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E-Book

Heinrich von Kleist

AutorHans-Georg Schede
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644554214
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Heinrich von Kleist (1777-1811) war einer der größten Dichter deutscher Sprache, dem jedoch zu Lebzeiten die ehrgeizig erstrebte Anerkennung versagt blieb. In diesem Band wird geschildert, wie es Kleist gelang, aus den Nöten seiner unglücklichen Existenz ein Werk zu destillieren, das an beunruhigender Faszination bis heute ohne Vergleich ist. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Hans-Georg Schede, geboren 1968, studierte in Freiburg Neuere Deutsche Literatur, Anglistik und Mediävistik. Seither Buchredakteur und freier Autor. Herausgeber des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und Maximilian Harden (1998); Promotion mit einer Werkmonographie über den Gegenwartsautor Gert Hofmann (1999). Verfasser einer Biographie über «Die Brüder Grimm» (2004, Neuausgabe 2009) sowie zahlreicher Bücher für Schule und Studium (unter anderem zu Werken von Goethe, Schiller, Kleist, Büchner, Thomas Mann, Harper Lee und Uwe Timm).

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Leseprobe

Kindheit und Militärzeit
(1777–1799)


Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist kam vermutlich am 10. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder zur Welt. Er war das fünfte Kind und zugleich der erste Sohn von Joachim Friedrich von Kleist. Dieser hatte nach dem Tod seines Vaters ein zuvor begonnenes Studium in Frankfurt an der Oder abgebrochen und war in die preußische Armee eingetreten. Die Militärlaufbahn hatte in der Familie Tradition. Bis zu Heinrichs Geburt konnten die Kleists sechzehn preußische Generäle und zwei Feldmarschälle vorweisen. 1806, im Jahr der Niederlage gegen Napoleon, gehörten fünfzig Mitglieder der Familie der Armee an.

Kleists Vater brachte es als Offizier weniger weit als viele seiner Vor- und Nachfahren. Erst 1767, im Alter von 39 Jahren, erhielt er den Befehl über eine Kompanie.[2] Seine späte Heirat im Jahr 1769 mag mit seinen verzögerten Beförderungen zusammenhängen. Seine Frau, Caroline Louise von Wulffen, war zum Zeitpunkt der Eheschließung mit vierzehn Jahren noch ein Mädchen. 1772 wurde die erste Tochter Wilhelmine geboren, zwei Jahre später folgte die Geburt der zweiten Tochter Ulrike, an deren Folgen Caroline Louise starb.

Kurz nach dem Verlust seiner Frau heiratete Joachim Friedrich von Kleist erneut. Im Gegensatz zu Caroline Louise brachte die achtundzwanzigjährige Juliane Ulrike von Pannwitz kein Vermögen mit in die Ehe. Aus dieser zweiten Verbindung gingen fünf Kinder hervor: Friederike (geboren 1775), Auguste (1776), Heinrich (1777), Leopold (1780) sowie Juliane (1784).

Das Haus, in dem Kleist und seine Geschwister ihre Kindheit verbrachten, stand neben dem des Stadtkommandanten, in unmittelbarer Nachbarschaft der Marienkirche. Erst 1788 war der Vater in der Lage, es zu kaufen. Teile des Hauses wurden untervermietet, wohl vor allem an Händler, die dreimal im Jahr zu der seinerzeit größten preußischen Gewerbemesse in Frankfurt an der Oder zusammenströmten.

Ins Jahr 1783 – Heinrich von Kleist war sechs Jahre alt – fällt ein für die Persönlichkeit des Vaters offenbar charakteristisches Ereignis. Friedrich II. (der Große) teilte dem Major von Kleist anlässlich einer Truppeninspektion mit, dass er sich keine Hoffnungen auf eine weitere Beförderung zu machen brauche, weil er seinen Dienst nicht mit ausreichendem Eifer erfülle. Kleists Vater nahm diese Demütigung nicht hin. Er schrieb dem König, dass dieser zwar über sein Leben, nicht aber über seine Ehre verfügen könne, welche er gekränkt habe. Deshalb bitte er um seinen Abschied. Weswegen es letztlich doch nicht zu diesem Schritt kam, ist ungeklärt. Der König scheint sich entschieden zu haben, die mutige Antwort seines Offiziers auf sich beruhen zu lassen. Gleichwohl machte er seine Ankündigung wahr. Kleists Vater blieb «der am längsten dienende Offizier in Majorsrang in der gesamten preußischen Armee»[3].

Ob die Kinder von dem Konflikt des Vaters mit dem König erfuhren, ist ungewiss. Zweifellos aber ist viel von der Haltung des Vaters auf Heinrich von Kleist übergegangen, dessen Entschlossenheit zur Selbstbehauptung freilich noch radikaler war.

«Als ich diesmal in Potsdam war, waren zwar die Prinzen, besonders der jüngere, sehr freundlich gegen mich, aber der König war es nicht – u wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weit weniger. Denn mir mögte es nicht schwer werden, einen andern König zu finden, ihm aber, sich andere Unterthanen aufzusuchen./Am Hofe theilt man die Menschen ein, wie ehemals die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen u strecken lassen, u in solche, die dies nicht thun – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Wilkühr geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen.»

Kleist an seine Halbschwester Ulrike am 25. November 1800 (SWB 4, S. 168)

Über Heinrich von Kleists Kindheit ist so gut wie nichts bekannt. Seinen ersten Unterricht erhielt er gemeinsam mit dem ein Jahr älteren Cousin Carl von Pannwitz, der bei der Familie wohnte, durch einen Privatlehrer, den Theologen und späteren Rektor der Frankfurter Bürgerschule Christian Ernst Martini. Jahrzehnte später beschrieb Martini seinen ehemaligen Schüler als einen «nicht zu dämpfende[n] Feuergeist, der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend, unstet, aber […] mit einer bewundernswerten Auffassungs-Gabe ausgerüstet»[4]. Für Kleist blieb Martini lange Zeit offenbar eine der wichtigsten Bezugs- und Vertrauenspersonen.

Wie intensiv war seine Beziehung zum Vater und zur Mutter? Wie viel Liebe und Geborgenheit erfuhr Kleist von seinen Eltern? Kleist war das fünfte Kind der Familie – wenn auch als erster Sohn in der herausgehobenen Rolle des Stammhalters; seine Mutter hatte bis Ende 1777 in drei Jahren drei Kinder zur Welt gebracht und war vermutlich schonungsbedürftig; das nächste Kind, Leopold, folgte erst zweieinhalb Jahre nach Heinrichs Geburt. Falls dieser, wie manche Kleist-Biographen vermutet haben, in seiner frühen Kindheit die Wohltat allgegenwärtiger elterlicher Liebe entbehren musste, so teilte er diese Erfahrung doch mit den meisten seiner Standesgenossen und überhaupt mit der Mehrzahl der Menschen im 18. Jahrhundert. Später scheint es nicht an Zuwendung gefehlt zu haben. In dem ersten erhaltenen Brief, den der fünfzehnjährige Kleist wenige Wochen nach dem Tod der Mutter an deren Schwester Auguste Helene von Massow schickte, spricht er von seiner verlorne[n] zärtliche[n] Mutter[5]. An seine Familie fühlte sich Kleist zeitlebens gebunden, ungeachtet aller Vorbehalte, mit denen die Verwandten seinen Lebensweg verfolgten. Das deutet auf die Erfahrung eines starken familiären Zusammenhalts während seiner Kindheit und Jugend.

Die geistigen Einflüsse, denen Kleist über die Vermittlung des Vaters als Kind ausgesetzt war, weisen in die Richtung aufklärerischer Menschenliebe. Der Chef der Frankfurter Garnison, bei dem der Vater als Stabsoffizier im benachbarten Kommandantenhaus täglich zu Mittag speiste, war der noch junge Prinz Leopold, ein Neffe Friedrichs des Großen. Leopold von Braunschweig war bildungsbeflissen – 1775 hatte Lessing ihn auf seiner Reise nach Italien begleitet – und philanthropisch gesinnt. Ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte der Universitätsdozent für Theologie Josias Friedrich Christian Löffler, der zudem als Superintendent die Oberaufsicht über das Bildungswesen ausübte und in der Marienkirche als Prediger wirkte. Seine Vorstellungen, wie sich Christentum und aufgeklärte Vernunft miteinander verbinden ließen, stimmten in vieler Hinsicht mit dem überein, was als Gedankengut der Aufklärung ohnehin in der Luft lag. Jesus als sittlich und moralisch hochstehender Mensch stand im Mittelpunkt seiner Theologie. Auch Sokrates galt ihm – als antiker Aufklärer und durch seine Bereitschaft, für seine Überzeugungen mit dem eigenen Leben einzustehen – als Muster eines vorbildlichen Menschen. Zudem trat Löffler für lebenslanges Lernen ein, denn nur durch die «Freiheit des Geistes» gelange der Mensch «zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit».[6] Solche Ideen sind offenbar bis zum Nachbarskind gedrungen und haben dessen geistige Entwicklung tief geprägt. In seinem 1799 am Ende der Militärjahre als Standortbestimmung und persönliches Credo verfassten Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen! feiert Kleist Jesus und Sokrates als große erhabne Menschen, die sich der Gottheit – also nicht mehr einem personal gedachten Gott, sondern der Idee des Göttlichen, dem höchsten Ideal – angenähert hätten.

Gegenüber Wilhelmine von Zenge erklärt Kleist am 22. März 1801, er habe «schon als Knabe (mich dünkt am Rhein durch eine Schrift von Wieland) mir den Gedanken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. […] Aus diesen Gedanken bildete sichso nach u nach eine eigne Religion,u das Bestreben, nie auf einen Augenblick hieniden still zu stehen, u immer unaufhörlich einem höhere Grade von Bildung entgegen-zuschreiten, ward bald das einzige Princip meiner Thätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichthum, der des Besitzes würdig ist.»

(SWB 4, S. 204)

Anfang 1788, im Alter von zehn Jahren, wurde Heinrich von Kleist zusammen mit zwei älteren Cousins im 80 Kilometer entfernten Berlin in die Privatpension des hugenottischen Predigers Samuel Henri Catel gegeben. Wahrscheinlich wurde er in der Privatschule von Catels Schwager Frédéric Guillaume Hauchecorne sowie am Collège Français unterrichtet. Die Beherrschung der französischen Sprache, die Aneignung französischer Bildung und Lebensart gehörten damals zum Erziehungsprogramm der preußischen Adelssöhne. Diese Phase von Kleists Ausbildung fand jedoch – wohl durch den Tod des Vaters – bereits nach wenigen Monaten ein jähes Ende. Lediglich für fünf Monate, von Januar bis Mai 1788, ist Kleists Anwesenheit in Berlin belegt. Vermutlich wurde er bald nach dem unerwarteten Todesfall, auch aus finanziellen Gründen, nach Frankfurt zurückgeholt.

Joachim Friedrich von Kleist starb, sechzigjährig, am 18. Juni 1788. Bereits am folgenden Tag wandte sich Kleists Mutter mit der Bitte um eine Pension an den König, nunmehr Friedrich Wilhelm II. Dieser ließ drei Tage...

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