Die Shakespearezeit
Die Zeit Shakespeares wird meist mit dem elisabethanischen Zeitalter gleichgesetzt, was den Blick auf den zeitlichen Hintergrund unzulässig verkürzt, da die zweite und wohl gewichtigere Hälfte seines Werkes unter der Regierung Jakobs I. entstanden ist. Das Charakteristische an seiner Schaffenszeit ist gerade, dass sie in zwei sehr unterschiedliche Epochen fällt und damit auf einer sozialgeschichtlichen Bruchzone liegt, deren Spannungen in seinem Werk virulent werden. In englischen Literaturgeschichten werden beide Epochen als Renaissance bezeichnet, wobei man diese oft erst mit der Restauration der Stuartmonarchie im Jahre 1660 zu Ende gehen lässt. Das mutet sonderbar an, wenn man bedenkt, dass Kunsthistoriker das Ende der italienischen Renaissance auf den sacco di Roma, die Verwüstung Roms durch die kaiserlichen Truppen 1527, datieren. Da aber England das große Jahrhundert der italienischen Renaissance, das quattrocento, mit Kriegführen verbrachte, setzte die kulturelle Wiedergeburt hier mit einem Jahrhundert Verspätung ein. Während die englische Architektur unter Elisabeth noch Reste des spätgotischen Tudorbogens aufweist und in der Malerei die Renaissance nur durch den Immigranten Hans Holbein vertreten ist, fand die Literatur so schnell Anschluss an die kontinentale Entwicklung, dass es eigentlich sinnvoller wäre, die Shakespearezeit so zu nennen wie die entsprechende Epoche auf dem Kontinent, nämlich Manierismus. Dieser Begriff hat sich für jene Stilepoche durchgesetzt, die nicht mehr Renaissance, aber auch noch nicht Barock genannt werden kann. Shakespeares Werk wie das seiner Zeitgenossen trägt eher manieristische als renaissancehafte Züge, sein Spätwerk weist sogar schon solche des Barock auf, auch wenn es einen durchgängigen Barockstil auf der Insel nicht gab; denn dieser war Ausdruck des Absolutismus und der Gegenreformation, was ihn für das protestantisch-parlamentarische England inakzeptabel machte.
Das Zeitalter Elisabeths I.
Das elisabethanische Zeitalter wird meist so gesehen, wie es sich selber darstellte, als ein Goldenes. Tatsächlich war das Gold aber nur eine hauchdünne Blattgoldauflage auf einer eisernen Wirklichkeit. Das erste Regierungsjahrzehnt der Königin blieb von der Ungewissheit überschattet, ob ihre zweifelhafte Legitimität auf Dauer anerkannt würde oder ob ihre Gegner sich womöglich hinter Maria Stuart und deren katholische Verbündete scharen würden. Nach Marias Exekution im Jahre 1587 war zumindest diese Gefahr gebannt, doch mit der spanischen Armada zog im Jahr darauf eine neue Gefahr herauf. Als die englische Flotte mit ihren wendigeren Schiffen und der klügeren Taktik den Spaniern eine schwere Niederlage beibrachten, wurde dieser Sieg als epochaler Triumph gefeiert, der als solcher noch heute in den Geschichtsbüchern figuriert. In Wirklichkeit aber war der Krieg noch längst nicht entschieden. Der größte Teil der spanischen Flotte war intakt geblieben, auch wenn er vom Sturm zerstreut und zur Umseglung der britischen Inseln gezwungen wurde. Danach schleppte sich der Krieg für England verlustreich hin. Elisabeths Kasse war so leer, dass sie nicht einmal ihren Seehelden den versprochenen Lohn zahlen konnte. Hinzu kamen 1592 eine Pestepidemie und von 1594 bis 1596 eine Serie von Missernten mit entsprechenden Hungersnöten. Über der wirtschaftlichen Misere und der außenpolitischen Bedrohung schwebte zudem das Damoklesschwert der ungeklärten Nachfolge für die jungfräuliche Königin, die zur Zeit des Triumphs über die Armada bereits 55 Jahre alt und damit über das gebärfähige Alter hinaus war. So kann es nicht verwundern, dass sich in den 90er Jahren in England allenthalben eine düstere Stimmung breit machte, die nichts von einem goldenen Zeitalter spüren ließ.
So prekär die Entwicklung im politischen Bereich auch war, so fortschrittlich war sie auf gesellschaftlichem Gebiet. Elisabeth hatte frühzeitig gelernt, dass sie nur im Bunde mit dem Unterhaus den Hochadel in Schach halten konnte. So verzichtete sie klugerweise darauf, neue Adelstitel zu kreieren, und besetzte so gut wie alle Schlüsselpositionen in der Regierung mit Vertretern der Gentry. Ihr erster Staatssekretär William Cecil, der später zum Grafen Burghley geadelt wurde, ihr zweiter Staatssekretär Sir Francis Walsingham, ihr Lordkanzler Sir Christopher Hatton, ihr Finanzberater Sir Thomas Gresham und ihr Marineminister Sir John Hawkins entstammten allesamt dieser Schicht. Dass auch der unerschrockenste Führer ihrer Opposition, Sir Peter Wentworth, aus dem niederen Adel kam, versteht sich von selbst.
Ökonomisch war das ganze 16. Jahrhundert durch eine schleichende Inflation geprägt, was dazu führte, dass die Preise im Verlauf des Jahrhunderts um das Vierfache stiegen, während sich die Löhne nur verdoppelten. Der Grund dafür war die Zunahme des umlaufenden Geldes durch das spanische Gold und Silber aus den amerikanischen Kolonien. Hinzu kamen Silberfunde in Mitteleuropa und die unkluge Münzverschlechterung durch Heinrich VIII., der seinen Krieg gegen Frankreich damit finanzierte, dass er den Silbergehalt der Münzen bei gleich bleibendem Nominalwert verringerte. Die verschiedenen Gesellschaftsschichten waren von der Inflation unterschiedlich hart betroffen. Die Freibauern (yeomen) und diejenigen Landadligen, die ihre Güter selber bewirtschafteten, konnten dank höherer Markterlöse mit der Geldentwertung Schritt halten, während der Hochadel, der seine Ländereien langfristig zu niedrigem Zins verpachtet hatte, eine Minderung seiner Einkünfte zu spüren bekam. Unter Historikern ist umstritten, in welchem Umfang von einem „Aufstieg der Gentry“ und einer „Krise der Aristokratie“ gesprochen werden kann. Dass aber die Gentry relativ zum Hochadel an Einfluss gewann, ist offensichtlich, zumal ihre Reihen dadurch verstärkt worden waren, dass reiche Kaufleute aus den Städten Landgüter erworben hatten, die durch die von Heinrich VIII. vorgenommene Auflösung der Klöster auf den Markt gekommen waren. Wirklich hart traf die Inflation nur die Unterschicht auf dem Lande. Da die Großgrundbesitzer an niedrigen Löhnen für Landarbeiter interessiert waren, setzten sie immer wieder Gesetze durch, die das Zahlen höherer Löhne unter Strafe stellten. Stattdessen wälzten sie die Fürsorgepflicht für die Armen auf die Gemeinden ab, die eine Armensteuer aufbringen mussten.
Von Expansion und wirtschaftlichem Fortschritt war in dieser Zeit wenig zu spüren. Auch die koloniale Expansion warf noch keinen Gewinn ab. Der erste, von Sir Walter Raleigh unternommene Versuch, in Virginia eine Kolonie zu gründen, endete mit deren mysteriösem Verschwinden. Dass mit der Gründung der East India Company 1599 bereits der Grundstein für das zweite britische Empire mit dem Zentrum Indien gelegt wurde, konnte damals niemand ahnen; denn die Briten waren zunächst nur an den ostindischen Gewürzinseln interessiert, wo die Holländer ihnen zuvorgekommen waren. Da England keinen Zugang zu Gold- und Silberminen hatte und da auch die landwirtschaftliche Nutzung Nordamerikas noch nicht begonnen hatte, suchte es seine Chance im weltweiten Handel. Das sollte sich in den nächsten zwei Jahrhunderten als Trumpfkarte erweisen. Doch zur Zeit Elisabeths konnte allein schon wegen des andauernden Krieges gegen Spanien von regulärem Handel keine Rede sein. Vielmehr betätigten sich die englischen Seefahrer hauptsächlich als Piraten, die spanische Galeonen kaperten, was stets mit Kriegsgefahr verbunden war und deshalb von Elisabeth nur halbherzig und ohne offizielle Genehmigung geduldet wurde.
Während die Landbevölkerung im Lauf des Jahrhunderts verarmte, bahnte sich in den Städten der Aufstieg der Mittelschicht an. Da das Handel und Gewerbe treibende Bürgertum einer permanenten Konkurrenz ausgesetzt war, war es empfänglich für die neue Leistungsethik des Puritanismus, der einerseits „innerweltliche Askese“ predigte – wie Max Weber es nannte – und andererseits im Rahmen der Prädestinationslehre wirtschaftlichen Erfolg als göttliches Zeichen für die Erwähltheit ansah. So boten diese Bürger alle Kräfte auf, um möglichst erfolgreich zu wirtschaften. Da sie aber den Profit nicht als Luxus konsumieren durften, reinvestierten sie ihn als Kapital, was zu einer weiteren Vermehrung ihrer Gewinne führte. Max Weber, der diesen Mechanismus als Erster aufzeigte, vermied eine monokausale Deutung, ließ aber dennoch die puritanische Ethik als die Ursache des Kapitalismus erscheinen. Da aber kapitalistische Tendenzen schon vorher in katholischen Gebieten – z.B. in Norditalien – zu beobachten waren, scheint der Kausalzusammenhang eher andersherum gewirkt zu haben. Nicht der Puritanismus hat den Kapitalismus hervorgebracht, sondern ein schon kapitalistisch wirtschaftendes Bürgertum spürte, dass der Puritanismus die Religion war, die sein ökonomisches Tun am besten legitimierte. Trotzdem darf man den Puritanismus der Shakespearezeit nicht überschätzen. In London und anderen größeren Städten gewann er zwar zunehmend an Einfluss, doch blieben die Puritaner bis ins 17. Jahrhundert hinein eine Minderheit, die anfangs viel Spott seitens der Mehrheit auf sich zog und erst unter Jakob I. zur Speerspitze der...