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E-Book

Die Kunst der Benennung

AutorMichael Ohl
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl317 Seiten
ISBN9783957571342
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, führt Hitler einen ganz persönlichen Kampf: den Kampf für die Spitzmaus. Biologen, die sich erdreistet hatten, dem irrtümlich als 'Maus' bezeichneten Tier einen anderen Namen zu verpassen, drohte er mit einem Arbeitseinsatz an der Ostfront. Um die richtigen Namen für die Natur wird - wenn auch weniger dramatisch - seit jeher gerungen. Entgegen der ausgefeilten Systematik der Tierkategorisierung unterliegt die Namensgebung selbst der Freiheit des Entdeckers und gestaltet sich entsprechend kunstvoll wie kontrovers. Doch wie passt das mit dem Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaft zusammen? In einer unterhaltsamen Expedition durch die Geschichte der Naturkunde, durch Museen und Wildnis, eröffnet uns Michael Ohl eine eigentümliche, faszinierende Sprachwelt, die sich von volkstümlichen Bezeichnungen über die Systematisierung bei Linné bis hin zur Genetik stetig weiterentwickelt hat. Er erzählt die Geschichte von waghalsigen Abenteurern und sammelwütigen Sonderlingen und erkärt, warum der Maulwurf sein Maul bei sich behält und das Murmeltier pfeift und nicht murmelt. Mit diesem Verständnis des sinnlichen Wechselspiels von Kultur und Natur können wir begreifen, warum die 'Diva unter den Pferdebremsen' mit goldenem Hinterteil den Namen von Beyoncé trägt, und was es mit der merkwürdigen Art 'Homo sapiens' auf sich hat.

Michael Ohl, geboren 1964, ist Biologe am Museum für Naturkunde Berlin und Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht über Themen der Evolutionsbiologie, Systematik und Taxonomie sowie der Wissenschaftsgeschichte.

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Leseprobe

Hitler und die Fledermaus


Kapitel 1


In der Berliner Morgenpost vom 3. März 1942 stand an einer ziemlich unauffälligen Stelle eine kleine Meldung mit einer recht merkwürdigen Schlagzeile. »Nicht mehr Fledermaus!« versprachen fettgedruckte Lettern. Darunter laß man folgenden kurzen Text:

»Die Deutsche Gesellschaft für Säugetierkunde hat bei ihrer 15. Hauptversammlung beschlossen, die zoologisch irreführenden Namen ›Spitzmaus‹ und ›Fledermaus‹ abzuändern in ›Spitzer‹ und ›Fleder‹. (Fleder ist eine alte Form für Flatterer.) Die Spitzmaus führte übrigens eine Vielfalt von Namen: Spitzer, Spitzlein, Spitzwicht, Spitzling. Während der Tagung wurden im Hörsaal des Zoologischen Museums verschiedene wichtige Vorträge gehalten […].«

Ob diese kurze Notiz dazu geführt hat, dass zumindest die Leser der Berliner Morgenpost die in Berlin allgegenwärtigen Fledermäuse zeitweilig »Fleder« nannten, sei dahingestellt. Fledermaus ist sicherlich auch bis heute die übliche Bezeichnung für die einzigen hiesigen fliegenden Säugetiere und gehört wie auch die »Spitzmaus« zum allgemeinen deutschen Wortschatz. Selbst in Wörterbüchern oder fachspezifischeren Naturführern sind weder Fleder noch Spitzer zu finden (sieht man einmal von einem »kleinen Gerät zum Spitzen von Blei- und Buntstiften« ab). Es scheint beinahe so, als ob diese von den führenden deutschen Spezialisten für Säugetiere ausgerufene Namensänderung gänzlich ungehört den Weg vieler Zeitungsmitteilungen gegangen ist: Sie geriet in Vergessenheit.

Allerdings gab es bereits einen Tag nach dem Erscheinen der Notiz eine unmittelbare Reaktion von unerwarteter Seite. Martin Bormann, der Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP, sandte am 4. März 1942 in seiner Funktion als Privatsekretär Adolf Hitlers eine Mitteilung an Hans Heinrich Lammers, den Chef der Reichskanzlei, in der er eine bemerkenswert unzweideutige Anweisung Hitlers überbrachte:

»In den gestrigen Zeitungen las der Führer eine Notiz über die Umbenennungen, die von der Gesellschaft für Säugetierkunde anläßlich ihrer 15. Hauptversammlung beschlossen wurden. Daraufhin beauftragte mich der Führer, den Verantwortlichen mit wünschenswerter Deutlichkeit mitzuteilen, die Umbenennungen seien umgehend rückgängig zu machen. Wenn die Mitglieder der Gesellschaft für Säugetierkunde nichts Kriegswichtigeres und Klügeres zu tun hätten, dann könne man sie vielleicht einmal längere Zeit in Baubataillonen an der russischen Front verwenden. Wenn derartig blödsinnige Umbenennungen noch einmal erfolgten, würde der Führer unbedingt zu entsprechenden Maßnahmen greifen; keinesfalls solle man Bezeichnungen, die sich im Laufe vieler Jahre eingebürgert hätten, in dieser Weise abändern.«

Es steht außer Frage, dass diese wenig missverständliche Aufforderung von den »Verantwortlichen« begriffen und umgesetzt wurde. Zumindest erschien bereits am 1. Juli 1942 im Zoologischen Anzeiger, zur damaligen Zeit das »Organ der Deutschen Zoologischen Gesellschaft« ein nur fünf Zeilen umfassender Hinweis. Die Notiz ist nicht namentlich gekennzeichnet und geht wohl auf die Herausgeber des Zoologischen Anzeigers zurück:

»Zu der [in vorherigen Heften des Zoologischen Anzeigers] geführten Diskussion über etwaige Änderung der Namen ›Fledermaus‹ und ›Spitzmaus‹ teilt die Schriftleitung mit, daß laut Mitteilung des Herrn Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung aufgrund einer Anordnung des Führers Bezeichnungen, die sich im Laufe vieler Jahre eingebürgert haben, nicht abzuändern sind.«

Es ist denkbar, dass Lammers diese über Bormann an ihn herangetragene Anweisung Hitlers an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, weitergeleitet hat. Rust hatte dann vermutlich einen der »Verantwortlichen« dieser unerwünschten Initiative aufgefordert, an geeigneter Stelle eine entsprechende Korrektur zu veröffentlichen. Dafür bot sich der Zoologische Anzeiger an, da dort bereits 1941 in zwei Artikeln diskutiert wurde, ob der Name Spitzmaus zu ändern sei.

Was ist nun aber das Problem, das gestandene Wissenschaftler mit den Spitzmäusen und Fledermäusen haben? Und wie kommt es, dass sich ein Adolf Hitler, dessen folgenreiche Welteroberungspläne ihn 1942 sicherlich voll ausfüllten, persönlich für die korrekte Benennung einiger kleiner Säugetierarten einsetzte?

Der Stein des Anstoßes bei diesen beiden unscheinbaren und vertrauten Bezeichnungen ist die »Maus« als zweiter Wortbestandteil. Diesen Teil eines Kompositums, also eines zusammengesetzten Substantivs, nennt man in der deutschen Grammatik das Grundwort oder Determinatum. Das immer am Schluss befindliche Grundwort legt dabei die Hauptbedeutung sowie das grammatikalische Geschlecht des zusammengesetzten Wortes fest. Das links vom Grundwort stehende Wort, das Bestimmungswort oder Determinans (es können auch mehrere Wörter sein), bestimmt die Bedeutung des Grundwortes genauer. So ist ein Wandschrank zuallererst einmal ein Schrank, dem die genauere Bestimmung beigegeben wird, an der Wand zu hängen. Bei unseren Mäusen ist also eine Gelbhalsmaus in erster Linie eine Maus. Mäusearten gibt es viele, sodass eine artgenaue Benennung einen einschränkenden oder modifizierenden Wortanteil braucht. Da diese Art eine gelbliche Halsfärbung besitzt, präzisiert man die allgemeine Bezeichnung Maus durch den davorgesetzten Bestandteil, sodass eine eindeutige Bezeichnung für eine ganz bestimmte Mäuseart, die Gelbhalsmaus, entsteht.

Ganz entsprechend verfährt man üblicherweise mit den Fledermäusen und den Spitzmäusen, die (sprachlich) zuallererst einmal Mäuse sind. Durch den Verweis auf bestimmte Charakteristika im zusammengesetzten Wort (Fleder kommt von Flattern, Spitz verweist auf die spitze Nasenbeziehungsweise Kopfform) wird eine eindeutige Benennung ermöglicht (zumindest fast eindeutig, da es mehrere Fledermaus- und Spitzmausarten gibt, aber dazu später mehr). Beide Namen implizieren also die Zugehörigkeit zu den Mäusen, und hier liegt der zoologische Hase im Pfeffer. Mäuse im zoologischen Sinn sind eine Gruppe von Nagetieren, die man auf einer höheren Ebene der Klassifikation als Muroidea oder Mäuseartige bezeichnet. Zu ihnen gehören recht verschiedene Tiergruppen mit teils wunderlichen Namen wie Blindmulle, Stachelbilche und Mähnenratten, aber auch unsere heimischen Hamster und die uns vertrauten Mäuse und Ratten. Gemeinsam sind allen Mäuseartigen allerlei recht komplexe Merkmale im Schädelbau und natürlich die den Nagetieren typischen vergrößerten, ständig nachwachsenden Nagezähne. Auch wenn es darüber hinaus verschiedenste evolutive Spielereien rund um dieses Mäusemotiv gibt (lange oder kurze Beine, verschiedene Fellfarben und Schwanzlängen und vieles mehr), sind doch die meisten Mäuseartigen auch ohne biologische Fachkenntnis ohne Weiteres als Maus in einem ganz vagen Sinne erkennbar. Zoologisch gesehen reicht der Tatbestand einer gewissen mäusehaften Erscheinung nicht aus, um die Mäuseartigen zu kennzeichnen. Stattdessen müssen die besonderen anatomischen Schädelmerkmale herhalten. Die Grundidee der biologischen Systematik ist dabei recht einfach und einleuchtend. Im Lauf der Evolution haben Tier- und Pflanzenarten neue Merkmale entwickelt und an ihre Nachfahren weitergegeben. Übereinstimmungen zwischen heute lebenden Arten können also Indizien dafür sein, dass diese Arten auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, von dem sie diese Merkmale übernommen haben. Die Ähnlichkeit zwischen diesen Arten ist also das Ergebnis eines Evolutionsereignisses, das tief in der Vergangenheit liegt und nur indirekt als wissenschaftliche Hypothese erschlossen werden kann. Gruppierungen von Arten, für die man den Nachweis führen kann, dass sie auf eine nur ihnen gemeinsame Stammart zurückgehen, und ein System der Organismen, das nur solche Gruppen enthält, nennt man »natürlich«. Dem stehen künstliche Gruppen und künstliche Systeme gegenüber, bei denen die Zusammengehörigkeit der Arten durch Übereinstimmungen begründet wird, für die gezeigt werden kann, dass sie nicht als evolutive Neuerung einmalig bei der letzten gemeinsamen Stammart entstanden sind. Ein natürliches System der Organismen repräsentiert also den wahrscheinlichen Verlauf der Evolution, eine künstliche Klassifikation dagegen eine ganz willkürliche Vorstellung des Menschen über eine sinnvolle Gruppierung der Arten. Die heutige biologische Systematik strebt in der Regel die Rekonstruktion des natürlichen Systems der Organismen an.

Verkompliziert wird die Rekonstruktion des Systems der Organismen dadurch, dass die Evolution nicht selten eingeschlagene Wege unvorhersehbar verlässt. So passiert es manches Mal, dass einmal erworbene Merkmale bei späteren...

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