Heiner K. hat Erfolg. Er leitet eine Abteilung in einem Großunternehmen und wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einem weitläufigen Einfamilienhaus.
Es ist Freitag, 7:54 Uhr. Heiner K. muss zur Arbeit. Gleich hat er ein Meeting mit seinem Chef. Vorher aber bringt er noch die Kinder zur Schule. Gemeinsam steigen sie in seinen nagelneuen SUV mit Allradantrieb. Die Sicht ist schlecht auf der Straße, das Radio spielt Popmusik, der Verkehr ist hektisch. Ein Motorradfahrer, der sich vor einer roten Ampel zwischen zwei Spuren nach vorne drängelt, kommt dem Metallic-Lack von Heiners neuem Auto bedenklich nah. Was der sich erlaubt! Heiner wird wach. Dass der Typ in Ledermontur ihn fast gestreift hätte, ärgert ihn, ja, er ist richtig angefressen von dieser kleinen Szene. Warum regt ihn das so auf? Er weiß es (noch) nicht.
Dieses Jahr hat es mit der Beförderung nicht geklappt … Nein, bitte weg mit dem Gedanken, jetzt sind die Kinder dran, jetzt muss ich hier präsent sein …
Heiner setzt sie vor der Schule ab und fährt weiter. Er macht das Radio lauter. Immer wenn er allein Auto fährt, entspannt er sich. Dann kann er machen, was er will, kann tief atmen, ganz er selbst sein. Er drückt ein bisschen mehr als nötig aufs Gas, spürt den starken Motor, der ihn beim Beschleunigen leicht in den Sitz drückt. Das ist sein Auto!
Heiner checkt sein Smartphone auf neue SMS. Lust macht die Arbeit schon. Er weiß, er darf beim Autofahren keine SMS lesen. Er erlaubt es sich aber trotzdem, genießt die eigene Freiheit. Da überrascht ihn ein anstrengender Gedanke:
Was habe ich in diesem Jahr eigentlich erreicht?
Ok, das Auto. Und die nächsten Raten vom Haus sind abbezahlt.
Was noch …?
Die Kinder machen sich doch gut.
Was noch …?
Mit Elena ist es jetzt auch wieder entspannter. Gut, dass die Putzfrau jetzt öfter kommt …
Es ist alles gut. Aber … was noch?
Soll das alles gewesen sein?
Da ist sie wieder, diese Frage, die ihn quält! Sie begleitet ihn seit einiger Zeit wie eine Hornisse, die nicht ablässt von ihrem Opfer. Doch die Frage ist zu unangenehm für ihn … Er schiebt sie weg und konzentriert sich wieder auf den Straßenverkehr und das Hier und Jetzt. Im Radio werden gerade die Börsendaten durchgegeben.
Ob das wohl crasht? Heiner hofft, dass es nicht passiert. Er hat Angst, dass er sich und seine Familie durch diesen Mist nicht heil durchbringen würde. Es ist eine tiefe Existenzangst, die ihn quält.
Doch auch diesen störenden Gedanken schiebt er weg! Er will schönere Gedanken in seinem Kopf entstehen lassen, denkt an den Sommerurlaub, an die Kinder. Sie bedeuten ihm so viel, die beiden … Er genießt diesen Moment der Liebe, des Glücks und der Sorglosigkeit. Doch da schießt schon der nächste Gedanke quer:
Bin ich eigentlich glücklich? Ich weiß es nicht. Irgendwie ist alles überschattet … Heiner fühlt sich nicht frei. Nicht sicher. Es ist, als ob er im Leben permanent bedroht wäre. Es kommt etwas Neues in ihm auf, eine innere Stimme, die ihn fragt:
War das jetzt alles?
Heiner hat die Stimme in seinem Kopf ganz deutlich gehört. Natürlich, das war er selbst. Er ist ja nicht verrückt. Aber diese Stimme war trotzdem neu. Davon wird er niemandem erzählen können, denkt Heiner. Schließlich geht außer ihm ja keinen etwas an, was in seinem Kopf vor sich geht. Und er selbst will es auch nicht hören, er schiebt es weg.
Heiner denkt wieder an etwas anderes, während er das Auto auf seinen neuen Parkplatz lenkt: ein Führungskräfte-Parkplatz, immerhin. Bis hierher hat er es geschafft! Stolz richtet er sich auf in seinem Auto, stellt die Zündung ab, atmet durch … Für einen Moment geht er innerlich auf eine Reise in seine eigene Vergangenheit. Heiner denkt an seine Kindheit, die Träume, die er hatte und nie zu leben wagte. Eigentlich möchte er mehr, und damit meint er nicht mehr Geld, mehr Karriere, mehr Besitz und so weiter, aber er weiß nicht, ob das andere »Mehr« in seinem Leben noch irgendwie Platz haben kann. Konkrete Pläne oder präzise Wünsche hat er nicht, auch keine klare Vision.
8:22 Uhr. In exakt acht Minuten beginnt das Meeting mit seinem Chef.
Als Heiner das denkt, schlägt es plötzlich ein wie ein heftiger Blitz. Seine Gedanken hören auf. Sein Atem stockt. Sein Gesicht wird starr. Er fällt in sich zusammen, die Schultern knicken ein. Bewegungslos starrt Heiner auf seine zitternden Hände, als ob es nicht die eigenen wären. Er bleibt sitzen, schafft es nicht, die Wagentür zu öffnen. Was zum Teufel ist bloß los?
Die Anfangs-Angst
Was für eine merkwürdige Szene! Was ist los mit Heiner K.? Was ist das für eine sonderbare Situation, mit der er sich an diesem Morgen herumquält? Was ist das für eine überwältigende Angst, die er in sich trägt? Warum ist er so damit beschäftigt, sich zu fragen, ob das jetzt alles gewesen ist?
Dieser Mann zeigt die typischen Symptome eines Menschen, der sich in einer akuten Sinnkrise befindet. Sandra Maischberger sagte vor Kurzem in einer Talkshow, dass derzeit schätzungsweise eine Million Deutsche auf Sinnsuche seien. Kennzeichnend für die Situation all dieser Menschen ist, dass sie tragende Werte in ihrem Leben plötzlich infrage stellen. Dinge, die ihnen bisher enorm wichtig waren, verlieren plötzlich an Bedeutung. Sie »häuten« sich und kommen zu einer neuen Weltsicht.
Solche Veränderungen der persönlichen Werte sind viel tiefgreifender als bloße Verhaltensänderungen oder die Annahme neuer Gewohnheiten. Sie können sich anfühlen wie tektonische Verschiebungen von Kontinentalplatten – nur nicht im Zeitraum von Jahrmillionen, sondern innerhalb von wenigen Wochen, manchmal innerhalb von Tagen oder Sekunden. Das kann sich markerschütternd anfühlen, dramatisch und extrem.
Gut ist, wenn wir solche inneren kontinentalen Driften frühzeitig erkennen, denn dann können wir in angemessener Weise darauf reagieren. Dazu müssen wir bereit sein, dieses Neue anzunehmen. So ein Wertewandel ist wie eine Neugeburt. Die bisherige Version von uns stirbt und eine neue entsteht. Das führt auch zu neuen Lebensentscheidungen. Und es macht – zumindest am Anfang – Angst. Angst, die sich manchmal existenzbedrohend anfühlt. Diese Angst lässt uns nicht mehr los. Sie übermannt uns so lange und so oft, bis wir uns ihr stellen. Darum nenne ich unsere Angst an der Stelle auch die »Anfangs-Angst«.
Schauen Sie bitte noch einmal mit geschärftem Blick auf die geschilderte Szene im Leben von Heiner K. Sie können darin acht Merkmale erkennen, die alle typisch sind für Menschen, die einen solchen Umbruch durchmachen. Kommen Ihnen manche davon bekannt vor? Fühlen Sie sich von einigen vielleicht direkt angesprochen?
1. Merkmal: Sie sind stolz auf das Erreichte.
Am Anfang solch einer tiefgreifenden Veränderung ziehen Menschen typischerweise ein (Zwischen-)Fazit. Sie wollen die Bestätigung, dass sie bisher ein produktives Leben geführt haben – wobei sich die Vorstellung von dem, was sie für produktiv halten, ändern kann. Vielleicht fanden sie mit 30 nichts produktiver als Karriere zu machen, mit 40, sich an ihrem Kind zu erfreuen, mit 70, ihre eigene Sterblichkeit zu akzeptieren usw. Gemeinsam ist all diesen Punkten ein Motiv: Solche Menschen wollen zufrieden sein mit dem, was sie hinterlassen!
2. Merkmal: Sie kommen mit Ihrer Karriere nicht mehr so voran.
Wenn man vor einer tiefen persönlichen Wandlung steht, nimmt die Motivation ab, im Rahmen des bisher gültigen Wertesystems weiter zu funktionieren. Man steht – wie Heiner K. – am Übergang von der Erfolgs- zur Erfüllungsorientierung. Bislang zählte, was man hat – Erfolg, Prestige, Gewinn, Status, Macht – jetzt wird plötzlich wichtiger, wer man ist – »Was ergibt Sinn?«, »Was will ich wirklich?«, »War das schon genug?«. Solche Fragen tauchen an dieser Stelle auf. Der Widerspruch zwischen dem Willen, das Erreichte zu schätzen, und dem Wunsch, das eigene Leben zu ändern, bremst die Motivation und das nach außen hin erlebbare Engagement. Das kann Angst machen.
3. Merkmal: Sie versuchen an Ihrem jetzigen Leben festzuhalten.
Oft reagieren Menschen, die an einer solchen Wegmarke stehen, hektisch. Sie versuchen, sich an der vertrauten Sicherheit festzuhalten und das Neue zu verdrängen. Wir müssen aber lernen, dieses Neue zu erkunden und zu verstehen, während das Bisherige uns den Boden dafür bietet. Eine gesunde Entwicklung vollzieht sich immer so: Wir entwickeln uns über das Bestehende hinaus, schließen es aber weiterhin mit ein; es behält seinen würdigen Platz.
Ein Beispiel: Wenn eine Firma merkt, dass der Markt, in dem sie bisher ihre Gewinne gemacht hat, sich stark verändert (wie etwa Nokia mit seinen Handys vor ein paar Jahren), wird diese Firma nur dann erfolgreich bleiben, wenn es ihr gelingt, die neuen Trends in ihr bestehendes Produktangebot zu integrieren. Das kann für die Zeit des Übergangs bedeuten, dass Erfolgsprodukte (so genannte Cashcows) die Investitionen für neue Entwicklungen finanzieren, bis die Firma irgendwann von den neuen Produkten lebt. Die alten behalten im »Museum der Erinnerungen« einen würdigen Platz, die neuen aber werden mehr und...