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E-Book

Flaschenpostgeschichten

Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee

AutorOliver Lück
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783644549111
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In unserer digitalen Welt wirkt eine Flaschenpost wie ein Relikt aus uralter Zeit. Doch sie ist zeitlos. Und grenzenlos. Sie ist wie ein Schatz. Im Sommer 2008 begegnet Oliver Lück einer Lettin, die ihm 35 Briefe aus dem Meer zeigt. Jetzt macht er sich auf die Suche nach den Absendern. Sein Weg führt ihn von Litauen bis Deutschland, von Dänemark nach Russland und sogar bis in die Niederlande. Er besucht Arne, einen schwedischen Fischer, der auf einer entlegenen Insel lebt und über 100 Briefe gefunden hat. Er lernt einen Flaschenpostredakteur aus Kiel kennen, der eine Zeitung herausgibt, die man nicht kaufen, aber finden kann. Und auf Rügen trifft er einen Mann, der regelmäßig Nachrichten mit Wind und Wellen verschickt und schon mehr als 30 Antworten aus sieben Ländern bekommen hat. «Flaschenpostgeschichten» nimmt sich Zeit für besondere Menschen und ihre Erzählungen, die alle über die Ostsee miteinander verbunden sind.

Oliver Lück, geboren 1973, lebt im Land zwischen den Meeren, in Schleswig-Holstein. Seit über 20 Jahren arbeitet er als Journalist und Fotograf. Er reist durch Europa und sammelt Geschichten von Menschen, die Geschichten zu erzählen haben.

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Leseprobe

1


Die Briefe der Biruta Kerve


Sie lebt alleine in einer Holzkate am Strand und sammelt das, was die Ostsee ihr bringt. Für andere ist es nicht mehr als der Müll des Meeres. Für Biruta aus Lettland sind es Geschenke, die ihr der Wind und die Wellen machen – darunter 35 Flaschenpostbriefe aus halb Europa.

Der schmale Pfad führt durch einen Kiefernhain bis auf eine Düne, wo eine kleine Holzbank steht. Von hier hat sie einen guten Blick. Manchmal sitzt sie einfach nur da und schaut zu, wie die Ostsee ihre Farbe wechselt und mit schäumenden Zungen über den Strand leckt. Sie hört den Möwen zu, die so schrill und ausdauernd schreien, als ginge es um Leben und Tod. Und dann tapst Biruta Kerve los, sie geht auf die Suche. Sie liest auf, was das Meer sich irgendwann geholt hat und nun zurückgibt. Sie sammelt, was die letzte Flut in den braunschwarzen Spülsaum geschleppt hat, was die Stürme in den Schilfgürtel geschmissen haben, was ganz vorne, wo Wasser und Land sich trennen, in der Brandung dümpelt.

Heute sind es zwei Dutzend Flaschenverschlüsse, eine Zahnbürste, ein Feuerzeug, fünf leere Flaschen Wodka, eine Packung Erdnüsse aus Deutschland, eine Dose Schnupftabak aus Schweden und acht Dosen Mais aus Russland, rostig und angefressen vom Salzwasser, aber laut Aufdruck noch vier Jahre haltbar. Die Ostsee muss eine Menge schlucken, doch irgendwann spuckt sie alles wieder zurück an Land.

Für andere ist es nicht mehr als der Müll des Meeres. Für Biruta sind es Geschenke, die ihr der Wind und die Wellen machen. Sie trägt die Fundstücke in ihren Garten hinter der Düne und fügt sie ein in ihr Gesamtkunstwerk. Schutzhelme, Rettungsringe, Frisbeescheiben. Puppen, Uhren, Verkehrshütchen und Schleppnetze – Dinge, die verloren gingen oder im Sturm gekappt werden mussten. Einmal hat sie einen Fernseher gefunden, er funktionierte noch. Ein anderes Mal einen Feuerlöscher, dann einen Kühlschrank, einen Wasserkocher oder Kaffeemaschinen. Vier Kilogramm Orangen, kistenweise Bananen. «Die Tage danach gab es Bananenkuchen», erzählt sie, «auch viele Gläser Püree und Marmelade habe ich eingekocht.» Und regelmäßig kommt Brennholz an.

Biruta sagt: «Das Meer gibt und nimmt. Doch oft ist es großzügig zu mir. Jeden Tag werde ich neu überrascht. Jeden Tag sieht der Strand anders aus.» Und auch ihr Garten verändert sich: Fahnen in vielen Farben flattern an meterlangen Ästen im Wind. Bojen, mit denen Fischer ihre Leinen markieren, wachsen wie riesige Früchte an den Bäumen. Seltsame Wesen aus knorrigem Treibholz glotzen ihre Betrachter mit Flaschendeckelaugen an. Zahnbürsten sind zu Blumenmustern arrangiert. Einen Ölanzug, wie ihn Arbeiter auf Bohrinseln tragen, hat sie ausgestopft, mit einem Fußball als Kopf, und ihm eine Sonnenbrille aufgesetzt. Badelatschen sind in Reihe an den Hühnerstall genagelt. Die Hühner übersieht man in dieser bunten Welt aus Treibgut.

Von Nida, wo Biruta lebt, sind es gerade mal zwei Kilometer bis zur Grenze. Es ist das südlichste Dorf an Lettlands Küste – vermutlich auch das einsamste. Stundenlang kann man am Strand laufen, ohne einem Menschen zu begegnen. Während im Norden in Liepāja und im Süden im litauischen Palanga Touristen ihre Badetücher ausbreiten, Luftmatratzen aufpusten und dicht gedrängt am Strand liegen, hat es hier noch nie nach Sonnencreme gerochen, hat noch nie ein Verkäufer Eis am Strand verkauft. Der Eiserne Vorhang hing gleich hinter Birutas Holzkate – zwischen ihr und dem Meer.

Der Strand war zu Sowjetzeiten gesperrt. Es patrouillierten Soldaten. Wachtürme standen alle 100 Meter. Und doch lebten damals mehr Menschen hier, über 100. «Fast alle waren Fischer», erzählt Biruta, «doch dann durfte keiner mehr zur See.» Die Ruderboote wurden mit Äxten in Stücke gehauen. Tag für Tag pflügte das Militär breite Furchen in den Sand, um die Spuren möglicher Flüchtlinge oder Spione sofort entdecken zu können. Den Menschen sollte die Flucht so schwer wie möglich gemacht werden. Fast 50 Jahre lang.

Biruta hat in dieser Zeit in drei verschiedenen Staaten gelebt, ohne auch nur das Haus verlassen zu haben. 1944 wurde sie im von Nazi-Deutschland besetzten Lettland geboren. Ein Jahr später eroberte die Sowjetunion die Küstenlinie zurück. Und 1991 wurde Lettland wieder unabhängig. «Der schönste Tag meines Lebens», sagt Biruta heute noch. Auch wenn damals vieles schwieriger wurde und viele Letten – als die Freiheit endlich Gewissheit war – Reißaus nahmen. Die meisten Höfe sind seit Jahren verlassen. Man hat sie aufgegeben und lässt sie verfallen. Nur noch fünf der Häuser sind bewohnt. Die Menschen, die geblieben sind, sind alt, die meisten weit über 70. Es ist ein einfaches, meist selbstversorgtes Leben, mit Plumpsklo auf dem Hof und Brunnen hinterm Haus. Mit Holzofen und ohne Telefon. Mit oft kargen Mahlzeiten aus selbst gesammelten Zutaten, reich an Geschmack, weil ohne Geschmacksverstärker.

Viele Mauern in Nida sind grün überwuchert. Elche und Wölfe, Füchse und Biber leben wieder hier. Ganze Kolonien von Störchen suchen zwischen Meer und Moor, auf den Wiesen hinter den Dünen, nach Fressbarem. Die Natur erobert das Land zurück. Und hier, wo die Ostsee im Westen liegt, kann der Himmel ein Spektakel sein. Er fegt alles weg, wenn er will. Er wird eins mit dem Meer, wenn er will. Bleigrau und graublau. Gleich wird es Regen geben. In Nida kann man das Wetter von weitem kommen sehen. Jetzt ziehen drohende Wolkenwände von der See herüber. Der Wind wird stärker.

Biruta sammelt noch schnell einige Zweige im nahen Wäldchen, für den Ofen. Sie mag es, wenn es von einem auf den anderen Moment anders riecht, die Luft schwerer wird und nach feuchtem Heu schmeckt. Sie liebt es, wenn die Winde so kräftig am Wellblechdach ihres Hauses rütteln, dass sie nachts nicht schlafen kann. Und wenn es im Frühjahr und im Sommer blüht, wenn es noch bunter wird in Birutas Garten, beginnt die schönste Zeit des Jahres für sie, «dann habe ich ein Leben in Hülle und Fülle. Das ist eine große Freiheit. Das ist alles, was ich mir wünsche.» Und auch an unwirtlichen Wintertagen, wenn der mächtige Westwind heult wie ein krankes Tier und so stark ist, dass niemand mehr aufrecht gehen kann, und er die Ostsee einfach über den schmalen Strand drückt, auch die Dünen die Sturmflut nicht aufhalten können und das Wasser direkt vor ihrer Haustür steht, wenn die Wellen donnern, dass es sich wie ein Beben aus der Hölle anhört, dann scheint die Zeit endgültig still zu stehen im einsamen Nida, wo die Vergangenheit so gegenwärtig und die Zukunft so ungewiss ist.

Regelmäßig aber wird das kleine Nida verwechselt – mit einem anderen ehemaligen Fischerdorf, das in Litauen, keine 100 Kilometer entfernt, liegt und auch Nida heißt. Die beiden Orte verbinden der Name, die Ostsee und ihre Geschichte, beide waren von den Sowjets besetzt. Heute gibt es keine Gemeinsamkeiten mehr. Das andere Nida ist so ganz anders. Es ist das genaue Gegenteil. Dort gibt es Haupt- und Nebensaison. Es gibt Hotels und Restaurants. Es gibt Tausende Touristen und einen Supermarkt, der täglich von 7:30 Uhr bis 23 Uhr geöffnet hat. Im Hafen liegen Segelyachten. Die Häuser sind frisch renoviert, das Holz ist in warmen Farben gestrichen, und die Straßen sind asphaltiert. In der Touristeninformation kann man Thomas-Mann-T-Shirts kaufen. Sein ehemaliges Sommerhaus ist heute ein Kulturzentrum. Das Dorf ist ein Menschenmagnet. Es liegt zwischen Haff und Ostsee auf der Kurischen Nehrung, dem schmalen Fetzen Land, den sich Litauen und Russland teilen, der wie eine seltsame Laune der Natur wirkt, wo weiße Wüstenberge mitten im Meer enden. Über 1500 Menschen leben in diesem Nida, das jeder kennt. Das Nida in Lettland kennt keiner. Zwei Dörfer, ein Name, zwei Welten.

Biruta ist nie im namensgleichen Dorf gewesen. «Ein Nida langt mir», sagt sie. Zu verkaufen steht auf vielen Schildern, die vor den Höfen im sandigen Boden stecken. Doch niemand kauft die Grundstücke, nur einige reiche Litauer oder Russen gönnen sich in Birutas Heimatdorf ein Sommerhaus, verbringen dann aber kaum Zeit hier. Denn die Zeit läuft anders in Nida, vielen viel zu langsam. «Hier gibt es nur das Meer. Zeit darf bei uns noch Zeit sein», sagt sie, «vermutlich ist es den meisten zu ruhig hier.» Und ihre meerblauen Augen verraten den Rest. Es solle ihr recht sein, sie komme gut alleine klar, sagt sie. Doch wer viel alleine ist, der schweigt auch viel, wenn er nicht alleine ist. Auch bei Biruta ist das so. Sie braucht immer ein wenig, um sich an Gesellschaft zu gewöhnen. Dann aber, nach einiger Zeit, beginnt sie von sich aus etwas mehr zu erzählen, auch über sich und ihre Geschichte.

Vor der Unabhängigkeit Lettlands war sie einfache Traktoristin in der regionalen Kolchose «Padomju Latvija» – zu Deutsch: Sowjetisches Lettland. Die umliegenden Dörfer waren in einem großen Kollektiv zusammengeschlossen, mit einigen tausend Menschen. Sie erzählt, wie sie die Felder bestellte. Sie erzählt, wie die Ernte eingeholt wurde. Und wie man morgens in ein Glas pusten musste und der Brigadeführer seine Nase hineinsteckte. Wessen Atem nach Wodka roch, durfte den Tag nicht arbeiten, nicht Trecker oder Mähdrescher fahren. Mit dem Kollaps der Sowjetunion verschwanden auch die Staatsbetriebe, Biruta und ihr Mann Jurji verloren ihre Arbeit. Doch eine Alternative gab es nicht im einsamen Nida.

Der Strand aber, der war nun wieder frei zugänglich. Und schon bald fingen die beiden an, das Strandgut, das sie auf ihren langen Spaziergängen fanden, zu...

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