Prolog
Schreiben ist etwas Wunderbares. Schreibend kann man Welten entwerfen, Pläne schmieden, Nachrichten hinterlassen. Schreibend kann man erzählen von dem, was war und von dem, was kommen soll. Schreiben ist Magie. Es stellt nie gesehene Landschaften her und es bewahrt Weisheiten, die drohen, in Vergessenheit zu geraten.
Schreibend kann man Kontakt mit der ganzen Welt aufnehmen, wie viel leichter ist das heute als zu Zeiten, in denen die Schrift erst entstand!
Schreibend kann man aber auch Kontakt zu sich selbst aufnehmen, mehr noch, man kann sich schreibend selbst entdecken. Und schreibend kann man sich sogar begleiten auf einem Weg, der einen selbst immer mehr in Erscheinung treten lässt. Schreibend kann man sich selbst zum Leitstern werden. Dass ich dies entdeckte, ist viele Jahre her und es geschah mithilfe eines Traumes. Damals war ich jung, schmal und das, was man ein verletztes Wesen nennen kann. Meinen Verletzungen nicht zu erliegen, hatte ich bereits beschlossen, aber der Weg der Heilung sollte ein langer, ein schwieriger sein. Vermutlich gehe ich ihn sogar noch immer.
Meinen Beruf hatte ich zu der Zeit schon an den Nagel gehängt, ich hatte fristlos einen festen Angestelltenjob gekündigt, meine junge Ehe ebenso forsch verlassen, doch den eigentlichen Anlass für all das, den Wunsch, Autorin werden zu wollen, wagte ich kaum vor mir selbst auszusprechen. Stattdessen hatte ich zunächst die Welt bereist, versucht, allerorten Gutes zu tun, immer war ich mit einem Auftrag unterwegs – mich für andere zu engagieren schien doch einfacher zu sein, als selbiges für mich zu tun.
Ich lebte mit einem Freund, der sein gut gemeintes Mitleid vor sich hertrug, es erniedrigte eher als dass es mich stärkte, und dennoch lebten wir zusammen. Wir engagierten uns, kämpften für das, was wir für gerecht und richtig hielten, wir eiferten unseren Idolen nach, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, siezten uns zwischendurch sogar wie das berühmte Paar, lasen die Bücher der Anarchisten und tranken den Kaffee schwarz und ohne Zucker.
Mein Zimmer war schön, mein Leben begrenzt. Die Texte, die ich schrieb, litten an ihrer Kürze, aus mir wollte einfach nichts heraus. Und doch hätte das alles noch lange so weitergehen können, wäre da nicht dieser wehmütig gebundene Schmerz gewesen, der von anderem wusste, von Größerem, Tieferem, von Freiheit. Von mir selbst.
Und dann kam dieser Traum, ein eher unspektakuläres Gebilde, gemessen an den Geschichten, die mir meine Seele sonst erzählt:
Im Traum sah ich mich am Rande eines Zeltlagers an einer Kochstelle hocken. Ich rührte langsam und mit Bedacht in einem Kessel, der über dem offenen Feuer hing. Um mich her lagerten noch andere Menschen, die Stimmung war friedlich, das Leben schlicht und aufgeräumt. Ich musste wohl schon lange dort gewesen sein, so jedenfalls fühlte es sich an. Doch dann hob ich den Kopf, so wie es nur im Traum geht, als täte ich es das erste Mal, und ich sah, dass wir unmittelbar am Rand eines Deiches lagerten, auf dessen Kuppe ein Weg verlief. Auf diesem Weg zogen unzählige Menschen vorbei. Jetzt erst bemerkte ich es und indem ich es bemerkte, wurde mir bewusst, dass es schon immer so gewesen war. Die Stimmung auf dem Deich war ebenfalls ruhig und friedlich. Jung und Alt gingen dort, Groß und Klein, Menschen aller Haut- und Haarfarben, sie trugen einfache Kleidung und sie trugen kostbare Kleidung. Und sie taten nichts als das, sie gingen. Sie schritten voran.
Ich erwachte. Und auch wenn dieser Traum nur wenig erschütternd wirken mag, ich war erschüttert. Zutiefst. Alles in mir bebte, ich weinte fürchterlich und vertraute mich nach Stunden des nicht enden wollenden Schmerzes einer Freundin an. Diese Freundin war Musiktherapeutin und befand sich zum damaligen Zeitpunkt in einer psychoanalytischen Lehranalyse. Sie hatte also in jeder Hinsicht ein offenes Ohr. Ich erzählte ihr von dem Lager, in dem ich mich befunden hatte, von dem Weg und von den vielen Menschen, die auf ihm gingen. Sie sah mich nur kurz an und lachte dann laut auf: »Ja«, sagte sie, »ich frag mich auch schon lange, was du am Wegrand machst. Worauf wartest du noch?«
Ich war fassungslos. Denn mein Bild von mir war das einer Frau, die doch schon wagemutig und verwegen einen großen Schritt in ihrem Leben getan hatte, die doch immer aufstand: für Gerechtigkeit, gegen Atomkraft, für Frieden, für die Frauenrechte, für andere.
Aber nicht für mich selbst.
Ich verstand augenblicklich.
Und dann erhob ich mich und das mache ich bis heute.
Dieses Buch ist für all diejenigen, die aufstehen wollen, die sich erheben wollen, die den Lagerplatz vertrauter Sicherheit und des Bekannten verlassen und ebenfalls voranschreiten, die den Weg gehen wollen.
Es ist ein Weg, der nach innen führt, zu unserem Selbst, zu dem oder zu der, die wir eigentlich sind, jenseits von Zuschreibungen, ein Weg der Selbstentfaltung, auf dem wir uns zeigen lernen mit allem, was uns innewohnt, leuchtend, zart, kraftvoll, zerbrechlich, schön und durch und durch lebendig. Es ist der Weg in die Freiheit. Er endet nie. Doch je länger man ihn geht, desto leuchtender, weiter, größer wird diese Freiheit, desto schöner wird die Landschaft, die man durchschreitet, desto erhabener werden die Ausblicke und desto größer wird die Würde derer, die ihn gehen.
Der Weg ist anspruchsvoll, manchmal muss man sich zwischendurch wieder hinsetzen und ein wenig ausruhen, doch dieses Ausruhen ist ein anderes als das lange Abwarten zu Beginn der Reise. Wer je bewusst begonnen hat, den Weg zu gehen, der geht ihn weiter. Ein Zurück gibt es nicht. Wer den Weg der Selbstentfaltung geht, der entfaltet sich. Wer sich ins Leben schreibt, der schreibt selbst und wird nicht länger be-schrieben. Und wer sein Leben schreibt, der wird vom Opfer seiner Geschichte zu deren Schöpfer.
Ich habe mich ins Leben geschrieben und bin den Weg der Selbstentfaltung gegangen und ich gehe ihn immer noch. Das Schreiben ist eines meiner größten Hilfsmittel, mehr noch, es war und ist mein Begleiter. Es verleiht mir Ausdruck und Halt, es bietet mir Entdeckungen und Einsichten, wie man sie nur im kreativen Tun machen und erlangen kann. Von Anfang an kamen aber auch andere Helfer hinzu, Meister und Meisterinnen, Lehrer und Lehrerinnen. Ich habe sie gesucht, sie haben mich gefunden. Begegnungen, vom Shaolin-Mönch zur Mystikerin, vom Zen-Priester zur Auschwitzüberlebenden, vom Quantenphysiker zu den Dichtern, Künstlern, Autoren, zu meinen Kindern und Partnern. Natürlich brachten mich auch die Bücher weiter. Das Leben war mein größter Lehrmeister, die Lektionen waren heftig, der Tanz zum Teil recht wild. Und immer war da die Sprache, die mir half zu begreifen und das Begriffene auszudrücken.
Mein Leben als Autorin, Journalistin, als Mutter und Frau, meine christliche Herkunft und meine mehr als drei Jahrzehnte lange, zum Teil recht intensive Praxis in Meditation und innerer Einkehr, die Unterweisungen in den verschiedenen Weisheitstraditionen – all das verschmolz dabei miteinander. Und das war und ist gut so. Mit Beliebigkeit hat diese Erfahrung nichts zu tun. Im Gegenteil. Etwas in mir wurde dabei immer genauer und zugleich offener und weiter. Mein Interesse galt parallel zum sogenannten spirituellen Weg immer auch, ja sogar überwiegend, dem Weg des Künstlers, dem kreativen Prozess mit all seinen spezifischen Abläufen.
Die damit verbundenen Fragen treiben mich bis heute um: Wie entsteht Neues? Woher kommt ein Musikstück – zuvor noch nie erklungen; ein Bild – in Form und Farbe einzigartig; ein Roman – woher kommt diese Geschichte, und wieso hat seine Sprache diesen einzigartigen Klang? Ein Garten – wie nimmt er Gestalt an? Wie entfaltet sich eine Idee und wie materialisiert sie sich? Welche Bedingungen braucht das Neue und welche Bedingungen brauchen wir, um neu zu werden?
Auf all den Wegen, die Freiheit und Erkenntnis allein im Innen suchen, in der Stille, mit den Methoden der Kontemplation, der Meditation, in Abgeschiedenheit und Einkehr, beobachtete ich bei den Praktizierenden immer wieder einen Mangel an gelebter Umsetzung. Aber geht es nicht genau darum, die Erkenntnis im eigenen Leben auch anzuwenden, die Veränderung auch in die Welt zu tragen?
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass Innen und Außen nichts Getrenntes sind, sondern sich im ständigen Austausch gegenseitig bedingen und verwandeln und dass deshalb der Ausdruck von Freiheit ein kreativer, ein schöpferischer, ein künstlerisch das Leben gestaltender ist. Dem Werden Ausdruck verleihen, das Neue in Bewegung setzen, die Schönheit feiern, das ist Menschsein.
In diesem Prozess war und ist für mich das Schreiben die Konstante. Meine Geschichte, mich in Worte zu fassen, vor allem aber, die Erfahrung des Weges in Worte zu fassen, das war mein »Fahrzeug«, wie es die Buddhisten nennen würden, pragmatisch kann man sagen: meine Methode. Ich nenne es gerne »mein Leitstern«. Und tatsächlich wurde ich auf diese Weise mir selbst zum Leitstern.
Mich ins Leben zu schreiben bedeutete, das Trauma meiner Kindheit, den jahrelangen Missbrauch, zu überwinden; es bedeutete, die Erfahrung der Ausgrenzung, Verachtung, tiefen Verunsicherung hinter mir zu lassen und auch die Stigmatisierung als Opfer abzulegen. Denn etwas in mir wusste von Anfang an, dass mir zwar Schreckliches geschehen war, ich aber dennoch nicht auf das Geschehene zu reduzieren war. Da war dieses Leuchten, das sich in die Welt tragen lassen wollte, und zwar durch mich, so wie ich war und bin. Mich ins Leben zu schreiben bedeutete, meinen sicheren, freien Ort in mir zu finden und von ihm aus zu handeln gegen alle...