Wandlungen im Hitler-Bild
In den Erinnerungen Albert Speers von 1969 ist ein Zukunftsmodell von Berlin abgebildet. Es wirkt wie eine Luftaufnahme auf dem Reißbrett und gibt anschaulich wieder, wie Adolf Hitler und sein Chefarchitekt sich die künftige Mitte des Tausendjährigen Reiches vorstellten. Sie sollte alles Dagewesene oder Vorhandene – und hierbei war vornehmlich an Paris gedacht – verkleinern und deklassieren. Herausragend, im Sinne des Wortes: ein Triumphbogen von 120 Metern Höhe, mit den Namen aller zwei Millionen deutschen Gefallenen des Weltkriegs 1914 bis 1918 sowie eine Kuppelhalle mit einer Höhe von 290 Metern und einem Durchmesser von 250 Metern, ausgelegt für 150000 bis 180000 Stehplätze. Auf der Spitze des Steingebirges thronte der Reichsadler, in den Fängen die Weltkugel … Der Innenraum der Peterskirche hätte siebzehnmal in den Koloss hineingepasst. Triumphbogen und Kuppelhalle, die «Höhepunkte» der Reichshauptstadt, erhoben sich am Beginn und Ende einer fünf Kilometer langen Nord-Süd-Achse, das Zweieinhalbfache der Champs-Élysées. Der gedachte neue Führerpalast verurteilte die ausländischen Diplomaten zu einem Anmarschweg von 500 Metern: Unterwerfung durch einschüchternde Raummaße. Zu erwähnen vielleicht noch der Staatsbahnhof mit vier Verkehrsebenen und das Stadion der Vierhunderttausend, geplant für olympische Spiele mit Dauersitz in Deutschland.
Vor den Entwürfen der Gigantomanie träumte Hitler 1937: Wir werden ein großes Reich schaffen. Alle germanischen Völker werden darin zusammengefaßt sein. Das fängt in Norwegen an und geht bis Norditalien. Ich selbst muß das noch durchführen. Wenn ich nur gesund bleibe![1] Als späteren neuen Namen der Metropole hatte er «Germania» im Sinn.
Bei Speer findet der Leser zwei Skizzen Hitlers aus der Mitte der zwanziger Jahre: Triumphbogen und Große Halle, Vorläufer der ähnlich konzipierten neubarocken Ungeheuer, die ein Jahrzehnt danach die Welthauptstadt Berlin im Planungsbüro krönten. Bemerkenswert, wie Hitler mitten in der Kampfzeit, als Chef einer Splitterpartei mit geringen Aussichten, seine Herrschaftsträume von einem neogermanischen Großreich mit dem Zeichenstift festgehalten hat. Denn wozu eine raumsprengende Repräsentations-Architektur in einem Staat von europäischem Normalumfang? Der Parteiführer musste schon damals weit darüber hinausgedacht haben, allein nach seinem Skizzenblock geurteilt. Der bautechnische Weltmachtstil in Speers Entwürfen setzte lediglich um und führte aus, was der Bauherr lange mit sich herumgetragen hatte. Als Hitler eines Tages im Jahre 1935 die Skizze der Großen Halle, zehn Jahre alt, hervorholte und sie Speer schenkte, erläuterte er: Ich habe sie immer aufgehoben, da ich nie daran zweifelte, daß ich sie eines Tages bauen werde.[2]
Entwerfen und Bauen war für Hitler Weltanschauung in Stein. Zeitgleich mit den ersten Entwürfen für das monumentale Äußere des kommenden Reiches entwickelte der Parteiführer seine Vorstellungen von dessen räumlicher Ausdehnung und der inneren Gestalt: in der programmatischen Schrift Mein Kampf. Die Herrschaftsvision per Diktat ergänzte diejenige auf dem Zeichenblatt, oder umgekehrt. Darin lagen Logik und Konsequenz, ja, es war Prophetie in eigener Sache, denn derselbe Mann hat, nachdem er an die Macht gekommen war, seine Zukunftsbilder mit äußerster Entschlossenheit zu verwirklichen gesucht. Ist es schon höchst ungewöhnlich, dass ein Politiker im Voraus ein Kursbuch aggressiver Herrschaftsziele veröffentlicht, so kennt die Geschichte kein zweites Beispiel, dass er anschließend die Züge unbeirrbar nach dem ursprünglichen Fahrplan auf die Reise schickte.
Erstaunlicher nur als die Willenseinheit im Planen und Ausführen, hinweg über alle Wechselfälle des persönlichen Aufstiegs und der europäischen Allgemeinentwicklung von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, ist die Hartnäckigkeit, mit der die Forscher die zugrunde liegende Weltanschauung lange übersehen und bestritten haben. Obwohl zutage liegt, dass der Staatsmann und Feldherr Hitler den Demagogen und Programmatiker Hitler Punkt für Punkt erfüllt und bestätigt hat, wurde ihm jahrzehntelang jedes zusammenhängende Weltbild abgesprochen. Als prinzipienloser Machtmensch geistert er durch die älteren Bewertungen. Nicht wenig trug Mein Kampf dazu bei. Hass, Aggressionen, Pathos und irrtumstrotzende Halbbildung standen vorurteilsfreier Prüfung ebenso entgegen wie die unsystematische Anlage der Schrift und ihr propagandistischer, vom Redeton her gedachter Duktus. Die geschulten Denkapparate der Historiker wurden davon irritiert wie saubere technische Geräte durch ein nicht entstörtes altes Modell. Mein Kampf blieb der ungelesenste Bestseller der Weltliteratur.[3]
Überdies hatte ein beachteter Hitler-Kritiker die Interpretationen in die Fehlrichtung gelenkt. Hermann Rauschning, einstiger Danziger Senatspräsident von anfänglich nationalsozialistischer Couleur, hatte bis zum Abfall viele freimütige Äußerungen des Reichskanzlers vernommen, sich dabei vom opportunistischen Plauderton täuschen lassen und auf grundsätzliche Richtungslosigkeit geschlossen. Daraus entstand der Buchtitel «Revolution des Nihilismus», 1938. Der Nationalsozialismus, schrieb er, kenne kein wie immer geartetes Ziel, das er nicht um der Bewegung willen aufzustellen oder preiszugeben bereit sei. Totale Herrschaft um ihrer selbst willen bilde das alleinige Prinzip.
Die erste wissenschaftliche Biographie, Alan Bullocks allgemein gerühmte «Study in Tyranny» von 1952, brachte sich in der Kernaussage um ihren Wert, denn sie deckte sich darin fast wörtlich mit Rauschnings verfehlter Sicht. Und so ging es weiter bei allen sonstigen Fortschritten in der biographisch-historischen Durchdringung der Person und der Epoche. Die geschichtsrichterliche Zunft sträubte sich, den Hauptangeklagten zur Wahrheitsfindung ernsthaft zu befragen. Von einer einsamen, ungehörten englischen Stimme abgesehen (R.C.K. Ensor, Oxford 1939), fanden die Historiker sich erst in den fünfziger und sechziger Jahren bereit, die unerquickliche Grundschrift des großen Ruinierers ohne Zorn und Eifer zu lesen – oder überhaupt zu lesen –, Text und Taten nüchtern zu vergleichen.
Wieder ging ein Oxford-Mann voran, Hugh Trevor-Roper, 1953 und 1959/60. Hitlers Weltanschauung habe seit 1923 festgestanden; im Osten ein großes deutsches Reich zu errichten, sei der Traum seines Lebens gewesen. Den Fachkollegen warf er vor, der Abscheu vor Hitlers Unmenschlichkeit habe sie für seine in sich geschlossene Vision der Weltgeschichte blind gemacht, sie gehindert, ihm Denkschärfe und zielbewusstes Handeln zuzutrauen.
In Deutschland setzte eine neue Historiker-Generation den bezeichneten Weg entschlossen fort. Martin Broszat dehnte die Betrachtung 1960 auf die von Trevor-Roper wenig berücksichtigte Judenpolitik aus und nannte Hitlers Antisemitismus die vielleicht einzige Überzeugung, die bei ihm nicht opportunistisch manipulierbar gewesen sei. Ernst Nolte erkannte eine weltanschauliche Folgerichtigkeit, die einem den Atem verschlage (1963). Die neuen Einsichten ließen auch Alan Bullock umdenken. In einer überarbeiteten Neuausgabe seiner Biographie räumte er zehn Jahre nach der Erstfassung ein, Hitler habe an den Zielsetzungen des Buches Mein Kampf bis zuletzt konsequent und mit erstaunlicher Willenskraft festgehalten.
Wichtige Gedankenschritte auf dem mühevollen Weg der Umorientierung leistete Eberhard Jäckel 1969: «Hitlers Weltanschauung – Entwurf einer Herrschaft». Er ordnete das verstreute, unzusammenhängend hinterlassene Material zum Welt- und Geschichtsbild wie in einem Puzzlespiel. Und da ergab oder bestätigte sich zweierlei. Hitlers Weltanschauung hatte in den zwanziger Jahren ihre Endgestalt gewonnen; ihre Kernmotive waren Rasse und Lebensraum.
Jäckel konnte für die erweiterte Neuausgabe seines Essays (1981) die mittlerweile vorliegenden «Sämtlichen Aufzeichnungen» Hitlers bis 1924 zusätzlich verwerten. Dieser Sammelband von 1980 (Jäckel und Kuhn), ein Glanzstück schürfender und nutzbar präsentierter Quellenkunde, vervollständigt die schon vorher bekannt gewesenen Selbstzeugnisse bis zum Ende der Landsberger Festungshaft und bildet nun die dritte Textgrundlage für Hitlers Werdezeit. Er selber hatte 1925 und 1927 in zwei Teilen Mein Kampf veröffentlicht. 1961 brachte Gerhard Weinberg «Hitlers Zweites Buch» von 1928 unter dieser nachträglichen Bezeichnung heraus.
Hatte Jäckel noch 1969 heftig gegen die älteren Ansichten vom reinen, ziellosen Machtstreben gestritten, so spricht er in der Neufassung nur noch von der «kaum glaublichen Geschichte der Unterschätzung Hitlers»[4] als von etwas Überwundenem, denn: «Inzwischen hat sich das Urteil gewandelt.»[5] Dass schon der Parteiführer lange vor der Berufung zum Kanzler entschlossen gewesen war, Russland zu erobern und die Juden zu entfernen (bis zu welchem Grade auch immer), bezweifelt kein Sachkenner mehr. Den Rezeptionsweg ungewohnter neuer Anschauungen hatte Gustav Freytag einmal ironisch so beschrieben: Zuerst heiße es, das sei nicht wahr, sodann: es schade der Kirche, zuletzt: das wisse doch jedes Kind.
Niemand kann allerdings bisher schlüssig beweisen, wann Hitlers Feindschaft gegen die Juden angefangen hat, und auf Grund welcher Einwirkungen. Entschieden ist nur, wann der Antisemit Hitler praktisch fertig dastand. Über Mutmaßungen und Assoziationen für die weltanschaulichen Ansätze dieser späteren einzigartigen Hassverdichtung kommen wir nicht hinaus, und allem Anschein nach wird es so...