Wir bewegen etwas, wir setzen uns ein
Es war kurz nach Mitternacht. Das Thermometer im Auto zeigte eine Außentemperatur von minus 10 Grad an, die Straßen waren gefährlich glatt. Da war nur noch der Wunsch, möglichst schnell und unversehrt nach Hause zu kommen.
Auf einmal eine Situation wie in einem Film. Ein entgegenkommender PKW wird aus der Kurve getragen, überschlägt sich wie in Zeitlupe und landet auf der angrenzenden Wiese. Der Schreck geht tief, der Kreislauf sackt ab, ich zittere am ganzen Körper. Ich müsste anhalten – und bin doch wie blockiert. Zum Glück hält ein anderer. Mit diesem lausig schlechten Gefühl, nicht geholfen zu haben, fahre ich weiter. O.K., ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir, ich kollabiere womöglich, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich schaff’ das sowieso nicht, was jetzt zu tun ist. Aber es ist schlimm, erschreckend schlimm, was ich mir da geleistet habe. Es braucht Tage und viele Gespräche, um diese Nacht aufzuarbeiten!
Viele Fragen kommen hoch: Wo warst du wichtig und hast gekniffen? Wo hatte dich ein Mensch gebraucht und du hast 1000 „gute“ Gründe aufgeführt, warum du jetzt nicht kannst, warum du keine Zeit hast und sowieso schon überfordert bist. Oh ja, wenn es um Entschuldigungen geht, können wir so scharfsinnig sein wie ein Mathematik-Professor – und genau vorrechnen, warum es beim besten Willen nicht möglich war.
Sie kennen die Geschichte vom barmherzigen Samariter, der zu einem Wohltäter wird für einen, der brutal zusammengeschlagen am Straßenrand lag.
Sie wissen, dass ein Priester und ein Levit, beides fromme Männer, sehr schlecht dabei wegkommen. Zurecht regen wir uns fürchterlich auf: „Wie kann man nur! Wie kann man nur an der Not eines Menschen vorbeigehen!“
Lassen Sie uns bitte ehrlich sein! Wir sind alle schon einmal vorbeigegangen.
Vielleicht sollte der eine in Jericho vor 300 Leuten einen bedeutenden Vortrag über die Nächstenliebe halten, über den Werteverfall in der Gesellschaft. Vielleicht hatte der andere Angst, dass die Bösewichte, die diesen Mann überfallen hatten, sich noch hinter dem Felsen versteckten und ihm womöglich auch den Schädel einschlagen würden, sein Handy und die Geldkarte klauen könnten. Oder, ganz verständlich: Schwiegermutter feierte ihren 70. Geburtstag, und die würde mit Sicherheit kein Verständnis haben, wenn er zu spät zum Empfang kommt.
Zwei fromme Männer gehen – mit guten Gründen – vorbei. Manchmal, wenn ich unsere Kirchengemeinden betrachte, dann frage ich mich: Sind wir eigentlich noch ganz nah dran an den Menschen, an dem, was sie zutiefst suchen? Lassen wir uns erreichen von dem, was einer alles auf dem Herzen hat, von einem stummen Hilfeschrei, von der verborgenen Not, die ihn quält?
Oder sind wir so eingespannt in alle möglichen Aktivitäten, mit unserem bunten und breit gefächerten Veranstaltungsprogramm, mit dem Betrieb, der laufen soll und laufen muss, dass für den einen, der uns braucht, gar keine Kraft und keine Zeit mehr bleibt?
Es ist 2000 Jahre her, dass zwei fromme Männer an der Not eines Menschen vorbeigegangen sind. Aber es ist, als würden sie haargenau die heutige Zeit abbilden. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wir sind zu einer „Wegseh-Gesellschaft“ geworden. Wir stehlen uns gerne aus der Verantwortung und fragen mit Unschuldsmiene: „Ist denn dafür kein Amt zuständig? Gibt es für diese Situation keine Fachleute? Sind denn keine Angehörigen da, die sich kümmern könnten?“
Wir bilden Ausschüsse, schaffen einen Wald von Paragraphen und verweisen an Zuständigkeiten. Diskutieren scheint allemal einfacher als das, was notwendig ist, couragiert anzupacken. Abstand halten ist angenehmer als sich einzumischen. Es ist oft leichter, 50 Euro zu spenden als einen Menschen mit seiner Problematik und seinem Jammer nah an sich heranzulassen. Eher mal einen Fleurop-Strauß schicken, als zwei Stunden dazusitzen und zuzuhören, was einer alles mitgemacht hat, wie ihm das Leben übel mitgespielt hat, selbst mit reingezogen zu werden und gefordert zu sein.
Stopp! An dieser Stelle müssen wir aufpassen, dass die Geschichte vom barmherzigen Samariter nicht zum moralischen Zeigefinger wird, dass wir nicht stehenbleiben beim Anprangern von mangelnder Zivilcourage, dass sich diese Geschichte nicht wie ein Nagetier in unser Gewissen frisst und wir meinen, wir seien für alles und jeden zuständig. Ich kenne Menschen mit einem Helfersyndrom, die bestellen fremde Gärten und lassen den eigenen verwildern, die sind permanent überfordert, sich selbst abhanden und vor die Hunde gekommen.
Und gerade in der Kirche gibt es diese Un-Tugend, dass Menschen einander ständig vorhalten, nicht genug getan zu haben. Es gibt diesen unerträglichen, frommen Druck, dass ein Christ 24 Stunden am Tag im Dienst zu sein hat, stets mit einem Erste-Hilfe-Koffer unterwegs.
Lassen Sie uns bitte bei dieser Geschichte vom barmherzigen Samariter, diesem leuchtenden Beispiel für christliche Nächstenliebe, die Vorbild war für das Rote Kreuz, die Schwestern um Mutter Teresa und die Johanniter … lassen Sie uns erst einmal fragen, wer sie denn erzählt hat und warum er sie erzählt hat.
Das war nicht der Präsident von Greenpeace, auch nicht der Präsident der Pfadfinder, der die Devise aufstellte: „Jeden Tag eine gute Tat, darauf kommt es an.“
Es war Jesus Christus, der eine, der selbst an keiner Not vorbeigeht. Und wenn du an etwas leidest, wovon keiner weiß und wo dich keiner wirklich versteht, wenn Ängste in dir wühlen, die dich und deine Lebensfreude an manchen Tagen lahm legen, es gibt den einen, der sich um dich sorgt.
In dieser Gesellschaft ist viel Einsamkeit, viel Schein und wenig Sein, es gibt eine Menge zerbrochener Lebensentwürfe und innere Traurigkeit unter uns. Aber es gibt diesen einen Heiland, der dich nicht übersieht, egal, was ist.
Und wenn man dich ausgenutzt und im Stich gelassen hat, wenn man dir im Laufe deines Lebens übel mitgespielt, dir wenig Liebe gegeben hat, der eine sucht dich, um deine Wunden zu heilen.
Sogar wenn gestorben werden muss, wenn es ganz still wird und wir Abschied nehmen müssen von dem Liebsten, was wir in dieser Welt haben, dann ist er da, der Jesus Christus, bei dem Tod nicht Tod bleibt, sondern Tor zum Leben wird. Glaub nicht, dass jeder seinen Weg mutterseelenallein gehen muss in einer eiskalten Welt. Es gibt einen barmherzigen Gott, unter dessen weitem Himmel Platz und Liebe für alle ist.
Ich liebe sie, diese wunderbare Lebensweisheit von Meister Eckhart:
Die wichtigste Zeit ist immer dieser eine Augenblick. Der wichtigste Mensch ist immer der, der mir gerade gegenübersitzt. Das wichtigste Tun ist immer die Liebe.
Jesus Christus hat so gelebt. Weil er angeschlossen war an die Kraftquelle der Ewigkeit, darum hatte er den Menschen etwas zu geben, darum hat er in jedem Moment das Beste aus seiner Zeit gemacht.
Wir sind zum Lieben und Anpacken berufen, das ist es, was Jesus Christus, der große Liebende, der freieste und geborgenste aller Menschen, uns zutraut.
Nicht, dass wir meinen, wir müssten uns ab jetzt um alles um uns herum kümmern. Sie wissen, wer gut-meinend damit anfängt, ist schnell überfordert und wird irgendwann zusammenbrechen. Wir können nicht allen gerecht werden, wir haben Grenzen. Auch der barmherzige Samariter leistet nur Erste Hilfe, sozusagen im Vorübergehen, en passant. Aber wenn wir mit offenen Augen und offenen Herzen durch die Welt gehen, dann bekommen wir einen Blick dafür, wo wir wichtig sind, wo es auf uns ankommt.
Und nichts macht einen Menschen so zufrieden, so stark, so ruhig und versöhnt mit Gott und der Welt, als wenn er weiß: Ich bin jetzt, in diesem Moment, genau an der Stelle, wo Gott mich haben will. Ich tue genau das, was jetzt für mich dran ist. Und dabei habe ich den Himmel auf meiner Seite.
Ich laufe nicht weg vor unangenehmen Arbeiten und Situationen, vor bestimmten Klärungen und Menschen – vor dem, was mir Angst macht. Ich geh drauf zu. Ich gehe nicht den bequemen Weg und schiebe alles, was Mühe macht, was leidvoll ist, immer wieder vor mir her. Ich gehe drauf zu – und wage die kleine Tat, das Nächstliegende, das Menschliche, das Selbstverständliche.
Das ist eine gesegnete Präsenz, wenn wir dieses leben: Die wichtigste Zeit ist immer dieser Augenblick. Der wichtigste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenüber steht. Das wichtigste Tun ist immer die Liebe.
Wann immer ich sage: „Ich habe keine Zeit“, müsste ich den Satz um der Wahrheit willen fortsetzen:
„Ich habe keine Zeit, um dies und das zu tun, weil mir im Moment etwas anderes wichtiger ist.“
Nichts auf dieser Welt ist so gerecht verteilt wie die 24 Stunden am Tag, die jeder von uns zur Verfügung hat. Das, wofür ich Zeit habe, zeigt an, was mir wichtig ist – und vor allem, wer mir wichtig ist.
Wenn eine Freundin mich schon dreimal auf einen Kaffee eingeladen hat, weil sie mir etwas erzählen möchte, und ich habe dreimal abgesagt, dann kann meine Freundin sich ausmalen, wie viel (oder wie wenig) sie mir bedeutet.
Wenn ich schon viele Mal gesagt habe, ich müsste aber...