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Schulleben in der Nachkriegszeit

Eine Tuttlinger Gymnasialklasse zwischen 1945 und 1954

AutorVolker Schäfer
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783170236295
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Die Geschichte der höheren Schulen Südwestdeutschlands in der Nachkriegszeit ist ein Stück deutscher Geschichte des Wiederaufbaus. Tuttlingen war überall: Die dortigen Erfahrungen stehen beispielhaft für das Leben einer ganzen Generation der bundesrepublikanischen Schulgeschichte. Das vorliegende Buch verbindet persönliche Erinnerungen mit solider historischer Quellenforschung; und diese Symbiose macht es authentisch und spannend. Der Autor verfällt nicht dem Schema 'Weißt-Du-noch', sondern rekonstruiert seriös die Schulerfahrung einer ganzen Generation, die sich in diesem Buch wiederfinden wird.

Professor Dr. Volker Schäfer war Leiter des Archivs der Universität Tübingen und ist Honorarprofessor an der Universität Tübingen.

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Leseprobe

Zweites Kapitel

Materielles und Spirituelles


Abb. 2/1: Der Ort des Geschehens: Das nach Entwürfen von Stadtbaumeister Schmidt in zwei Jahren erbaute und am 17.10.1900 mit Festzug, Festakt und Festessen feierlich eingeweihte Gebäude für die „Realanstalt & Lateinschule Tuttlingen“

„Es ist ein Meisterwerk, das seinem Erbauer alle Ehre macht. .. Stilgerecht erbaut, erhebt es sich mit hoher Kuppel geschmückt am Strand der Donau. Die Schönheit der geraden Linien kommt voll zur Geltung. Überladungen weist es nicht auf. Schön abgetönt sind die Farben seiner Fassaden. Das ganze Gebäude macht einen erhabenen, edlen und doch gewaltigen Eindruck auf den Beschauer. Tuttlingen hat mit diesem Gebäude an seinem schönsten Platz eine wirklich monumentale Zierde erhalten.“ (Gränzbote vom 19.10.1900, aus: Paul Hunziker, Chronik des Gymnasiums.)

2.1 Der Auftakt im Schulgebäude


Eine lakonische Bekanntmachung am 20. September 1945 in der Zeitung – es gab damals nur das papierkontingentierte und meist bloß zweiseitige „Amtsblatt für den Kreis Tuttlingen“ – beendete sowohl den öffentlichen pädagogischen Stillstand wie auch die scholarische Ungebundenheit: „Der Schulbetrieb in der französischen Besatzungszone beginnt am 1. Oktober.“ Am 21. und 22. September erfolgte „die allgemeine probeweise Aufnahme in die Oberschule“1.

Mir steht die Örtlichkeit noch vor Augen, an der wir kleinen Meldewilligen uns mit den nötigen Papieren, der Geburtsurkunde, dem Impfschein und dem letzten Schulzeugnis, einzufinden hatten: Es war der leere Verkaufsraum des Bekleidungsgeschäftes Kocher in der Königstraße nahe beim Runden Eck mit seinem großen Schaufenster, dessen untere Hälfte damals mit Packpapier verklebt war und so uns Herzklopfende vor den Blicken Neugieriger abschirmte. Unmittelbar daneben lag das „Maier-Lädele“, das wir nach dem aufregenden Akt aufsuchten und dessen herrliches, von der Chefin eigenhändig und kunstvoll produziertes Speiseeis lange eine große Anziehungskraft auf uns Schleckermäuler ausübte.

Ob ich den ersten Schultag mit seinem Zauber, der laut Hermann Hesse jedem Anfang inneliegt, ungeduldig erwartete, kann ich heute nicht mehr sagen. Von Spannung und Unsicherheit frei waren aber wohl nur wenige, als wir uns am Morgen des 2. Oktober, einem Dienstag, im Schulgebäude einfanden.

Um 830 versammelten sich Lehrer u. Schüler im Festsaal. Studienrat Weckenmann sprach in ernsten u. zu Herzen dringenden Worten von dem, was Schule u. Elternhaus von der Jugend angesichts des Versagens und Zusammenbruchs des vergangenen Systems erwarten. Im Anschluss übernahmen die Lehrer in den einzelnen Klassen ihre Schüler und begannen damit die unterrichtliche und erzieherische Arbeit. 2

Vermutlich durften wir bald wieder nach Hause, denn der eigentliche Unterricht begann erst am Mittwoch. Doch das wichtigste Ereignis fand sofort statt: Die Wahl eines Nebensitzers. Damals saß man zu zweit noch in Bänken, denn mit Tischen und Stühlen wurden die Klassenzimmer erst 1952 ausgestattet3. Obwohl wir wegen der weit auseinander liegenden Wohnungen nicht dieselbe Volksschule besucht hatten, kamen Karl-Dieter Schneider und ich auf Anhieb zusammen und blieben Nebensitzer volle vier Jahre lang, bis der Busenfreund sofort nach dem 15. Geburtstag, dem Ende der Schulpflicht, eine Lehrstelle als Chirurgiemechaniker bei seinem Onkel Gustav Weber antrat.

Abb. 2/2: Die Schülerzahlen der Oberschule Tuttlingen am 3.10.1945

Die andere bedeutende Errungenschaft des ersten Tages war der Stundenplan. Über ihn beugten sich daheim wohl Mutter, Opa, Oma und zwei Tanten, und wahrscheinlich bedauerten sie den armen Kleinen, dem nun so viel Neues bevorstand uänd der sich im nchsten Vierteljahr besonders bewähren mußte, weil wir nur probeweise aufgenommenen Erstkläßler eine Prüfung über die Bleibeberechtigung abzulegen hatten. Der Plan muß ein vorläufiger gewesen sein, denn erst Wochen später erhielten die Schulen „Richtlinien für den Wiederbeginn des Unterrichts“, deren Anlagen aus den Stundentafeln für die Gymnasien sowie Jungen- und Mädchenoberschulen bestand4. Der endgültige Stundenplan trat am 27. November in Kraft und umfaßte für die erste Klasse Religion (2 Stunden), Deutsch und Schreiben (5), Erd- und Heimatkunde (2), Zeichnen (2), Musik (2), Französisch (6), Rechnen und Mathematik (5), Biologie (2) und Leibesübungen (2), insgesamt also 28 Wochenstunden.

Für uns Neulinge wurden erstmals in der Tuttlinger Oberschulgeschichte drei Parallelklassen eingerichtet. Dabei amtierte für die Ia Karl Hahn als Klassenlehrer und für die Ic Anton Harsch, doch wer an der Spitze der Ib stand, ist nicht überliefert. Auch blieb von der oder dem Betreffenden keine Schülerliste erhalten. Dennoch ist die Anzahl der auf die drei Klassen verteilten Zöglinge bekannt. Die Ia umfaßte zu Beginn des Schuljahrs 40 Schüler, die Ib 38 und die Ic 39, mithin insgesamt 117, bei 83 Knaben (71 %) und 34 Mädchen (29 %)5. Davon mußte am 10. Januar 1946 fast ein Drittel an die Volksschule zurückkehren, und zwar 28 Knaben und acht Mädchen. Selbstbewußt weigerte sich die Mittelschule, bis 1960 eine reine Mädchenanstalt, die wegen Leistungsmangel ausgesonderten Oberschülerinnen aufzunehmen, weil dies ihrem Charakter als Begabtenschule widersprechen würde6. Von diesen acht schafften dann nur zwei Mädchen nach den Großen Ferien den Sprung wieder direkt in ihre alte Klasse, während für zwölf andere nach bestandener Aufnahmeprüfung ihr Oberschulbesuch am 26. August 1946 nochmals von vorne anfing.

Für folgende Anfänger im bildungspolitischen Sekundarbereich der Nachkriegszeit – von den 117 ließen sich wegen der fehlenden Liste der Ib nur 113 ermitteln – gilt der 1. Oktober 1945 als Beginn ihrer Zugehörigkeit zur Tuttlinger „Oberschule für Jungen“7:

1.

Amos, Waldemar

2.

Bäuerle, Karl

3.

Bartenbach, Helene

4.

Baß, Hans-Werner

5.

Baur, Rolf-Walter

6.

Beck, Ulrich

7.

Benk, Renate

8.

Benz, Roland

9.

Böhringer, Walter

10.

Bronner, Irmgard

11.

Buck, Hermann

12.

Butsch, Gerold

13.

Claudy, Gisela

14.

Dieringer, Irmgard

15.

Eder, Jörg

16.

Eisenmann, Elisabeth

17.

Enzberg, Peter von

18.

Faude, Ingeborg

19.

Fischer, Manfred

20.

Fritz, Hans-Dieter

21.

Frohn, Christa

22.

Fromm, Hans

23.

Geißer, Helmut

24.

Geyßel, Walter

25.

Gleichauf, Rolf

26.

Glück, Ludwig

27.

Grimm, Heidi

28.

Grotz, Günter

29.

Haas, Edith

30.

Härtter, Elmar

31.

Hamma, Gerhard

32.

Handgrätinger, Werner

33.

Handtmann, Erich Otto

...
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