein flächiges und staatlich-territoriales Raumwissen zu etablieren, wird ersichtlich, wenn in der Schweiz noch in den 1880er Jahren eine mehrere Quadratmeter große topografische Karte auf Tournee durch zahlreiche Orte gehen konnte, auf der das Land in seiner ganzen Ausdehnung zu sehen war – und sich ein vielköpfiges Publikum diese neue Sichtweise auf den Raum, in dem es lebte, nicht entgehen lassen wollte.4 Bis es allerdings so weit war, organisierte man den Raum wie der Frosch im Teich: Hervorstechende Landschaftsmerkmale wie Wälder oder Gebirge wurden als Raumbegrenzungen konzipiert;5 politische Räume wurden nicht als flächige Territorialstaaten, sondern über die persönlichen Bindungen und Beziehungen zur Herrschaft konstituiert: Das Zentrum der Macht befand sich nicht an einem geografisch fixierten Punkt, sondern an dem Ort, an dem man seine Abgaben zu entrichten hatte.6
Und die Vogelperspektive? Welche Ahnung hatten die Obrigkeiten früherer Jahrhunderte von der Gestalt ihres eigenen Machtbereichs? Ab wann besaßen sie genauere kartografische Kenntnisse von dem Territorium, das sie beherrschten? Die Feststellung dürfte nicht überraschen, dass wir es mit recht verwickelten Zuständen und Prozessen zu tun haben, die sich kaum auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Möchte man jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit eine etwas vergröberte Zusammenfassung wagen, so erweist sich das politische Territorium seit dem 16. Jahrhundert zunächst als Kollateraleffekt der Gesetzgebungskompetenz. Europäische Obrigkeiten herrschten nicht vorrangig über Räume, sondern über Menschen. Sie besaßen Herrschaftsrechte der unterschiedlichsten Art über eine mehr oder minder große Anzahl von Personen, und erst aus diesen Rechtsverhältnissen ergab sich sekundär der Raum, der einer Herrschaft unterstand. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert begannen sich jedoch die Gewichte zwischen Recht und Raum allmählich zu verschieben (sehr viel genauer kann man den Zeitraum nicht angeben, weil die Entwicklungen innerhalb Europas zu unterschiedlich sind). Es bildete sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Kategorie des politischen Raums aus, sodass sich Obrigkeiten nicht mehr nur als Herrscher über Personen, sondern auch als Herrscher über Territorien verstehen konnten.7 Nur dass sie über diese Territorien zum Teil herzlich wenig wussten: Ausdehnung, Topografie, Grenzverläufe, Landschaftsformationen, Bodenqualität, Einwohnerzahl – von all diesen Dingen besaß man vielfach nur ungefähre Kenntnisse. Man könnte also sagen: Die herrschaftliche Vogelperspektive konnte nicht einfach eingenommen, sie musste hart erarbeitet werden.8
Insbesondere seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kann man beobachten, wie sich europäische Souveräne intensiver darum bemühten, genauere geografische und topografische Kenntnisse über ihren Herrschaftsraum zu erlangen. Groß angelegte Vermessungsvorhaben wurden initiiert und zogen sich, wie in Frankreich, über eineinhalb Jahrhunderte hin. Erste Ergebnisse machten das ganze Ausmaß einer solchen veränderten Erfassung von Herrschaftsräumen deutlich. Ludwig XIV. soll auf die Vorlage einer Karte Frankreichs durch die Académie des Sciences gesagt haben, dass ihn die Arbeit der Kartografen ein Drittel seines Königreichs gekostet habe.9
Am deutlichsten zeigt sich dieser Wandel wohl bei Grenzfragen. Souveräne Territorien zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie durch eindeutige Grenzlinien eine klare Differenz zwischen dem Hier und dem Dort etablieren.10 Was aber, wenn gerade diese Trennlinie gar nicht so eindeutig ist, wie man dies zur Sicherstellung der eigenen Souveränität benötigt und wie es politische Karten (unabhängig davon, aus welchem Jahrhundert sie stammen mögen) immer wieder suggerieren? Was, wenn die Obrigkeiten gar nicht so genau wussten, wo ihr Herrschaftsbereich endete und der nächste begann?11
Mit Blick auf Grenzziehungsfragen kann man ab dem 16. Jahrhundert grob zwei Entwicklungsstränge unterscheiden. Einerseits wurde versucht, den politischen Raum des eigenen Herrschaftsbereichs vollständig zu »vernähen«.12 Soll heißen: Räumliche Abgrenzungen mögen an denjenigen Stellen schon recht lang relativ...