1. Über dieses Buch
Und Arthur
Wir haben hier in Bruce Lodge vor einem Jahr begonnen, mit Kurzporträts zu arbeiten. Dieser Ansatz hat die Arbeit des Pflegepersonals und das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner wirklich verändert. Ich war überrascht vom Umfang der Verbesserungen, die wir bewirken konnten. Unsere bislang sehr aufgabenfokussierte Pflegekultur hat sich gewandelt: Jetzt denken wir zuerst an die Menschen, wir überlegen, was ihnen wichtig ist und wie genau sie unterstützt werden möchten.
Lisa Martin, Managerin von Bruce Lodge, Borough Care
Ich kann es kaum glauben: Wir saßen beisammen und redeten über mich und über Dinge, die mir wichtig sind. Wo ich doch schon dachte, sie wären weg für immer.
Mary Stuart, Bewohnerin von Bruce Lodge
Arthurs Geschichte
Arthur ist ein liebenswürdiger, 86-jähriger Herr, der als «gutherzig und hilfsbereit, echtes Original und richtiger Gentleman» beschrieben wird. Er leidet an einer Demenz, die bereits früh eingesetzt hat. Er lebt seit 35 Jahren in seiner innerstädtischen Eigentumswohnung. Seine Frau Margret ist vor 20 Jahren gestorben; er hält ihren Ehering in Ehren und trägt ihn am kleinen Finger. Arthur unterhält sich gerne mit Leuten und ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Manchmal redet er über seine Zeit als Panzerfahrer im Krieg, aber nur, wenn er in der richtigen Stimmung ist. Er spricht auch gerne über Boxer, die vor Jahrzehnten aktiv gewesen sind.
Arthur wird von der örtlichen Sozialstation unterstützt. Marie, die für ihn zuständige Pflegekraft, ist besorgt und fragt sich, ob er nicht besser stationär betreut werden sollte. Weil ihn der Gedanke, «in ein Heim gesteckt» zu werden, in Angst und Schrecken versetzt, bat Marie ihre auf person-zentrierte Praktiken spezialisierte Kollegin Gill Bailey um Hilfe. Gill kam zu Besuch, unterhielt sich eine Stunde lang mit Arthur, fragte ihn nach seiner Vergangenheit, erkundigte sich, was für ihn zu einem guten Tag gehört und was einen schlechten Tag ausmacht, wie er unterstützt werden möchte und welche Abläufe ihm am liebsten sind. Aus all diesen Informationen erstellte Gill dann ein Kurzporträt. Anschließend trafen sich Gill, Arthurs Neffe Stephen und seine Frau Sally sowie die Leiterin der Sozialstation und eine Pflegekraft mit Arthur. Sie befassten sich gemeinsam mit dem Kurzporträt und sprachen jeweils aus der eigenen Perspektive über die positiven und negativen Aspekte im Leben von Arthur.
In Arthurs Augen bestand der Höhepunkt der Woche aus dem Besuch von Stephen, Sally und ihren drei Kindern am Freitagabend. Er hatte diese Kinder wirklich sehr gern. Stephen rief ihn außerdem täglich um 17 Uhr an. Arthur war mit diesen beiden Vereinbarungen recht zufrieden. Außerdem sei ihm wichtig, mit jemandem reden zu können, besonders bei den Mahlzeiten. Seine Pflegekräfte bereiteten ihm das Essen zu und servierten es, hatten dann aber keine Zeit mehr, sich zu ihm an den Tisch zu setzen und ein wenig zu plaudern. Die Gerichte sollen richtig heiß auf den Teller kommen, auch das war ihm wichtig. Wenn ihm das Abendessen lauwarm vorgesetzt wurde und er mittags nur ein Sandwich bekam, war er unzufrieden. Dann warf er das ganze Essen einfach in den Garten hinter dem Haus. Das ärgerte die Nachbarschaft und zog Ratten an. Außerdem, sagte Arthur, habe er es «gründlich satt», immer wieder aufgefordert zu werden, seine wollene Bommelmütze abzusetzen.
Aus Sicht der Pflegekräfte war problematisch, dass Arthur manchmal mit seinem Stock nach ihnen schlug, wenn sie morgens zum Wecken kamen. Er ist sehr kurzsichtig und glaubt dann an Einbrecher. Wegen seines schlechten Sehvermögens heißt gute Unterstützung, ihn zum Wecken von der Tür aus anzusprechen, keinesfalls jedoch an ihn heranzutreten und aus dem Schlaf zu schütteln. Die Pflegekräfte waren außerdem besorgt, weil er manchmal spät abends aus dem Haus ging und sich in Gefahr brachte. Sie sagten, Arthur komme im Alltag zurecht, wenn alles seinen gewohnten Gang gehe. Man müsse ihn immer daran erinnern, wenn etwas Außergewöhnliches geschehe, andernfalls reagiere er desorientiert, käme durcheinander und gehe womöglich raus auf die Straße, um Hilfe zu holen.
Für Stephen waren die spätabendlichen Telefonanrufe seines Onkels problematisch, wenn er den Geldschein nicht fand, den er «für den Notfall» immer in der Hosentasche hatte. Eine Pflegekraft hatte das Geld aus der Hosentasche genommen und in seiner Kommode «sichergestellt», was Arthur jedoch verstörte und veranlasste, manchmal stundenlang auf allen Vieren danach zu suchen.
Arthur, seine Angehörigen und Pflegekräfte beschlossen gemeinsam ein paar einfache Maßnahmen, die es ihm ermöglichten, weiter in seiner Wohnung zu bleiben und seine Probleme milderten. Die Pflegekräfte waren bereit, sich an Arthurs Kurzporträt zu orientieren, besonders beim morgendlichen Wecken (ihn von der Tür aus ansprechen) und ihm nie den Geldschein aus der Tasche zu nehmen. Von Sally kam der Vorschlag, ihn mit Tiefkühlgerichten zu versorgen, die die Pflegekraft nur in die Mikrowelle schieben muss, bis sie richtig heiß sind. Weil das schnell geht, kann sie die gewonnene Zeit nutzen, um sich zu Arthur an den Tisch zu setzen und ein Schwätzchen zu halten. Das gefiel Arthur recht gut, er begann besser zu essen, hatte Gesellschaft und keine Probleme mehr mit der Nachbarschaft. Das Pflegepersonal kümmerte sich auch um die Rattenplage. Arthur stimmte der Anschaffung einer Fußmatte mit Sensor zu, der am Abend aktiviert wird und reagiert, wenn er aus dem Haus geht. Diese kleinen aber bedeutsamen Veränderungen erleichterten ihm das Leben und bewirkten, dass ihn die Pflegekräfte seinen Wünschen gemäß unterstützen konnten.
Diese Geschichte beweist, dass sich vieles im Leben eines betreuungsbedürftigen Menschen zum Besseren wenden lässt, wenn man weiß, was ihm wichtig ist, herausfindet, wie er unterstützt werden möchte und dann genau seinen Wünschen entsprechend handelt. Alle Informationen wurden auf einem einzigen Blatt zu einem Kurzporträt zusammengefasst, nachdem sich Gill einige Stunden mit Arthur, seinen Pflegekräften und den Familienangehörigen unterhalten hatte. Gemeinsam fanden sie Möglichkeiten, bestimmte Dinge, die für manche problematisch waren, zu verändern, was bedeutete, dass die Pflegekräfte, um Arthurs Veränderungswünsche zu erfüllen, jetzt ganz anders mit ihm umgingen. Diese neue Arbeitsweise hat die Machtverhältnisse verändert und der Pflegekultur eine Wende gegeben. Das ist Personalisierung, erbracht durch person-zentrierte Praktiken. Person-zentrierte Praktiken sind einfach eine andere Art des Zuhörens, die in eine andere Art des Handelns mündet.
Das vorliegende Werk zeigt, was Personalisierung für den Alltag von Menschen, die mit einer Demenz leben, bedeuten kann und wie sie mittels person-zentrierter Praktiken erbracht wird. Dieser Ansatz beruht auf person-zentrierter Pflege und konzentriert sich auf das Ziel, Menschen mit Demenz ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen und sie zu unterstützen, damit sie Teil ihrer Gemeinschaft bleiben können – selbst wenn sie in einem Pflegeheim leben. Wir sind überzeugt, dass person-zentrierte Praktiken eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, Menschen mit Demenz sowie ihren Familien Gehör zu verschaffen und Lösungen zu finden, die ihr Leben verändern und erleichtern, dass sie aber auch helfen, in Organisationen und Einrichtungen eine person-zentriertere Pflegekultur zu etablieren.
Das Buch beginnt mit einem Kapitel, an dem unser Kollege Martin Routledge mitgearbeitet hat. Es erklärt, was Personalisierung ist und wo personalisierte Praktiken herkommen. Sie wurden von der Learning Community for Person-Centred Practices (www.learningcommunity.us) entwickelt und werden bei Familien, in Ausbildungseinrichtungen, Krankenhäusern, in der allgemeinen Gesundheitsversorgung, in der Sozialen Arbeit und in Hospizen angewandt; sie sind tatsächlich von der Wiege bis zur Bahre einsetzbar.
Dank person-zentrierter Praktiken:
- lernen wir die Person auf andere Art kennen – wir erfahren, was ihr wirklich wichtig ist aus ihrer Perspektive, und wie wir sie am besten unterstützen können, damit sie gesund bleibt, sicher ist und sich wohlfühlt (Näheres dazu im Kap. 3)
- erfahren wir, wie die Person kommuniziert und wie wir sie unterstützen können, um ihre Wahl- und Entscheidungsfreiheit zu optimieren (wie im Kap. 4 beschrieben)
- betrachten wir das Pflegepersonal mit anderen Augen und überlegen, welche Pflegekraft aufgrund ihrer Interessen und Persönlichkeit mit welcher demenzbetroffenen Person harmoniert (damit und mit der Frage, wie die Rollen der Pflegekräfte geklärt werden, befassen wir uns im Kap. 5)
- können wir person-zentrierte Fallbesprechungen durchführen, dabei person-zentrierte Informationen generieren und entsprechende Aktionspläne entwickeln (Näheres dazu im Kap. 6)
- reflektieren wir unsere Arbeit mit Hilfe person-zentrierter Denkwerkzeuge und erfahren wir mehr über die Klientin oder den Klienten (s. Kap. 7)
- werfen wir einen frischen Blick auf die Lebensgeschichten, die bewährte Bestandteile einer guten Unterstützung sind, und überlegen, wie wir Menschen mit Demenz beim Nachdenken über die Zukunft unterstützen können (s. Kap. 8)
- nehmen wir auch die Kommunen und Gemeinschaften in den Blick und überlegen, was wir tun können, damit unsere Schutzbefohlenen geschätzte Mitglieder ihrer Gemeinschaften und der Zivilgesellschaft bleiben, weil Teilhabe ein Faktor...