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E-Book

Die Fettlöserin

Eine Anatomie des Abnehmens

AutorNicole Jäger
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644559011
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Der Spiegel sagte, ich sei fett. Die Waage sagte: Bitte nicht in Gruppen aufsteigen! Mein Umfeld sagte schon lange nichts mehr. Die ungeschönte Wahrheit: Ich war Mitte 20, sah unmöglich aus und fühlte mich schrecklich. Ich konnte vor Rückenschmerzen kaum laufen und war so beweglich wie eine Wanderdüne. Im Krankenhaus sagte man mir, mein Gewicht läge bei weit über 340 Kilogramm. Dreihundert WAS? Das konnte einfach nicht sein. Ich kaufte mir also Waagen. Zwei. Denn eine allein, selbst wenn sie bis 250 Kilo ging, zeigte mein Gewicht nicht an. Einen Heulkrampf später stellte ich mich darauf, einen Fuß auf jeder Waage. Es reichte nicht. Also begann ich, Kleinigkeiten zu verändern. Gute acht Monate später gab es endlich eine Zahl. Und was für eine: 315 Kilogramm! Seit diesem Tag habe ich über 160 Kilo abgenommen und bin noch lange nicht am Ziel - und erst recht nicht am Ende. Es geht eben doch! Und das will ich zeigen: ohne Operationen, ohne zu hungern, ohne dauerhaften Verzicht, ohne Pillen, dafür aber mit Sport, Ernährung, Wissen, Aufklärung, viel, viel Ehrlichkeit und vor allem einem Augenzwinkern. Ich bin die Fettlöserin. Und wenn ich es kann, dann kann es jeder.» Nicole Jäger bezeichnet sich selbst als fette Frau - sie weiß, was es heißt, übergewichtig zu sein und abnehmen zu wollen. Über 160 Kilo hat sie schon geschafft, ohne Operation und absurde Diäten, und sie hat aus ihren Erfahrungen und ihrer Expertise als ausgebildete Heilpraktikerin ein Coaching für all jene entwickelt, denen es ähnlich geht. Der Erfolg gibt ihr recht, denn nicht jede/r Übergewichtige hat Lust darauf, sich von einer durchtrainierten Size-zero-Beauty erklären zu lassen, wie man Gewicht verliert. Nun erzählt Nicole Jäger ihre ungewöhnliche Geschichte - witzig, frech, inspirierend und sehr unterhaltsam.

Nicole Jäger lebt in Hamburg. Sie ist Autorin und Stand-up-Comedian. Gleich mit ihrem ersten Buch «Die Fettlöserin» landete sie einen Bestseller. Aus der dazugehörigen Lesereise entwickelte sich ihr erstes Stand-up-Comedy-Programm «Ich darf das, ich bin selber dick». Ihr zweites Buch «Nicht direkt perfekt» erschien 2017, und mit dem gleichnamigen Comedy-Programm tourte sie durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Anfang 2020 hatte ihr drittes Bühnenprogramm «Prinzessin Arschloch» Premiere. In ihrem dritten Buch «Unkaputtbar» beschäftigte sie sich mit dem Thema häusliche Gewalt.

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Leseprobe

Was bisher geschah


Ich habe keine Ahnung, wie alt ich war, als ein Kinderarzt erstmals diagnostizierte, dass ich dringend eine Kur machen müsste. Andernfalls würde ich schon bald auseinandergehen wie ein Hefekloß. Aus heutiger Sicht war ich ein wenig propper; damals, ich bin Baujahr 82, war es eine Zumutung, ein dickes Kind zu haben.

Diese Ratschläge hörten meine Eltern immer öfter, und irgendwann war es dann so weit: Ich wurde mit 5 Jahren zur Kur geschickt, sechs Wochen lang, irgendwo in Deutschland. Die erste von insgesamt fünf Kuren dieser Art und Länge, bevor ich volljährig wurde. Für meine Eltern muss es fürchterlich gewesen sein, wer lässt schon gern ein 5-jähriges Kind allein. Wenn aber ein Arzt sagt, dass es so sein müsse, dann wurde das so gemacht. Immerhin hatte er einen schicken weißen Kittel an, der nach Kompetenz roch. Ich war eines von insgesamt zwei dicken Kindern in der Kinder-Kurklinik; alle anderen Patienten waren zwar im gleichen Alter, aber schlank bis hager. Man trennte die schlanken Kinder von uns dicken, räumlich wie in der Behandlung durch die Betreuer. Kann ja am Ende keiner wissen, ob Fett nicht doch ansteckend ist.

Die schlanken Kinder bekamen Schokolade zum Nachtisch. Ich bekam eine halbe Kiwi. Mit uns wurde täglich geschimpft und darauf hingewiesen, wie dick und unnütz und faul wir wären, wohingegen wir uns einmal ein Beispiel an den besseren Kindern nehmen sollten. Die, die vorn saßen und umarmt wurden.

Wir zwei Dicken saßen also an einem separaten Tisch, ganz hinten links, teilten uns ganz feudal unsere Kiwi und dienten den Betreuerinnen, die dafür abgestellt waren, sich um uns zu kümmern, gerne als schlechtes Beispiel: «Wenn ihr also nicht so enden wollt wie Nicole und Mädchen XY, dann sagt euren Eltern, dass …», und so weiter.

Ich erinnere mich an Betten, an deren Seiten nachts Gitter befestigt wurden, damit man nicht herausfiel. Und ganz nebenbei hielt diese Maßnahme die Örtlichkeiten so schön sauber, weil niemand nachts auf Klo gehen konnte. Praktisch!

Ich erinnere mich daran, dass ich mittags durch den Speisesaal schlich und den schlanken Kindern die Schokolade klaute. Nicht viel, immer nur von jedem so ein kleines bisschen, sodass es nicht auffiel.

Sollte unter euch also jemand sein, der schmerzlich ein Stück Schokolade vermisst – das habe ich.

Ich erinnere mich an den Nachtwächter, der aus meiner Perspektive groß wie ein Baum war und wahrscheinlich wegen seiner Kernkompetenzen «schlechte Laune» und «macht Kindern Angst» eingestellt worden war. Mr. Kinderschreck flanierte nachts über den großen Stationsflur, und wenn man nicht schlief oder «lieb» war, musste man bei ihm im Zimmer auf der Pritsche unter einer kratzigen grauen Decke schlafen. So was kennt man heute nur aus alten Knastfilmen. Unter «nicht lieb sein» fiel auch, nachts aufs Klo zu müssen, zu weinen, weil man Heimweh hatte, was bei Kindern ab und an vorkommen soll. Nicht lieb war auch ich, als Eiter und Blut aus meinen beiden Ohren lief. Die Mittelohrentzündung wurde mit den Worten «Stell dich nicht so an, sonst geben deine Eltern dich ins Heim!» behandelt, und jeder Morgen begann damit, dass das Kissen an meinem Kopf klebte. Das war aber nicht so schlimm, denn nach einigen Tagen konnte ich solche Sätze schlichtweg nicht mehr hören. Auch den Kinderschreck nicht, was mir eine weitere Nacht auf der Pritsche einbrachte. Seither gehe ich Nachtwächtern aus dem Weg. Nach Hause wurden aber nur schöne Dinge geschrieben. Kunststück, ich war 5 und musste von den Betreuern schreiben lassen. Ich habe euch lieb, alles ist gut, das Essen ist lecker, die Sonne scheint auch, und wenn ich wieder zu Hause bin, bin ich auch ganz still und nicht mehr so dick. Versprochen.

Bis auf die saftige Ohrenentzündung, an der ich beinahe ertaubte, Angst vor dem Alleinsein und einen großen Hunger auf Schokoweihnachtsmänner brachte mir diese erste sogenannte Kur rein gar nichts.

 

Zurück in der Heimat zu sein hieß auch, zurück im alten Trott zu sein.

Ich wuchs heran, wie man nun einmal so wächst. Bei mir insgesamt 177 Zentimeter in die Höhe und 2 Meter in die Breite.

Lacht da gerade jemand?

Das stimmt!

Am Ende der Reise hin zu meinem Gewichtshöhepunkt war ich wirklich weitaus breiter, als ich hoch war. Nun, zumindest war mein Umfang mit einem normalen Maßband nicht mehr zu ermitteln.

Während ich mich fröhlich in alle Himmelsrichtungen entwickelte, lernte ich so einiges über das Leben, über Ernährung aber etwas ganz Spezielles, und zwar: Egal was es ist, es ist stets zu viel.

Gemein, ich habe doch immer so gern gegessen.

Unheimlich gern!

Und irgendwann dann gern heimlich.

 

Mit 10 Jahren ging es dann in die zweite Kur. Dieses Kind wollte aber auch einfach nicht dünner werden!

Nach der Kur schleppte man mich zu einer Psychotherapeutin, die sich auf dicke Kinder spezialisiert hatte.

Was für ein Ereignis! Vor der guten Frau hatte ich solche Angst, dass ich nicht mehr schlafen konnte und in den Sitzungen außer Schuld, daran erinnere ich mich noch sehr genau, nicht viel empfand. Schuld und Angst sind Gefühle, die sich übrigens wunderbar wegessen lassen. So wie sich Probleme auch wegtrinken oder Einsamkeit wegvögeln lassen kann.

Nicht.

Kur Nummer 3 stand an, und kurz vor meinem 14. Geburtstag auch die Nummer 4.

Als ich alt genug war, um mich nicht mehr in Betten einsperren zu lassen, und zu schwer, um auf einer Pritsche in der Besenkammer schlafen zu müssen, war es ab und an sogar ganz witzig. Man muss sich um nichts kümmern, alle betüdeln einen, man bekommt Mahlzeiten vorgesetzt und braucht sie nur zu essen – und essen konnte ich schon immer hervorragend –, ging zwischenzeitlich zum Sport, alle sahen gleichermaßen scheiße aus, und abends giggelte man mit Taschenlampen unter den Bettdecken und schwärmte für Jungs.

Ich auch!

Was war ich schlimm verliebt in einen Jungen namens Martin! Martin war groß, blond, ein wenig übergewichtig, schön, und als ich ihn einige Jahre später durch Zufall wiedertraf, da war von dem Mädchen, dass sich in ihn verliebt hatte, genauso wenig übrig wie von dem Martin, den ich so angehimmelt hatte. Eine der ersten wirklich großen Enttäuschungen meines Lebens.

Aber hey, Martin, du warst mein Erster.

Also, mein erster Tanzpartner.

Jugenddisko, im Keller des Kurheims; ich trug eine lila Leggins, schimmernd und eng, einen grünen Haarreifen auf straßenköterfarbenem, dünnem Haar, und sah aus, als hätte mich ein betrunkener Stylist im Schlaf überfallen. Ich fand mich unwiderstehlich schön.

 

Martin schlief dann übrigens auf der gleichen Kur noch mit dem Mädchen, das ich am wenigsten leiden konnte, nur um, wie er sagte, mir zu zeigen, wie gern er mich hat und dass er damit die Trauer zum Ausdruck bringen wollte, dass wir nicht zueinanderfanden.

Martin, schönen verschissenen Dank auch!

Ich hoffe, du hast deine Strategie über die Jahre noch einmal ein winziges bisschen überarbeitet. Idiot.

Nun möchte man aus diesen Zeilen schließen, dass ich dickes Kind meine Zeit damit verbrachte, möglichst viel zu essen und mich möglichst wenig zu bewegen, traurig zu gucken und mich ansonsten hänseln zu lassen. Zu meiner Ehrenrettung darf ich sagen, dass das so nicht ganz stimmte. Ich fing sehr früh an, Sport zu treiben, und hatte selbst im Abiturzeugnis trotz des zum damaligen Zeitpunkt schon abstrus hohen Gewichts eine 2 in Sport.

Ich liebte Sport und tat lange Zeit nichts anderes. Ich war in einem Verein angemeldet und nahm von «Sportübernachtungspartys» bis hin zu allerhand Wettkämpfen als Jugendliche an allem teil, was mir vor die Sportschuhe fiel. Noch heute bekomme ich beim typischen Geruch von Turnhallen ein Kribbeln im Bauch.

Meine Hauptdisziplin war der Gerätesport und das Bodenturnen, und wenn ich mir nicht gerade die Schienbeine am Stufenbarren aufschlug, spielte ich zum Ausgleich Squash, ging schwimmen, fuhr mit dem Rad oder brach mir den Arm beim Inlineskaten. Leider den linken, weswegen ich am nächsten Tag doch die Klausur mitschreiben musste. Kurzum, ich war viel draußen und noch mehr beim Sport, weswegen ich leider mit dem Vorurteil vom verfressenen Couchpotato-Kind aufräumen muss.

Meine große Leidenschaft war jedoch das Trampolinspringen, was ich sogar ziemlich gut konnte. Bis auf dieses eine Mal, als ich aus Gründen, die mir im Nachhinein nicht mehr klar sind, in der Luft die Orientierung verlor und statt wie geplant mit dem Rücken auf der Sprungfläche mit meiner Hüfte auf dem Trampolingestell aufschlug und nach einer kurzen, sicher sehr galanten Drehung auf dem Hallenboden aufkam. Dadurch wurde mein Sturz dann erst einmal gebremst.

Ich weiß nicht, ob jedem meiner Leser Trampoline in der Größe bekannt sind, aber sicher kennt noch jeder diese kleinen, viereckigen, die es im Sportunterricht gab. In der Mitte ein ehemals weißes, jetzt durch Hunderte Turnschuhe ergrautes Sprungtuch, umrandet von einer dünnen, meist blauen oder auch orangefarbenen Matte, die eigentlich nur dafür Sorge tragen soll, dass man dem Metallgestell, das das Sprungtuch hält, nicht ins Gehege kommt.

Turniertrampoline sehen in etwa genauso aus, sind nur weitaus größer und höher, und man kann auch höher springen. Sieht toll aus, tut dann aber scheiße weh, wenn man so wie ich danebenspringt.

Beim Kampf Hüfte gegen Eisengestell gewinnt übrigens im Regelfall die Eisenstange.

So auch bei mir.

Mit einem hässlichen Geräusch und einem satten...

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