Einführung
Er hob die Krake aus dem Wasser und sah sofort, dass sie winzig war, ganz sicher nicht das Meeresungeheuer, gegen das er gekämpft hatte … War es der Tod, der dich so verkümmern ließ, oder waren es die dreißig oder vierzig Jahre, die ich gebraucht habe, um dich zu töten?
PEPETELA, A GERAÇÃO DA UTOPIA, LISSABON 1992
Tiere sind wundervolle nationale Symbole, besonders, wenn sie von Wirtschaftsjournalisten angeführt werden. China ist der Drache, der wie die boomende Wirtschaft den Stachelkopf reckt, Russland der Bär mit Fellmütze, der die Tatzen um ein Gasventil legt und es mit launenhafter Freude öffnet und schließt. Der indische Tiger wird von den Geschäftsleuten des Landes geritten: Wie bei einem Rodeo versuchen sie, den wilden, unaufhaltsamen Sprung des »Fortschritts« zu zügeln.
Was ist mit Afrika? Was geschieht, wenn es zu wachsen und zu knurren beginnt und die reiche Welt herausfordert? Im Moment gibt es eine ganze Reihe afrikanischer Länder, deren Tiere identifiziert und auf die Wirtschaftsseiten gebracht werden müssen, als Symbole der wachsenden Dominanz ihrer Länder.
Die weniger plakativen Journalisten sprechen von einem »umgekehrten Neokolonialismus«, wenn sich die eingeschüchterten Tiere der Kolonialzeit erheben und ihre Bändiger fressen. Es ist eine Geschichte, die in diesen Tagen wieder und wieder erzählt wird, als kämen die reichen Länder nicht so recht über den Umstand hinweg, dass sie nicht länger die Spitze bilden, sondern ihre ehemaligen afrikanischen Kolonien als Bittsteller besuchen, nicht als ihre Bosse. Das ist eine bittere Pille für das taumelnde Europa.
Angola ist ein riesiges Land im Südwesten Afrikas, zweimal so groß wie Texas. Es ist das erste durch eine europäische Macht – nämlich Portugal – kolonisierte afrikanische Land und blieb es länger als alle anderen. Jahrhundertelang gaben sich die Portugiesen größte Mühe, ausbeutbare Bodenschätze zu finden – Gold, Kupfer, Eisen –, kamen für gewöhnlich jedoch wütend und mit leeren Händen von ihren Vorstößen ins Landesinnere zurück. Also wandten sie sich dem Sklavenhandel zu, und das mit ungeheurem Erfolg. Über Jahrhunderte füllte er die königlichen Schatullen, und erst im 19. Jahrhundert gaben sie ihn nach Dezennien wachsender ausländischer Protestbekundungen wieder auf. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs entdeckten sie Diamanten, in den 1950ern Öl, doch es war zu spät, das noch wirklich zu genießen: 1975 verließen die weißen Siedler das Land auf schmachvolle Weise, und Angola versank in einem drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg. Danach schien das Land zur »Kriegsgeschundenheit« verdammt: Angola stand für Landminen, Blutdiamanten und Vertriebene.
Dennoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein erstes Rinnsal hauptsächlich portugiesischer Rückkehrer in eine Flut verwandelt. Angezogen von der alten tropischen Kultur, die sie einmal genossen haben, nutzen sie die neuen sich bietenden Investitionsmöglichkeiten, nehmen Jobs an und prosten ihren neuen Arbeitgebern mit der Kameraderie lange verschollener Cousins zu.
Unbestreitbar geht zwischen Afrika und seinen früheren europäischen Kolonialherren etwas Dramatisches vor. Die Nachfrage nach Bodenschätzen erreicht immer neue Höhen, und das vielleicht nirgendwo mehr als in den ehemaligen portugiesischsprachigen Kolonien wie Mosambik, wo im Rovuma-Becken riesige Gasvorräte entdeckt wurden, und Angola, dessen massenhafte Ölreserven es auf eine Stufe mit Nigeria stellen, Afrikas größtem Ölproduzenten. Selbst São Tomé e Príncipe, ein winziger, kaum bekannter, ehedem portugiesischer Inselstaat, könnte an der Schwelle zu einem gewaltigen Ölsegen stehen, was die Wirklichkeit der beiden tropischen Eilande für immer verändern würde.
Es ist seltsam: Je öfter Angola in den Schlagzeilen auftauchte, desto größer wurde meine Entschlossenheit, herauszufinden, was sich dahinter verbarg. Es gibt, oder besser gab, eine wundervolle, wenn auch etwas feuchtkalte Bibliothek am Londoner Belgrave Square, wo jeder mit dem entsprechenden Interesse in die misslichen iberischen Abenteuer der Weltgeschichte eintauchen konnte. The Hispanic and Luso-Brazilian Council Library wurde mit dem kleinstmöglichen Budget betrieben, und ich rechnete sie in meinem Empfinden den Bibliotheken einer anderen Zeit zu, die von Luft und Liebe, sprich: intellektuellem Bestreben lebten. Traurigerweise hatten solche Orte im krisengeplagten England ihre Unantastbarkeit verloren, ihre Zeit lief aus.
Die Bibliothek am Belgrave Square schien das geistige Zuhause einer merkwürdigen Gruppe altmodischer Intellektueller zu sein, uralter chilenischer Aktivisten, eines goanischen Dichters, der auf sein königliches Portugiesisch stolz war, und einer geheimnisvollen kolumbianischen Erbin, die mitunter die Telefone abdeckte. Sich in die Bibliothek verirrende Schulklassen spotteten über das Fehlen des Internets und anderer moderner Errungenschaften. Aber genau diese Bibliothek brachte mir Angola näher, und über einige Monate genoss ich ihre Schätze und las alles, was ich über das Land, das portugiesische Seereich und die Auswirkungen des Kalten Krieges auf Afrika finden konnte. Meine Faszination für das ferne Angola wuchs immer noch mehr.
Man muss nur anfangen, sich über Angola zu informieren, um festzustellen, dass es eines der einzigartigsten und fesselndsten Länder ist, die man besuchen kann. Seine (Vor-) Geschichte ist angenehm weit entfernt vom Getue und Gewese der Wirtschaftsseiten. Angola war einmal ein Land der Piraten und Sklavenhändler, der Kapuziner und Missionare, früher synkretistischer christlicher Kulte und kunstvoller Geistermasken. Heute ist es die Heimat einer enormen Rassenvielfalt, auserlesener Art-déco-Architektur, eines hochfliegenden Idealismus und tödlichen Zynismus. Angola ist das Land, in dem Beatriz Kimpa Vita im frühen 18. Jahrhundert fast die Fremdherrschaft stürzte, indem sie durch São Salvador lief und behauptete, die Inkarnation des Heiligen Antonius von Padua zu sein. Ein Jahrhundert früher hätte die Armee Königin Nzingas die Portugiesen fast ins Meer getrieben. Später dann spielten der sozialistische Osten und der kapitalistische Westen ideologische Kriegsspiele, die das Land so gut wie auslöschten. Angola hat womöglich mehr Geschichte, als ein Land verdient.
In der Bibliothek am Belgrave Square lernte ich auch Rui kennen, einen Journalisten und Dichter aus einer wichtigen Umbundu-Familie, der sein Leben in Opposition zur herrschenden Partei Angolas verbracht hatte. Er karikierte, analysierte und schikanierte die Regierung in ihrer wahnsinnigen Kauforgie hinaus aus dem Krieg und hinein in das, was sie Demokratie nannte. Rui war rundlich und hatte etwas von einem Teddybär mit dem vagen Auftreten des englischen Akademikers einer lange vergangenen Zeit, bis hin zu den langgezogenen Vokalen. Rui war hochintelligent und hatte für Kriegsherren im Busch gedolmetscht.
Als ich ihn kennenlernte, trug er ein Exemplar von Caras mit sich herum, Angolas Version von OK!, deren glitzernde Starlets immer genug Stoff für eine Geschichte produzieren. In einem anderen Leben wäre Rui vielleicht Schauspieler geworden. Er war eine unverbesserliche Klatschtante und ein geborener Imitator, der aufs Wunderbarste die Tonfälle der Präsidenten-Mätressen und den aufgeblasenen Überschwang der Begleitkommentare im angolanischen Fernsehen nachahmte. Wenn er aus Angolas Hauptstadt Luanda nach London kam, sprudelten die pikanten Geschichten über die Superreichen seines Landes nur so aus ihm heraus. Alle sollten hören, was er über die gewieften Medienmogule, die Geschäftemacher und Ölmagnaten zu erzählen hatte, die den Reichtum des Landes auf ihre Bankkonten lenkten. Angolaner mit den entsprechenden Möglichkeiten waren der Gier verfallen.
Rui beschrieb eine Welt anmaßender Exzesse, mit Stretch-Landcruisern und juwelenbedeckten »Öl-Frauen«, die nach Lissabon zum Platinum-Card-Shopping fuhren, eine Welt, in der angolanische Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen europäische Güter zusammenrafften wie neureiche Nachbarn beim Hinterhofverkauf. »Sehen Sie sich den an«, mokierte er sich und deutete auf das Foto eines grinsenden angolanischen Geldsacks in der Zeitschrift. »Sie würden nicht glauben, wie groß sein Anwesen ist. Er hat eine Statue, die echten Champagner pinkelt.« Oder, ein paar Seiten weiter: »Und der hier hat seinen eigenen belgischen Konditor hinter sich herlaufen.« Rui lachte sein trockenes Lachen und erinnerte sich an die eine oder andere Party. Sie beherrschten die Schlagzeilen, diese Öl-Frauen und neuen Aristokraten, dieser »umgekehrte Neokolonialismus«.
Wen kümmern schon die Erfolge der nationalen Energiegesellschaft, klagte Rui, wo doch nur wenige Angolaner daran beteiligt sind? Manchmal wurde er melancholisch. Was war aus dem Angola der gütigen Großväter geworden, der guten Feste und des Kizomba-Tanzes? Die Veränderungen machten ihn fassungslos. Wollte denn tatsächlich niemand mehr die von Nebelschleiern umspielten Berge des zentralen Hochlandes sehen, die üppigen Wälder im Norden? Wollte niemand mehr den Fisch und die Meeresfrüchte essen, wie es sie früher in den Lokalen am Strand gegeben hatte, zu erschwinglichen Preisen? Nein, die Leute wollten nur noch mit ihren Luxuswohnungen protzen und damit, wie ihr neuer Ölstaat die Welt eroberte.
»Die Ausländer kaufen in ihrem Hotel in Luanda ein absolut abscheeeuuuliches Club-Sandwich für 40 Dollar«, verkündete er staunend, »und haben keine Ahnung, dass sie gleich um die Ecke bei Dona Ana das Köstlichste überhaupt serviert bekommen, und das auch noch mit einem Lächeln, ja, würzige calulu de peixe in einer...