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Königin der Wüste

Das außergewöhnliche Leben der Gertrude Bell

AutorJanet Wallach
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783641179434
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der weibliche Lawrence von Arabien: Gertrude Bell, die ungekrönte Königin des Orients, war eine der interessantesten, vielseitigsten und beeindruckendsten Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eigenwillig, wissbegierig und wagemutig bereiste die Tochter wohlhabender Engländer die arabische Welt und wurde bald zu einer gefragten Nahostexpertin. Im Ersten Weltkrieg bestinformierte britische Agentin im arabischen Raum und Vorkämpferin für die arabische Unabhängigkeit, hatte sie unter anderem großen Anteil an der Gründung des modernen Irak. Die abenteuerliche Lebensgeschichte dieser ungewöhnlichen Frau hat Regisseur Werner Herzog jetzt mit Nicole Kidman in der Hauptrolle verfilmt.

Janet Wallach ist freie Journalistin und Nahostexpertin. Die Konflikte in der arabischen Welt sind Thema mehrerer Bücher, die sie zusammen mit ihrem Mann John Wallach veröffentlichte. Die vorliegende Biographie 'Desert Queen' wurde in zwölf Sprachen übersetzt.

Janet Wallach lebt in New York und Connecticut.

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Leseprobe

1.


Aus gutem Hause


Bedeutende Persönlichkeiten hinterlassen ihre Spuren in der Geschichte in gleicher Weise wie große Imperien. Das Weltreich der Königin Viktoria umfaßte einen größeren Teil der Ozeane und Kontinente und war von mehr Menschen bevölkert als je ein Reich zuvor. Ihre Herrschaft prägte Kontinente und Subkontinente von Europa bis Australien, von Indien bis Amerika, von Afrika bis Asien, von Adelaide bis Wellington, von Bombay bis Rangun, von Ottawa bis zu den Jungferninseln, von Alexandria bis Sansibar und von Aden bis Singapur. Die britische Flotte beherrschte die Weltmeere, Schiffe und Industrien verfeuerten britische Kohle, britische Banken finanzierten alle möglichen Unternehmen, britische Handelshäuser dominierten den Weltmarkt, britische Lebensmittel füllten die Mägen, und die britische Textilindustrie kleidete ein Viertel aller Menschen überall auf der Welt.

Nichts hätte die Stellung Großbritanniens besser symbolisieren können als die erste Weltausstellung in London im Jahre 1851. Königin Viktoria besuchte die Ausstellung vierzigmal, und allein am Eröffnungstag strömte eine halbe Million Menschen herbei – Unternehmer, Großindustrielle, Aristokraten, Diplomaten, Handwerker, Kaufleute und Arbeiter –, um die »Große Ausstellung der Produkte der Industrien aller Nationen« im neuen Kristallpalast im Hyde Park zu sehen. Sechs Millionen sollten noch folgen. Die meisten waren mit der Eisenbahn angereist und wandelten unter den Glaskuppeln über die mit Teppich belegten Flure, um die Produkte aus den Nachbarländern Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien, aber auch aus fernen Ländern wie Rußland, Persien, aus der Türkei und China zu bestaunen. Alle möglichen Dinge wurden ausgestellt: Stoffe, rohe Tierhäute, mechanische Webstühle, Schmuck, Porzellan, Schokolade, Kaffee, Tee, Teppiche, automatische Revolver, hydraulische Pressen, mechanische Sägen, Mahlwerke, goldene Quarzmühlen, Hochdruck-Dampfmaschinen, ein 24 Tonnen schweres Stück Kohle und eine Maschine, mit der man telegrafieren konnte. Prinz Albert, der Initiator der Ausstellung, hatte gesagt, sie solle zeigen, wie weit die Menschheit fortgeschritten sei, und neue Impulse für eine Weiterentwicklung geben. Keine Nation hatte größere Fortschritte gemacht als Großbritannien, Pionier der industriellen Revolution und »Werkstatt der Welt«. Seine Bürger hatten das höchste Pro-Kopf-Einkommen und seine Arbeiter über die Hälfte der vierzehntausend Exponate angefertigt. Abgesehen von den Erzeugnissen aus den Kolonien zeigten die Briten Baumwolle aus Lancashire, robuste Schafwolle aus Yorkshire, Leinen aus Schottland, Schneidewerkzeuge und prächtige Silbersachen aus Birmingham, Glas und Bestecke aus Sheffield sowie riesige Maschinen aus Northumbria.

Nirgendwo wurde härter gearbeitet als in den Werkstätten von Northumbria. In dieser entlegenen Region im Nordosten Englands ziehen die grauen Wolken immer noch wie Geister aus der Vergangenheit über den Himmel und erinnern an den schwarzen Qualm der Hochöfen, der früher die Luft verpestet und den Himmel verdunkelt hat. Schon der Name Northumbria weckt die Vorstellung von schmutzigen Städten, verlassenen Moorlandschaften und von der dunklen See. In seinen Fabriken wurden Schiffe, Eisenbahnen und genug Eisen und Stahl hergestellt, um Großbritannien vierzig Prozent der Weltproduktion zu sichern. Unter der Erde befanden sich riesige Mengen an Salz, Blei, Aluminium, Eisenerz und so viel Kohle, daß Großbritannien zwei Drittel des Weltbedarfs decken konnte. Riesige Dampfschiffe beförderten unermüdlich Güter zu jedem noch so entlegenen Vorposten des Imperiums und verbanden so Northumbria mit dem Rest der Welt.

Northumbria war das Zentrum der englischen Industrie und Middlesbrough die Musterstadt dieser Region. Als man sie 1801 auf einer trostlosen Einöde erbaut hatte, zählte sie zunächst ganze fünfundzwanzig Einwohner. Nachdem dann jedoch eine Eisenbahnverbindung geschaffen worden war und die Stahlwerke ihre Arbeit aufgenommen hatten, erlebte die Stadt einen Boom. Die Einwohnerzahl stieg im Jahre 1851 auf 7431, 1861 auf 19 416 und erreichte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen Stand von mehr als 90 000. Die Kokereien, die Kohle förderten und zu Koks verarbeiteten (1840 wurden in Middlesbrough jährlich anderthalb Millionen Tonnen Kohle gefördert), die Hochöfen, in denen Eisenerz zu Eisen geschmolzen wurde (1873 wurden fünfeinhalb Millionen Tonnen Eisenerz produziert), seine Stahlwerke, die 1879 über 85 000 Tonnen Stahl herstellten, seine Eisenbahnverbindungen, die Fabriken, die Töpfereien, die Webereien, die Schiffe, die Docks und die Lagerhäuser zogen Arbeiter aus ganz Großbritannien an. Aus den westlichen Midlands, aus Wales, Schottland, Irland, aus Indien, sogar aus Amerika kamen junge Männer und Frauen, die Arbeit suchten, und blickten fasziniert zum Himmel, der von den Flammen der Hochöfen erleuchtet war, oder betrachteten mit ehrfürchtigem Staunen die Güterzüge, welche die Stadt verließen und Kohle, Eisen, Stahl und Töpferwaren in alle größeren Städte Englands transportierten. Die Menschen, die auf Arbeit hofften, lebten in den rußigen, braunen Ziegelhäusern, atmeten die verrußte Luft und jubelten dem Bürgermeister zu, der dem Prinzen von Wales sagte, Middlesbrough sei stolz auf seinen Qualm. »Dieser Qualm ist ein Zeichen dafür, daß es hier genug Arbeit gibt, ... ein Zeichen des Wohlstands, ein Zeichen dafür, daß hier Menschen aller Klassen Arbeit haben ... Wir sind deshalb stolz auf unseren Rauch.«1

Jene, die am meisten von dem Wohlstand profitierten – die Industriellen, Kaufleute, Anwälte, Ärzte und ihre Frauen –, fuhren häufig fünfzig Kilometer weit nach Norden, nach Newcastle, um einen Geburtstag oder ein besonderes Jubiläum zu feiern. Die große Stadt am Ufer des Tyne war Metropole, Handelszentrum und Haupthafen Nordenglands. Man konnte dort ins Theater gehen, einkaufen oder in einem luxuriösen Restaurant dinieren.

Im Gegensatz zu Middlesbrough, einem »Emporkömmling« ohne Vergangenheit, war Newcastle eine alte Stadt mit einer langen Geschichte. Wenn ihre Bewohner sich nach frischer Landluft sehnten, fuhren sie nach Wallsend und besichtigten die Überreste des Hadrianwalls, der den römischen Soldaten als Schutz vor den keltischen Kriegern gedient hatte. Oder sie fuhren in die Hochmoore oder an die Küste, wo einst die Engländer gegen die Schotten aus dem Norden, die Angelsachsen aus Deutschland, die Wikinger aus Dänemark und die Normannen aus Frankreich gekämpft haben. In der Stadt selbst konnte man im neunzehnten Jahrhundert noch auf den Turm des Schlosses steigen, das der Sohn von Wilhelm dem Eroberer 1080 gebaut hatte, oder durch die Halle der Zünfte wandern, in der die Handwerksmeister sich früher versammelten, um den Lohn der jungen Lehrlinge festzusetzen. In der Moot Hall stritten sich die Männer nicht mehr um Land oder Schulden, aber sie trafen sich immer noch in der County Hall, feierten bei besonderen Anlässen im »Merchant Adventurer’s Court« oder beteten gemeinsam in der fünfhundert Jahre alten Saint-Nicholas-Kirche.

Auch ihre Arbeit hatte ihren Ursprung in der langen Geschichte Newcastles. Im sechzehnten Jahrhundert lieferte die Stadt 163 000 Tonnen Kohle nach London, ihre Werften bauten hochseetüchtige Schiffe, zuerst »Windjammer« aus Holz, nach 1838 Dampfboote aus Eisen und später große Schiffe aus Stahl. Man hatte die alten Docks in weiträumige Kais verwandelt, an denen die Schiffe festmachen konnten, welche die Häfen im gesamten Empire anliefen. Vierundzwanzig Stunden pro Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr fuhren englische Schiffe von hier aus über die Nordsee nach Eskimo Point, Kapstadt oder Karachi, beförderten Fertigprodukte aus England und brachten Rohmaterial und Lebensmittel zurück. Sie transportierten Kohle für die Marine, Schienen für die Eisenbahnen, Werkzeugmaschinen für die Fabriken, Waffen für die Verteidigung des Imperiums, Fahrzeuge zur Personenbeförderung und Kleidung. Auf dem Rückweg brachten sie Seide, Kautschuk, Reis und Tee aus Indien, Fisch und Pelze aus Kanada, Gold und Schafe aus Australien, Kakao, Elfenbein, Diamanten, Ananas und Bananen aus Afrika, Tee aus Ceylon, Gewürze aus Arabien, Zucker, Limonen und Schildkröten (für die Schildkrötensuppe) aus der Karibik mit.

Im Gegensatz zum engen und schmutzigen Middlesbrough war das kosmopolitische Newcastle der Stolz der Städteplaner. Die Stadt war großzügig angelegt und sauber, hatte breite, belebte Durchgangsstraßen und Plätze, und die Grey Street zählte damals zu den elegantesten Straßen Europas. Die klassischen Gebäude, die stattlichen Patrizierhäuser und das Theatre Royal waren der Stolz der Bürger dieser Stadt. Das geschäftige Handelszentrum bot jedem, der Unternehmergeist hatte, Gelegenheit, sich bei einer Bank Geld zu borgen oder sein Glück an der Börse zu versuchen, die im Kuppelbau des Central Exchange untergebracht war. Die Geschäfte boten Waren aus der ganzen Welt an: Schals aus Kaschmir, Seehundfell-Muffs aus der kanadischen Yukonregion, Diamanten aus Südafrika, Rubine aus Indien, chinesischen Tee und französischen Wein. In den Buchhandlungen waren unter anderem Reiseführer für Syrien, Ägypten und Indien erhältlich.

Es gab kaum eine Familie, von der nicht ein Verwandter, Freund oder Freund eines Freundes in Indien lebte. Nur zwanzigtausend Briten bestimmten zu jener Zeit das Leben von zweihundertfünfzig Millionen Indern, zumeist Hindus oder Moslems, die Agrarprodukte und Rohmaterialien nach England exportierten und fast alles andere aus England einführten. Aus diesem Grund war Indien das Juwel in der Krone des britischen Weltreichs. Die Engländer fuhren ständig hin...

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