1
ZUHAUSE
Musik im Blut. Musik im Haus und auf den Feldern. Musik in der Luft, in den Liedern der Vögel, die am klaren blauen Himmel über Texas flogen, im Rauschen des Windes und des Regens. Musik im Herzen meines Vaters, eines feinen Fiddlers, und meiner Mutter, die hübsch singen konnte und die erst meine Schwester Bobbie, das musikalische Wunderkind, und dann zwei Jahre später mich zur Welt brachte.
Meine Mutter hieß Myrle und war eine Dreiviertel-Cherokee. Sie war mit meinem Vater Ira und dessen Eltern, Alfred und Nancy, aus dem bitterarmen Arkansas nach Abbott in Texas gekommen, wo der Boden fruchtbar war und das Ackerland ein gewisses Maß an Hoffnung bot.
Als ich am 29. April 1933 geboren wurde, war Hoffnung ein seltenes Gut. Die Weltwirtschaftskrise hatte das Land schwer getroffen. Als Erwachsener wurde mir klar, dass ich während einer der finstersten Phasen der amerikanischen Wirtschaft aufgewachsen war. Aber das erfuhr ich nur aus Büchern. Das Leben lehrte mich etwas völlig anderes. Was es mich lehrte, war Liebe. Denn wie die Musik war auch die Liebe überall, wohin ich mich wendete, und alles, was ich empfand. Im Grunde waren Musik und Liebe für mich dasselbe, denn ein Lied zu spielen oder zu singen versetzte mich immer in eine liebevolle Stimmung.
Myrle und Ira hatten mit sechzehn geheiratet. Sie ließen sich scheiden, als ich ein halbes Jahr alt war. Zwar hatten sie Bobbie und mir das Leben geschenkt, aber offenbar waren sie nicht füreinander geschaffen.
Myrle war eine Greenhaw, aus einer großen Familie, die über Arkansas und Tennessee verstreut lebte und zu der eine ganze Reihe von Schwarzbrennern und Musikern zählte. Meine Mutter hatte zweifellos etwas Wildes an sich, etwas Exotisches, was zur Folge hatte, dass man sie in Texas für eine Mexikanerin und in Oklahoma für eine Indianerin hielt. Sie war Croupière, Tänzerin, Kellnerin, eine Frau, die das Abenteuer suchte und die Freiheit liebte.
Iras Familie stammte aus den Ozark Mountains, und er wuchs unter Engländern und Iren auf, die ihre alten Traditionen des Geschichtenerzählens, der Volkslieder und des Fiedelns pflegten. Mein Vater war ein guter Fiddler, aber ein noch viel besserer Mechaniker. Irgendwann wurde er sogar Chefmechaniker der Frank Kent Ford Company in Fort Worth. Er war weit weniger vom Fernweh getrieben als meine Mom, und es genügte ihm völlig, sich durch die Honky-Tonks im Norden von Texas zu fiedeln.
Man sollte meinen, das Fehlen von Mutter und Vater würde bei kleinen Kindern wie Bobbie und mir emotionale Schäden hinterlassen. Nun, ich kann nur sagen, dass das nicht der Fall war. Es war nicht der Fall, weil meine Großeltern – die wir Mama und Daddy nannten – für uns sorgten. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatten sie die Verantwortung übernommen. Und neben Bobbie und mir kümmerten sie sich außerdem um unsere ältere Cousine Mildred. Sie widmeten uns ihr ganzes Leben. Ich kann nur sagen: Mich haben sie total verwöhnt.
Da war ich nun also, mitten in der Weltwirtschaftskrise, mitten in Hill County, Texas, in diesem winzigen Ort namens Abbott mit nicht mehr als vierhundert Einwohnern, siebzig Meilen südlich von Dallas und dreißig Meilen nördlich von Waco. Die nächstgelegenen Städte waren West mit dreitausend Einwohnern, sechs Meilen südlich, und Hillsboro mit achttausend Einwohnern, zwölf Meilen nördlich.
Nun mag es sich so anhören, als wäre ich am Steiß der Welt geboren, aber für mich fühlte es sich an wie der Nabel der Welt. Ich hatte das Glück, in ein musikalisches Wunderland hineingeboren zu werden, das die unterschiedlichsten Arten von Musik zu bieten hatte. Mein Herz füllte sich mit Melodien, und ich war begeistert von den Rhythmen – womöglich denselben Rhythmen, die meinen Vater und meine Mutter dazu gebracht hatten, bei Nacht und Nebel zu verschwinden, Rhythmen, die auch mich schon bald in die Welt hinaustreiben sollten. Damals jedoch hielt mich die Musik vor allem zu Hause, weil die Musik bei uns – im Haus von Mama und Daddy Nelson – eine solche Bedeutung hatte. Hier wurde Musik nicht nur gespielt, sondern auch unterrichtet.
Ich bin dankbar, im Herzen von Texas aufgewachsen zu sein, in der Obhut liebevoller Großeltern, die darüber hinaus auch noch begeisterte Musiklehrer waren. Ich staune immer wieder, wenn ich daran denke, wie groß die Leidenschaft der beiden für Musik war. Diese Leidenschaft gaben sie an Bobbie und mich weiter. Sie vermittelten uns, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Musik zu machen.
Bobbie war schon in jungen Jahren musikalisch sehr weit fortgeschritten. Ich hing etwas hinterher – und tue das noch heute. Bobbie ist eine echte Musikerin, die mit Leichtigkeit in jedem Stil zu Hause ist. Sie lernte schnell, vom Blatt zu spielen, und war in ganz Hill County als Wunderkind bekannt.
Es hatte viel damit zu tun, dass sich meine Großeltern Liederbücher aus Chicago kommen ließen. Die Notenschrift nannte sich Shape Notes – jeder Ton der Tonleiter hatte sein eigenes Symbol. Viele Kirchen verwendeten diese Methode, damit die ganze Gemeinde mitsingen konnte. Mama und Daddy Nelson waren in erster Linie Kirchenmusiker.
Unsere Kirche war die Abbott United Methodist Church, aber es gab auch Gemeinden der Baptisten, der Katholiken und der Mormonen, alle ganz nah beieinander. Die Kirchgänger mögen unterschiedlicher Meinung dazu gewesen sein, wer den besten Draht zu Gott hatte, aber ich kann mich beim besten Willen an keinen einzigen Tag erinnern, an dem unter den Christen in Abbott Uneinigkeit geherrscht hätte. Jeder ging auf eigene Weise seinen religiösen Gebräuchen nach.
Unsere kleine Kirche war von Liebe erfüllt. Diese Liebe wurde mir zuallererst durch die Women’s Missionary Society zuteil, die beschloss, mich im Alter von nur sechs Monaten zu taufen und damit zu ihrem lebenslangen Mitglied zu machen. Demnach war es Gottes Wille, dass aus diesem Kind eines Tages ein Missionar werden würde. Nun, ich habe schon früh im Leben meine Mission gefunden, eine musikalische Mission, die in dieser Methodistenkirche geboren wurde. Wenn man den Begriff des Missionars etwas weiter fasst (und das tue ich), dann scheint es mir, als hätte sich diese Prophezeiung erfüllt.
Als Kind war ich gläubig und bin es auch heute noch. Nie habe ich an der moralischen Botschaft Jesu gezweifelt, und auch nicht an den Wundern, die er getan hat. Für mich sind seine Gegenwart auf Erden und seine Wiederauferstehung Ereignisse, die den Weg der Menschheit verändert und uns auf den heilenden Pfad der Liebe geführt haben. Im Laufe der Jahre hat sich mein Glaube an Jesus Christus unter dem Einfluss anderer Philosophien weiterentwickelt. Das Fundament meines Glaubens jedoch wurde in dieser kleinen Dorfkirche gelegt, in der wir Hymnen sangen wie »Amazing Grace« und »Just as I am » und »He Walks with Me«.
Ich wusste nicht, dass diese Lieder schon vor Jahrhunderten in fremden Ländern entstanden waren. Für mich klangen sie neu und frisch wie der Mais und die Baumwolle auf den Feldern draußen vor der Kirche. Diese Lieder erwuchsen aus dem fruchtbaren Glauben, von dem auch Mama und Daddy Nelson erfüllt waren. Wenn die kleine Bobbie mit ganzer Seele Klavier spielte, wurde der Kirchgang für mich nicht nur zum Vergnügen, sondern verschaffte mir außerdem Zugang zu einem musikalischen Ausdruck, der mir mein Leben lang erhalten geblieben ist.
Allerdings konnte die Kirche meine ungestüme, rastlose Seele nicht bändigen.
Mama Nelson musste den kleinen Willie auf dem Hof an einen Pfahl binden, damit er nicht weglief. Keine Ahnung, wohin ich gelaufen wäre, wenn ich gekonnt hätte, aber ich war schon immer besonders neugierig. Ich wollte einfach wissen, was sich hinter der nächsten Kurve verbarg.
Die Methodistenkirche lehrt, dass man nicht vom rechten Weg abkommen darf. Trinken und Rauchen galten damals als Erste-Klasse-Tickets zur Hölle, und auch wenn ich die Mahnung wohl hörte, hatte ich doch schon als kleiner Junge nie Angst vor dem Höllenschlund. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich davor gefürchtet hätte, mal kurz vom rechten Weg abzukommen. Meine angeborene Neugier war größer als alle Frömmigkeit.
Mein erster Streifzug aus der kleinen Welt von Abbott raus in die weite Welt von Texas führte mich per Fahrrad nach West, das sechs Meilen entfernt lag und sich einer großen tschechischen Gemeinde erfreute. Die Leute hatten einen lustigen Akzent, besuchten die katholische Kirche und tranken gern Bier. Ich war fasziniert von diesen Menschen, die einen Ozean überquert hatten und auf allen möglichen Irrwegen in Hill County gelandet waren.
Ich war fasziniert davon, auf der Welt zu sein – fasziniert vom Rhythmus des Lebens unter dem weiten texanischen Himmel, wo es die erstaunlichsten Sachen zu sehen gab – Egreniermaschinen, von Pferden gezogene Pflüge, endlose verdorrte Felder im Sommer und blühende Wiesen im Frühling.
Noch Erstaunlicheres sah ich auf der Kinoleinwand in West – eine noch größere Welt, deren Helden mehr als nur Männer mit weißen Hüten waren, die schnell schossen und Bösewichter schnappten. Es waren Männer, die Gitarren in den Armen hielten und die Sterne vom Himmel sangen. Sie kamen durchs Leben, indem sie dessen dunkle Seite einfach wegsangen. Und obwohl sie echte Kerle waren, die keinen Viehdieb fürchteten, sangen sie doch sanft und stolz und selbstbewusst. Ich begriff, dass ein Cowboyheld ein Romantiker ist, der das Leben liebt, mit einem Lied auf den Lippen, einem kernigen Kumpanen und einem treuen Pferd, auf dessen Rücken er die Straße des Lebens...