Kapitel 1 – Die Prominenz kommt zum Schluss
Für einen Moment hielt ich das Glas mit dem Champagner gegen das Kerzenlicht. Ich betrachtete die Bläschen, die eilig vom Boden in die Höhe strömten und dort an der Oberfläche platzten wie kleine Seifenblasen. Nichts konnte sie stoppen. Und ich sah die Farbe, das Gold, den Glanz im Licht des Kronleuchters über uns und die Gesellschaft am langen Tisch, die weißen Teller, das silberglänzende Besteck, die Stoffservietten. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Auf dem Tisch weiße Tulpen, meine Lieblingsblumen. Ich setzte das Glas an meine Lippen. Köstlich. Es gab kaum ein besseres Getränk für einen Abend wie diesen. Der Geschmack blieb nur kurz auf der Zunge, doch schon der nächste Schluck brachte ihn zurück. Für einen kurzen, aber glücklichen Augenblick. Katrin, meine Geschäftspartnerin, hatte mich von der Seite beobachtet, sie erhob das Glas. »Es war ein harter Tag«, sagte ich, wie zur Entschuldigung.
Wir hatten heute Abgabe gehabt und einem Großkunden aus London unser PR-Konzept präsentiert. Den ganzen Tag hatte ich am Kopf des langen Konferenztisches mit den Kannen Kaffee und den Meetingkeksen gestanden. Christian, mein Assistent, hatte den Beamer bedient. Jedes Bild hatte ich erklärt, jeden Werbetext erläutert. Mit trockenen Mienen, meistens auf ihre Handys starrend, hatten die Businesspartner meine Ausführungen zur Kenntnis genommen. Sie hatten SMS geschrieben, ihre E-Mails abgerufen, ich glaube, einer hatte sogar Candy Crush auf seinem Smartphone mit dem extra großen Display gespielt. Den Vortrag hatte ich auf Englisch gehalten. Ich hatte gezielt mit Marketingbegriffen um mich geworfen, an den richtigen Stellen Pausen gemacht, hier und da mal einen Witz gerissen, Fotos sprechen lassen und einfliegenden 3-D-Schriften die Möglichkeit gegeben, ihre Wirkung auf die Kunden zu entfalten.
»Du hast einen guten Job gemacht«, sagte Katrin.
»Danke, du weißt ja, wie sie sind. Sie wollen dieses ganze Marketingkauderwelsch.« Unser neuer Kunde war ein Pay-TV-Anbieter, der mit Sportrechten handelte. Unsere und vor allem meine Aufgabe als Inhaberin der Werbeagentur war es, Fernsehzuschauern mit Slogans zu erklären, dass jeder Mensch von Geburt an Basketballfan sei, es ihm vorher nur nicht bewusst gewesen war.
»Ja, ich weiß«, seufzte Katrin und trank einen weiteren Schluck Champagner.
Mir taten die Füße weh, ich streifte meine Pumps unter dem Tisch ab und zog meinen schwarzen kurzen Rock ein Stück tiefer über die Strumpfhose. Es war die teuerste, die ich besaß. Sie hatte den heutigen Tag überlebt, keine Laufmasche, immerhin. Ich strich mir durchs lange blonde, widerspenstige Haar. In großen Wellen fiel es jetzt über meine Schultern.
Eine Stunde hatte ich heute Morgen im Bad verbracht. Ich hatte mir die Augenbrauen gezupft, die Fingernägel lackiert, mich vor dem Spiegel kontrolliert, wieder und wieder. Ich bin nicht eitel, jedenfalls nicht übertrieben eitel, aber ich gebe mir Mühe. Ich weiß, wie sie sind, die Männer, und vor allem die Männer in der Werbewelt, in ihren legeren, aber teuren Anzügen, mit den Rolex-Uhren, den weißen Hemdkragen, den teuren Stiften in den Hemdtaschen. Ich habe lange versucht, vollständig in diese Welt einzutauchen. Illusionen zu verkaufen anstatt echter Gefühle. Das ist nicht immer leicht, oft stehe ich da und denke, ich gehöre hier eigentlich nicht her. Aber was soll’s, Sex sells. Bauch, Beine, Po, darum geht es in Wahrheit, egal was präsentiert wird, es hört eh niemand länger als zwanzig Minuten zu – wenn überhaupt. Ich bekomme es mit, wenn ich durch den Raum gehe und mir Männer hinterherschauen, wenn sie mir auf den Po gucken. Auch das gehört dazu. Ich kann nicht leugnen, dass sie mir gefällt, diese erste Form der Selbstbestätigung, bevor man den Kontakt vertieft. Ja, ich habe es irgendwie geschafft, mich einzufinden in diese Welt der Illusionen, ich spiele mit, so gut ich es eben kann. Als Leiterin einer erfolgreichen Werbeagentur mache ich sicher nicht alles falsch, und doch läuft eine unbestimmte Restunsicherheit immer neben mir her wie ein zweites Ich, wie ein Schatten, der sich manchmal an den unpassendsten Stellen zu Wort meldet.
Die Vorspeise kam. Garnelen in Thymian-Vanille-Schaum auf getrüffelten Röstkartoffeln. Leise Ausrufe des Entzückens erfüllten den Raum. Für einen Moment ebbte die Gesprächskulisse ab. Jemand schlug an sein Glas, ein Räuspern, ein paar Worte, Gratulationen, ein bisschen sich selbst abfeiern und »Guten Appetit«.
Die Champagnergläser wurden geleert. Das erste Mal an diesem Tag entspannte ich mich ein wenig. Ich lehnte mich zurück und lächelte Katrin an, deren Laune jetzt ebenfalls gut war. Sie flirtete mit einem Sportartikelhersteller, der ihr gegenübersaß. Ich bewunderte Katrin dafür, wie sie das immer schaffte und mit welcher Selbstverständlichkeit sie Männer um den Finger wickeln konnte. Sie lachte an den richtigen Stellen, warf umwerfend verführerisch ihren Kopf in den Nacken, strich sich durch die Haare oder gab kluge Kommentare von sich. An diesem Abend war sie ein bisschen dezenter gekleidet als sonst. Eine schwarze Designerhose, ein hochgeschlossener Pullover, der aber bestimmt nicht zufällig eng anlag und auf den vorne ein großer silberner Stern gestickt war. Das Licht der Kerze auf dem Tisch spiegelte sich darin wider. Katrin wusste sich in Szene zu setzen. Wie immer war sie ein Blickfang.
Ich konnte mich an meinen letzten Flirt kaum noch erinnern. Seit zwei Jahren war ich Single. Ich lebte mit meiner Tochter Sophie zusammen, die gerade mal wieder die Uni gewechselt hatte. »Wegen der besseren Professoren«, sagte sie. In Wahrheit wusste ich, es lag an Ron, dem Surfertypen, der wahrscheinlich in Wirklichkeit gar nicht so hieß, aber seinen Sommer auf Sylt verbrachte und in Hamburg lebte, damit es nicht zu weit zu den Wellen war. Kennengelernt hatte ich ihn eines Morgens vor meinem Kühlschrank. Er hatte gerade eine Milchtüte an den Mund gesetzt und zum Gruß den Daumen in meine Richtung gehoben. Er hatte Boxershorts getragen. Immerhin. Für eine Beziehung gab es keinen Platz in meinem Leben, und die kurzen Flirts, auf die Katrin sich einließ, waren nichts für mich. Ich hatte mich schon auf einer dieser Dating-websites umgeschaut, doch wenn man so etwas unter falschem Namen macht und ohne Profilbild, dann ist das selten von Erfolg gekrönt. Zum Nachschauen reichte es mir zunächst, doch als Werberin weiß ich, wie viel gelogen wird – in puncto Alter, in puncto Beruf –, vor allem dann, wenn keiner nach der Wahrheit fragt, wenn keiner hinschaut, wenn da nur der Computer und der Suchende ist, in irgendeiner einsamen Wohnung. Immer wieder wurde mir beim Scrollen durch die endlose Liste von einsamen Herzen klar, dass ich etwas Echtes brauchte, gerade ich, die Werberin. Wer es draußen nicht packt, schafft es auch im Netz nicht, hatte eine junge Frau gebloggt, die nur ihre Beine als Profilbild fotografiert hatte. Ich war immer davon überzeugt gewesen, nur eine reale Begegnung würde so etwas wie Schmetterlinge in meinen Bauch zaubern. Wie fühlte sich das gleich nochmal an?
Der Wein wurde eingeschenkt, ein Lafite-Rothschild. Einige Plätze an der Tafel waren leer, es waren noch nicht alle Gäste erschienen, Geschäftspartner aus England wurden noch erwartet. Einige flogen nur zum Feiern ein, andere kamen gar nicht, waren wohl auf einer anderen Party. Die Namensschilder ließ man aus Rücksicht noch stehen. Ich saß mit dem Rücken zur Tür und sah im Spiegel, wie sie sich plötzlich hinter mir öffnete und ein Mann den Raum betrat. Ich glaube, es war vor allem die Art, wie er es tat, die die Frauen auf der gegenüberliegenden Tischseite dazu veranlasste, den Zuspätkommenden mit Blicken zu verfolgen. Ich schaute über meine rechte Schulter nach hinten und konnte gerade noch sehen, dass der Mann außergewöhnlich groß war. Dann folgte wieder ein Blick in den Spiegel und einer über meine linke Schulter. Seine stattliche Erscheinung beeindruckte mich. Es war aber noch etwas anderes, was mir den Atem nahm. Er durchschritt den Raum, als würde er ihm gehören, als sei er seine Bühne. Das Kreuz durchgedrückt, der Rücken kerzengerade, mit jeder Faser seines Körpers drückte er Souveränität aus. Er ging langsam, gemächlich, ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, ein kurzes Nicken in Richtung Gesellschaft. Diese Ich-habe-alles-im-Griff-Ausstrahlung hatte etwas Arrogantes, Überhebliches, was ihn aber augenblicklich interessant machte. Er kam im Nadelstreifenanzug und dazu trug er rote Nike-Turnschuhe. Ungewöhnlich, dachte ich, aber irgendwie ein Blickfang. Seine Haare waren dunkel, akkurat gestutzt, er hatte einen sorgsam gepflegten Dreitagebart und trug eine Krawatte, die genau dieselbe Farbe wie die Turnschuhe hatte. »Wow«, entfuhr es mir. Eine Spur zu laut, denn Katrin unterbrach für einen Moment das Gespräch mit Daniel, dem Sportartikelhersteller, und schaute mich fragend an. In ihrem Gesicht stand geschrieben: »Und das von dir?« Wir mussten beide lachen.
Der Mann war zur Bar gegangen und ließ sich ein Glas Champagner reichen, das er für eine Sekunde ins Licht hielt, bevor er es an den Mund führte. Und was für ein Mund das war … Die kleinen Grübchen hatten etwas jugendlich Niedliches, Verschmitztes. Es nahm ihm aber nichts von seiner überaus männlichen Ausstrahlung. Wie alt mochte er sein? Vierzig? Er war sehr schlank, ziemlich trainiert, wahrscheinlich ein Sportler. Warum sonst sollte er auch hierhergekommen sein? Gut, wie ein Basketballspieler sah er nicht aus, trotz seiner imposanten Größe, aber wie ein Golfspieler in jedem Fall. Er schmunzelte kurz der Barfrau zu, die verlegen...