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E-Book

Das Leben ist kein Lolli

Geschichten. Echt. Aus dem Alltag.

AutorKai Karsten
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl235 Seiten
ISBN9783105600030
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was meint Gott dazu, wenn auf seine Früchte Aufkleber kommen? Wie überlebe ich, wenn mir bei der Arbeit Nicht-erst-seit-gestern-Macher, Bestimmer und Chefparkplatzbesitzer auf die Nerven gehen? Warum bleiben Gäste zu lange? Wieso sind CDs und DVDs so saudumm verpackt? In seinen witzigen und geistreichen Geschichten geht der SWR3-Kultmoderator Kai Karsten solchen Alltagswidrigkeiten schonungslos auf den Grund! (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Kai Karsten gehört zu den außergewöhnlichen Erscheinungen im deutschen Popradio.

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Leseprobe

Eltern


Im Auto


»Vorsicht auf der A8, Stuttgart Richtung Karlsruhe, beim Dreieck Leonberg Gefahr durch einen Fernseher auf der Fahrbahn.« Ein schwerer LKW – und es wird ein Flachbildschirm. Ha, ha. »Vorsicht auf der A5, Basel Richtung Karlsruhe, zwischen Bühl und Baden-Baden Gefahr durch Schafe auf der linken Spur.« Muss das nicht heißen, Schafe hinterm Steuer? Ha, ha.

»A5, Frankfurt Richtung Basel, zwischen Rastatt und Bühl Behinderungen durch Baumfällarbeiten, zehn Kilometer Stau.« Das ist meiner! Gefühlte Länge ist übrigens nicht zehn Kilometer, sondern mindestens 951 Kilometer. Wenn Ihnen Zahlen nicht gefallen, das entspricht der Strecke von Bühl/Baden bis Campingplatz Südfrankreich. Wieso sind eigentlich Baumfällarbeiten und Ferienbeginn immer am selben Tag? Wieso gibt es da keine Absprache zwischen Kultusministerium und Bäumen? Oder telefonieren die vielleicht doch miteinander? »Also, unsere Schüler werden meistens samstags von ihren Eltern in die Ferien gefahren.« »Mir doch egal, ich lass mich samstags fällen.« Bäume können ja so egoistisch sein – und im Stau stehende Autofahrer einsam. Schatz hatte noch gesagt: »Geh bloß nicht auf die Autobahn, da ist die Hölle los.« Entschuldigung! Nur Volldeppen gehen auf die Autobahn. Wir wollen fahren oder wenigstens rollen! Aber es geht nicht weiter. Ständig die Durchsagen aus dem Verkehrszentrum zu kommentieren, macht alleine keinen Spaß.Kind müsste man noch sein, dann würde mir jetzt nicht der Fuß auf der Bremse einschlafen. Ach ja, die goldenen 80er Jahre auf dem Weg nach Südfrankreich. Das Kind thront auf der Rückbank eines Fiat Ritmo und ruft: »Wann sind wir endlich da?« Kaut den schlechten Geschmack von zu viel Zigarettenrauch und sieht zu, wie Mami die Zigarette anraucht und dem konzentrierten Fahrer in den Mund steckt. Baumfällarbeiten gibt es nicht.

Die Bäume sind erst gepflanzt worden. Stau gibt es, denn die A5 ist noch zweispurig. Und eine glückliche Familie vertreibt sich die Zeit im Stau.

»Will noch jemand ein Schnitzelbrot?«

»Mami, ich hab Durst.«

»Schluck Spucke.«

»Mami, der Papi ist gemein.«

»Der Papi soll vor allem nicht so viel beim Fahren reden.«

»Ich rede so viel wie … Scheiße …«

»Du sollst nicht vor dem Kind fluchen …«

»Mir ist die Zigarette runtergefallen, hilf mir doch, verdammt nochmal.«

»Mami, warum greifst Du dem Papi zwischen die Beine?«

»Sei ruhig, oder du kommst ins Kinderzimmer.«

Solche Unterhaltungen lassen dich jeden Stau vergessen. Und plötzlich bist du doch froh, allein im Auto zu sitzen. Nimmst die Coladose aus dem Getränkehalter, prostest deinem alten Herren im Himmel zu und merkst, warme Cola im Getränkehalter schmeckt wie Spucke. Da setzt ein Minivan zum Spurenwechsel an. So was lässt man gerne einfädeln, denn diese Menschen haben es schwer, diese Menschen haben Kinder. Leider behalten sie ihr Handicap nicht für sich oder signalisieren es bescheiden mit einer Armbinde und drei Schnullern drauf. Es muss geprotzt werden mit einem Fruchtbarkeitsaufkleber auf der Heckscheibe. »Baby an Bord!« Wieso eigentlich »an Bord«, ein Minivan ist doch kein Flugzeug. »Verehrte Fluggäste, die Passagiere in der zweiten Reihe wurden alle vom Piloten persönlich gezeugt.« Wenn, dann bitte die Aufkleberaufschrift korrekt. Auch wenn es Platz kostet: »Baby im geleasten Bus, dessen Anzahlung nur möglich war, weil Schwiegeromi was dazugegeben hat!« So viel Zeit muss sein, Poser-Papi! Leider gibt es aber nur den Baby-an-Bord-Aufkleber, und der hat bestenfalls einen roten Warnrand drum rum. Soll das eine ernst gemeinte Warnung sein? »Abstand halten, auf der Rückbank dieses Fahrzeugs entsteht ein Leibeswind, der Heckscheiben schmelzen lässt.«

Keine Zeit zum Nachdenken, denn wie aus dem Nichts will da noch ein Minivan im Stau drängeln. Diesmal mit dem schlimmsten Autoaufkleber aller Zeiten. »Vanessa on Tour.« Ja, das Leben ist kein Lolli. Jahrelang hat es mich schon nicht interessiert, dass da überhaupt ein Baby an Bord war, und jetzt drängen sie mir auch noch den Namen von dem Rücksitzbeschmutzer auf. Warum tun Eltern das? Soll wahrscheinlich Service sein. Früher konntest Du nur dicht auffahren und rufen: »Saftnase, das Gas ist rechts«, und nun ist es möglich, die Lippen zu schürzen und zu rufen: »Vanessa, hättest du die Güte, dich aus deinem Maxi Cosi abzuschnallen und durch den Bus nach vorne zu krabbeln, damit du deinem Papi sagen kannst, der Onkel hintendran hält Papi für einen Volltrottel!«

Früher dachte ich, Eltern kriegen Kinder – Hormone und so – da klebt schon mal Schwachsinn auf der Scheibe, wird sich schon wieder legen. Von wegen! Diese Vanessa on Tour ist doch sicher schon drei.

Eltern werden fortan das gesamte Leben ihres Kindes nicht mehr in Dias und Videos, sondern in Heckscheibenaufklebern dokumentieren. Wenn Kevin acht wird, steht hinten drauf: »In diesem Auto hat alle fünf Minuten ein Kind Durst.« Wenn Laura pubertiert, klebt hinten drauf: »Nicht hinsehen, meine Tochter hat sich die Haare pink gefärbt« und wenn Thorben selbst den Führerschein hat, dann hängt an der Heckscheibe: »Bitte nicht klopfen, mein Sohn versucht gerade in Vaters Auto die Jungfräulichkeit zu verlieren!« Und was das bedeutet, wissen wir alle: Mehr Kinder, nein – mehr Autoaufkleber!

Verzeihung, so ist das allein im Stau. Da fallen einem all die kleinen Dinge auf, die in ihrer Summe dafür sorgen, dass die Welt jeden Tag schneller auf ihr Ende zurast. Bei der erhöhten Geschwindigkeit wird es auch bleiben, außer es kommen ein paar Baumfällarbeiten dazwischen.

Wieso sind die anderen Kinder aus den 80ern nur so geworden? Was haben deren Eltern nur geraucht? Moment mal, kiff ich? Im Minivan vor mir, der mit dem Strichmännchen-Aufkleber mit Namen drunter, da hängt zwischen Vorder- und Rücksitzen ein Bildschirm von der Decke! In die Ferien fahren und fernsehen! Geht's noch? Der Sinn vom Wegfahren ist, dass Kinder mal was anderes sehen. Wir hatten in den Sommerferien immer absolutes Fernsehverbot. Weil fernsehen schädlich ist! Doch jetzt hocken da vorne kleine Kreaturen auf der Rückbank, und statt endlich mit 130 weitergefahren zu werden, glotzen sie »Findet Nemo« zum 180. Mal. Soll das etwa besser sein als früher, als wir aus der Heckscheibe guckten und den anderen Autos zuwinkten? Was war falsch daran? Meine Eltern fanden das toll, bis auf dieses eine Mal, als ich das Schild hochgehalten habe mit der Aufschrift: »Holt mich hier raus, ich ersticke.«

Ein Bildschirm im Minivan! Da wird der Nachwuchs aber mal wieder so was von unnötig verwöhnt. Wobei es ein Quell der Freude sein würde zu sehen, wie Papi, der ursprünglich nur bis zum Gardasee wollte, weiterfährt bis Gibraltar, weil die Kinder noch alle Teile von »Herr der Ringe« fertig gucken wollen. Dann würden auch endlich die Kinder entscheiden, wo es hingeht – nicht so wie früher, als wir unter Vortäuschung falscher Ferienziele in Fahrzeuge der unteren Mittelklasse gelockt wurden.

Jeden Sommer hieß es: »Fernseher aus, einsteigen!« Beim Einsteigen wurde immer behauptet, es gehe nach St. Tropez, und möglicherweise treffen wir dort sogar Louis de Funès, den Gendarm von St. Tropez. Erst mit diesen Aussichten habe ich mich jeden Sommer vom Bettpfosten losgemacht, an den ich mich immer am Abreisetag gekettet hatte. Wäre ich doch bloß zu Hause bei unserem Fernseher geblieben.

Gecampt haben wir nämlich immer 14 Tage in Le Lavandou, weil das ja genau das Gleiche wie St. Tropez ist. Mag sein. Bildschirm von der Decke ist aber sicher nicht vergleichbar mit zehn Stunden auf der Rückbank mit Bruder. Da präsentieren die Eltern von heute also Unterhaltung in Widescreen. Meine Mutter hat immer nur gesagt: »Schau doch ein bisschen aus dem Fenster!«

Haben Sie schon mal Mitte der 80er aus dem Fenster geguckt? Kein Spaß! Da brannte die Sonne anders, als wenn du dich hinter der Tigerentensonnenblende verstecken kannst. Überhaupt, die Tigerentensonnenblende! Die Bildschirme von der Decke werden auch wie eine Seuche über alle Autos herfallen. Heute im Minivan, morgen im Smart. Bitte, sollte es Bildschirme schon für den zusammenfaltbaren Buggykinderwagen geben – ich möchte es nicht wissen. Der Mensch muss es eben immer übertreiben. Es reicht doch, dass Kinder inzwischen in Bussen fahren, deren Rückbank doppelt so groß ist wie unser Vier-Mann-Zelt auf dem Campingplatz in Le Lavandou. Das ist wie mit der Autobahn. Warum nicht einfach die acht Spuren hinbauen, und gut ist? Nein, irgendein Volldepp sagt, da pflanzen wir schön rechts und links ein paar Bäumchen. Deshalb haben wir jetzt Baumfällarbeiten und Stau! Das mit dem Bildschirm im Bus bleibt auch nicht ohne Folgen. In Zukunft werden Kinder mehr und mehr fordern. Das dauert aber keine zehn Jahre, und du kriegst kein Kind mehr auf den Rücksitz, wenn es da keine Hüpfburg gibt. Selbst in Flugzeuge steigen Kinder nur noch, wenn der Airbus auch garantiert einen Freizeitpark hat, mit Internetanschluss, versteht sich. Mein Herz rast, was man von meinem Auto nun wirklich nicht behaupten kann. Am Seitenstreifen jault immer noch die Kettensäge der Baumfällarbeiter. Keine Sorge, die Kinder kriegen davon in ihrem Bildschirm-Minivan nichts mit.

Hab gesehen, sie tragen Kopfhörer. Ob Mami auch alle zwei Stunden als Saftschubse arbeitet und einen Wagen mit Erfrischungen und Eiskonfekt an der Rückbank entlangrollt? »Kai, du bist doch nur neidisch«, höre ich mich laut...

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