Einleitung:
Eine Apologie statt eines Prologs
Apologie ist ein uraltes Wort. Es begleitet und prägt unsere Kultur seit Jahrtausenden. Die Kultur vieler Nationen. Nicht nur die Leitkultur einer Nation. Die «Apologie» des Sokrates ist ein fester Bestandteil humanistisch orientierter Kultur. Spätestens mit der Begründung und Etablierung des Christentums wurde der Begriff Bestandteil jeder christlichen Kultur.
Das Wort Apologie bedeutete ursprünglich «Verteidigungsrede vor einem Gericht». So jedenfalls ist die Apologie des Sokrates zu verstehen. Sie war seine Verteidigungsrede vor dem Hohen Gericht in Athen. Dies ist auch die heutige lebendige Bedeutung im Griechischen. Nämlich «Verteidigung und Schlusswort des Angeklagten». In einer weiteren, verwandten Bedeutung heißt Apologie «Verteidigungsrede», «Rechtfertigungsrede» oder «Verteidigungs-» beziehungsweise «Rechtfertigungsschrift», insbesondere bei religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen. So ist der Apologet der Verteidiger eines Bekenntnisses, einer Anschauung, einer Lehre oder eines Glaubens. Wenn man apologetisch spricht, bedeutet das, man spricht verteidigend, rechtfertigend: für eine Idee, für einen Glauben, für die eigene Nation, für die eigene Religion. Für sein eigenes Tun und Lassen. Apologie bedeutet auch «Verteidigung mit Worten».
Apologie ist das Gegenwort zu Kategorie, also zur Anklage. Das Wort Kategorie hat im Verlauf der Jahrtausende im Griechischen zwei Bedeutungen erhalten. Einmal die üblicherweise benutzte Bedeutung «Zuordnung zu etwas», «Einordnung» und «klare Abgrenzung». Die andere, ursprünglichere Bedeutung ist die des «Anklagens», des «Angreifens mit Worten».
Apologie heißt Verteidigen mit Worten, Kategorie heißt Angreifen mit Worten.
Die klare, definitive, energische Sprache der Anklage rückte diese in die Nähe des Imperativs. Und daraus entstanden die Kategorisierung und die Kategorien, die klare Benennung und Zuordnung.
Dieses Buch ist gleichermaßen eine Apologie und eine Kategorie.
Es ist entstanden aus einem Leidensdruck, der Frage nach der Richtigkeit meiner Entscheidung, Deutscher zu werden, und den Begegnungen mit rechtsradikalen Mördern, Totschlägern, Gewalttätern.
Aus Leidensdruck, weshalb ich ein Apologet werden musste, und aus Begegnungen, weshalb ich ein Kategoros, ein Ankläger und energischer Benenner, werden musste.
Am Anfang stand die Apologie. Ich wollte verteidigen, ich wollte rechtfertigen, ich wollte mich für etwas einsetzen. Für Deutschland. Für die Deutschen. Für mich. Für meine Entscheidung, ein «Wahldeutscher» zu werden.
Während meines Studiums in Griechenland, das größtenteils während der schweren beschämenden Jahre der Diktatur stattfand, bildeten wir eine Clique, die sich regelmäßig traf und über Literatur, Philosophie und Politik diskutierte. Doch auch persönliche Perspektiven wurden besprochen, wie etwa: «Wie und wo können wir uns am besten als Wissenschaftler entfalten?»
Ende der 60er- und zu Beginn der 70er-Jahre begannen wir, zunehmendes Interesse für Deutschland zu entwickeln. Wir fanden es beeindruckend, die gelungene Wiedergeburt Deutschlands mitzuerleben. Das so genannte Wirtschaftswunder und der schnelle Aufstieg zu einer der führenden Wirtschaftsnationen nach der totalen Katastrophe zeugten von Kraft und Vitalität. Von Willen sowie von Fleiß und vielen weiteren Tugenden dieses Volkes. Der Mythos des Vogels Phoenix, der sich aus der Asche erhob, wurde in moderner Weise wieder belebt. Doch nicht nur das war für uns faszinierend. Vielmehr waren wir beeindruckt von der Fähigkeit eines Volkes, aus einer schwarzen erdrückenden, totalitären und faschistischen Vergangenheit eine vorbildlich funktionierende Demokratie aufzubauen. Die griechische Presse berichtete damals ständig von den Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland. Wie dort die alte diktatorische Mentalität durch ein neues demokratisches Bewusstsein ersetzt worden war. Wir konnten von immer neuen Beispielen dieser demokratischen Kultur lesen, was ein kluger Seitenhieb gegen die griechischen Diktatoren war. Natürlich hatten England, Frankreich und andere westliche Länder seit Jahrhunderten gut funktionierende demokratische Systeme. Doch diese wurden von uns enthusiastischen jungen Leuten nicht gepriesen. Sie wurden als naturgegeben hingenommen.
Wir bewunderten, dass es Deutschland gelungen war, aus Finsternis Licht zu machen. Aus einem totalitären System eine Demokratie in der ursprünglichen Form dieses Wortes zu schaffen. Aus einem primitiven, menschenverachtenden System ein modernes, sich der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet fühlendes System neu zu gestalten. Das Phänomen des Phoenix war für uns junge Leute, und vor allem für mich ganz persönlich, das Erstaunlichste, das Faszinierendste.
Es waren auch die Jahre Willy Brandts. Welche Faszination hat dieser Mann damals auf uns junge Menschen im Ausland ausgeübt! Er war für uns, die wir außerhalb der Grenzen Deutschlands lebten, der Inbegriff des guten Deutschlands. Adenauer hatten wir bewundert. Sein Name stand für uns für den Wiederaufbau und den Willen, ein neues sicheres Deutschland zu schaffen. Willy Brandt aber konnte uns begeistern. Er war das Symbol für demokratische, gerechte Strukturen. In unserer Clique, die sich wöchentlich in meiner kleinen Studentenwohnung traf, wurde Deutschland idealisiert und romantisiert – so wie junge Leute in ihrem Enthusiasmus sympathisch übertreiben. Ganz oben saß auf seinem weißen Ross der St. Georg der Bewegung, Willy Brandt. Wir lasen und diskutierten neben den während der Diktatur verbotenen Büchern vieles über Deutschland und Artikel deutscher Autoren, die ins Griechische übersetzt worden waren. Als Deutschland dabei half, einen Führer der Widerstandsbewegung gegen die Diktatur, Professor Georg Magagkis, mit einem Militärflugzeug der Luftwaffe aus einem Natostützpunkt in Griechenland herauszuholen, war unser Jubel himmelhoch! Es lebe Deutschland! Das Land des Phoenix!
Deutschland war für uns, war für mich das Land des gelungenen Paradigmenwechsels.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Idee zu diesem Buch im Ausland entstand. Dort, wo ich mich angegriffen fühlte – wegen Vorkommnissen in Deutschland. Vergangenen und aktuellen. Auf den Punkt brachte es die Frau eines Kollegen, die während meines Aufenthaltes am Institute of Psychiatry in London zu Beginn der 80er-Jahre zu mir sagte: «Ich verstehe das überhaupt nicht, wie Sie, ein Grieche, in Deutschland leben können.» Ich habe ruhig geantwortet: «Weil ich mich dort glücklich fühle.»
Trotzdem. In den letzten 25 Jahren habe ich unzählige Situationen erlebt, in denen ich mich im Ausland gezwungen sah, meine Entscheidung, ein «Wahldeutscher» zu werden, zu rechtfertigen. Mich zu verteidigen.
Als Mensch, der sich zwar mit Deutschland und den Deutschen in konsequenter Weise identifiziert, sich auf der anderen Seite auch aufs Stärkste mit seiner kulturellen hellenistischen Erbschaft verbunden fühlt, besitze ich manche Privilegien.
Zum Beispiel das Privileg, unverkrampft zur Vergangenheit Stellung beziehen zu dürfen.
Ich habe das Privileg, über das Singuläre von Auschwitz zu sprechen. Aber gleichzeitig auch über meine Erfahrungen. Erfahrungen, die ich mit Konzentrationslagern, Hinrichtungen und Unterdrückung in meiner Kindheit gemacht habe. Es waren keine Erfahrungen mit Deutschen, sondern mit Engländern. Nein, ich vergleiche diese Erfahrungen, Fußnoten in der Geschichte der Inhumanität, nicht mit Auschwitz, aber ich darf sie erwähnen. Auch wenn die Vernichtung der Juden singulär, unvergleichbar in der Geschichte der Menschheit ist.
Ich als «nicht-eingeborener» Deutscher habe das Privileg, die Ankläger von Nürnberg – die Briten, die Amerikaner, die Russen, die Franzosen – anzuprangern für manche Verbrechen ihrer Armeen, ihrer Regierungen, begangen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, ohne in Gefahr zu geraten, als Sympathisant der Nazis abgestempelt zu werden.
Ich kann und darf ein Apologet sein.
Ein Apologet für das neue Deutschland. Die neuen Deutschen. Und für mich selbst.
Ich kann und muss aber auch ein Kategoros sein.
Ein Kategoros gegen die rechtsradikalen Deutschen. Und gegen das Schweigen.
Dieses Buch entstand jedoch nicht nur aus Leidensdruck, sondern auch aus Begegnungen. Und auf diesen Begegnungen basiert meine Anklage. Die Anklage gegen Hitlers Urenkel, aber auch die Anklage gegen die Bedingungen, die Zustände, das gesellschaftliche Klima, welches diesen Totschlägern zum Gedeihen verhilft.
Manchmal hatte ich die Phantasie, «meine» Neonazis ins Ausland mitzunehmen. Nämlich die Neonazis, denen ich als psychiatrischer Gutachter begegnet bin. Sie dahin mitzunehmen, wo sie Ausländer sind: nach Amerika, nach England, nach Israel. Sie dort den Menschen zu zeigen: «Seht euch diese Menschen an. Es braucht nicht viel, um ihre geistige Armut, ihre Primitivität zu erkennen. Zu erkennen, dass sie nicht das neue Deutschland, die neuen Deutschen repräsentieren.»
Damit das Ausland die neuen Deutschen richtig beurteilen kann.
Ob ich diese Hoffnung relativieren muss, weil die Totschläger, die Gewalttäter, diejenigen, die morden, brandstiften, Hetzjagden gegen Menschen veranstalten, nur einige wenige von Hitlers Enkeln und Urenkeln sind? Nur eine kleine Minorität aus einer Großfamilie? Was ist mit anderen Teilen der Bevölkerung, die im rechtsextremistischen Sumpf planschen? Auch sie gehören zwar zu jener...