2Das Verhältnis unserer Vorfahren
zu Sterben und Tod war auch zwiespältig
Angeblich sind in Europa früher die Menschen im Kreis ihrer Familie gestorben und hatten keine Angst vor dem Sterben. Der Tod wurde akzeptiert und er gehörte zum Leben dazu. – Stimmt das wirklich?
Der französische Historiker Philippe Ariès behauptet das jedenfalls in seiner Studie „Geschichte des Todes“ (1982): „Fast zwei Jahrtausende lang – von Homer bis Tolstoi – ist im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert geblieben. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert und häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist für den heutigen Menschen Angst einflößend und unfassbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den ‚eigenen Tod‘ betrogen.“4
Die Thesen von Ariès sind beliebt und weit verbreitet. Die wissenschaftlich fundierte Kritik an diesen Thesen wird dagegen kaum wahrgenommen: „Romantischen Geistes sieht Ariès im Namen der besseren Vergangenheit mit Misstrauen auf die schlechtere Gegenwart. So reich sein Buch an historischen Belegen ist, seiner Auslese und Interpretation muss man mit großer Vorsicht begegnen. … Ruhiges Sterben in der Vergangenheit? Welche Einseitigkeit der historischen Perspektive!“5
Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Vergangenheit zu idealisieren.6 In dem im Jahr 1404 erschienen Büchlein „Der Ackermann“, das zu den bedeutendsten Prosadichtungen des späten Mittelalters gehört, greift Ackermann den Tod an:
„Grimmiger Zerstörer aller Länder, schädlicher Verfolger aller Welt, grausamer Mörder aller Leute, Ihr Tod, Euch sei geflucht! … Angst, Not und Jammer verlassen Euch nicht, wo Ihr umgeht; Leid, Trübsal und Kummer, die geleiten Euch allenthalben. … Angst und Schrecken trennen sich von Euch nicht, Ihr seid, wo Ihr seid! Von mir und der Allgemeinheit sei über Euch wahrhaft Zeter geschrien mit gewundenen Händen.“7
Bei der „Geschichte des Todes“ von Ariès handelt es sich um eine Geschichtsschreibung aus der distanzierten Sicht gesunder Menschen. Das Erleben der Sterbenskranken und der Trauernden wird nicht berücksichtigt. Wenn sich die historische Forschung von der Übermacht der Traditionen und auch von der Macht der Ideologien freihält, kommt sie zu anderen Erkenntnissen. Dann findet sie auch aus dem 18. Jahrhundert Aussagen wie diese:
„Selbst der Tod, das allgemeine Schrecken der Natur, bey dessen Anblick jedes Gefühl der Freude, jede frohe Empfindung, jede keimende Hofnung, wie die Blume vom Winterfroste dahinwelkt, selbst der Tod wird in der Nähe der Tugend, von der wohlthätigen Hand der Phantasie geschmückt, zu einem Gegenstand der Liebe, des Wunsches und des freudigen Erwartens.“8
Die Menschen hatten zu allen Zeiten und in allen Kulturen zu Sterben und Tod ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits hat die Volksbelustigung durch öffentliche Tötungen eine lange historische Tradition. Bereits bei den Etruskern gab es Gladiatorenkämpfe, die das antike Rom aufgriff und zur Massenveranstaltung ausweitete. Im Mittelalter unterhielten öffentliche Hinrichtungen, Schauspiele und Opern ein begieriges Publikum. Zeitzeugen beschreiben, wie das ganze Dorf erwartungsvoll auf den Anger oder den Galgenberg spazierte, um sich das Schauspiel einer Hinrichtung nicht entgehen zu lassen. Diese Exekutionen waren äußerst grausam: Feindliche Soldaten wurden zum Beispiel an einem Pfahl über glühender Kohle angebunden. Die Füße verschmorten zuerst. Das Opfer musste riechen, wie sein eigenes Fleisch verbrannte, wenn es zuvor nicht in Ohnmacht fiel. – Als Strafe für Ketzerei wurden vor allem Frauen von der Stadtmauer oder einem Turm gestürzt. Diese Strafe wurde aber bald abgeschafft, weil sie nicht genügend zur Belustigung der Zuschauer beitrug. – Auf dem Marktplatz wurden Verurteilte nackt in einen eisernen Käfig eingesperrt und dieser wurde aufgehängt. Der Tod trat durch Verdursten oder Erfrieren ein. Die Überreste des Toten wurden noch eine Zeit lang in dem Käfig belassen, um die Bevölkerung der Stadt abzuschrecken, ähnliche Straftaten zu begehen.9
Mord und Totschlag wurden in den vergangenen Jahrhunderten auf den Bühnen der Theater und Opernhäuser genossen. In der Tragödie „Hamlet, Prinz von Dänemark“ (1601) von William Shakespeare (1564–1616) tötet Hamlet Polonius, Laertes und Claudius mit dem Schwert. Die Mutter Hamlets vergiftet sich. Und Hamlet suizidiert sich am Ende mit Gift. In den meisten Opern geht es um Liebe, Eifersucht, Intrigen, Ehebruch, Verrat mit Tod, Mord und Suizid. In der Oper „Othello“ (1887) von Giuseppe Verdi (1813–1901) erwürgt Othello seine Frau Desdemona aus Eifersucht und tötet sich anschließend selbst über ihrem Leichnam. Tristan wird in Richard Wagners (1813–1883) Oper „Tristan und Isolde“ (1865) im Kampf schwer verwundet. Sterbend eilt er Isolde, seiner Geliebten, entgegen. Isolde vermag das Übermaß ihres Schmerzes über den Tod von Tristan nicht zu ertragen und gleitet sterbend zu ihm auf die Erde.
Andererseits kämpften unsere Vorfahren ebenfalls gegen Krankheit, Altern und Tod. Die Geschichte der Medizin, der Pharmakologie und der Krankenpflege bezeugt dieses Ringen gegen Krank-werden und Sterben-müssen. Die Vorsorge und das Heilen von Krankheiten prägten auch bei unseren Vorfahren das alltägliche Leben. Noch heute nimmt die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) mit ihren Lehren über Pflanzen und Krankheiten einen bedeutenden Platz in diesem Kampf ein. Ihre Abhandlungen über die Entstehung und Behandlung verschiedener Krankheiten sowie über die Beschaffenheit und Heilkraft verschiedener Pflanzen haben über die Jahrhunderte nicht an Bedeutung verloren. Ihre Werke zählen nach wie vor weiterhin zu den Standardwerken der Naturheilkunde. Sie verband das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin, entwickelte eigene Thesen über die Entstehung von Krankheiten und trug bereits bekannte Behandlungsmethoden aus verschiedenen Quellen zusammen.
Als der bayerische Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) an Tuberkulose erkrankt war, entdeckte er zufällig das Buch „Unterricht von der Heilkraft des frischen Wassers“ des Arztes Johann Siegmund Hahn (1696–1773). Angeregt von dem Buch badete er regelmäßig in der eiskalten Donau und wurde wieder gesund. Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen und einer tiefen Naturverbundenheit studierte Kneipp sein Leben lang alte Naturheilverfahren und entwickelte fünf Prinzipien: Heilkraft des Wassers – Vitalität durch Bewegung – Heilwirkung der Kräuter – Gesunde Ernährung – Harmonie von Körper und Geist. Seine Bücher „Meine Wasserkur“ und „So sollt ihr leben!“ sorgten dafür, dass die „Kneipp-Medizin“ sehr schnell europaweit verbreitet wurde.
Es war früher keineswegs selbstverständlich, im Kreis der Familie und im eigenen Bett friedlich einzuschlafen. Die Auffassung, dass die Menschen früher geborgen im Kreis ihrer Familie und im eigenen Bett gestorben seien, wird durch die historischen Fakten als Fantasiegebilde entlarvt. Ich frage: Wer hat je die unzählbaren Menschen befragt, die von der Pest oder der Spanischen Grippe in wenigen Tagen unter größten Schmerzen hinweggerafft worden sind? Wer hat je die vielen, vielen jungen Menschen befragt, die in den Kriegen – auch auf den Kreuzzügen – getötet wurden und in dem Morast der Kriegsschauplätze dieser Welt sterben mussten? Im Dreißigjährigen Krieg? In den Napoleonischen Kriegen? In den Bauernkriegen? Im Deutsch-französischen Krieg? Im Ersten und Zweiten Weltkrieg? Wer hat je die Millionen Menschen befragt, die auf den tödlichen Flüchtlingstrecks dieser Welt elendig und einsam „verreckt“, verhungert, erfroren sind? In den vorigen Jahrhunderten sind die meisten Menschen nicht daheim im eigenen Bett, sondern auf den Schlachtfeldern, beim Bau der Schlösser, Kirchen und Brücken, auf den Straßen und in den Wäldern sowie auf den Meeren der Welt gestorben.
Zudem waren bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in den Großstädten Wohnungen knapp und die Wohnverhältnisse schlecht. Mehr als zehn Personen lebten mitunter in einem Raum. Auch in den Dörfern wohnten mehrere Menschen in einer Stube. Die Vorstellung, dass die Menschen früher ein eigenes Bett in einem eigenen Zimmer hatten und dort umgeben von ihrer Familie sterben konnten, ignoriert ebenfalls die historischen Fakten.10
Und wie stand es mit der „Geborgenheit im Kreis der Familie“? Dazu ein...