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E-Book

Psychomotorische Förderung in der Heilpädagogik

Hilfe durch Bewegung

AutorJosef Möllers
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl241 Seiten
ISBN9783170252240
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Die Psychomotorik hat in der Heilpädagogik in den letzten Jahren einen hohen Stellenwert erreicht. Sie kommt als Methode der Entwicklungsbegleitung und der Bewegungsförderung, insbesondere bei Kindern mit Bewegungsbeeinträchtigungen, Wahrnehmungsstörungen und Verhaltensbesonderheiten, häufig zur Anwendung. Das Buch liefert im ersten Teil die theoretischen Grundlagen, wobei nicht nur die wichtigsten Ansätze der Psychomotorik präsentiert werden, sondern ihr Einsatz über die Lebens- und Entwicklungsspanne entfaltet wird. Über mögliche motorische Störungen wird ebenso informiert wie über deren Diagnostik und die Qualitätssicherung bei der Förderung. Der zweite Teil des Buches widmet sich der praktischen Umsetzung der psychomotorischen Förderung entlang der wichtigsten methodisch-didaktischen Grundprinzipien. Praktische Übungs- und Spielbeispiele stellen dabei den direkten Handlungsbezug her.

Josef Möllers lehrt an der Fachschule für Heilerziehungspflege und Fachschule für Heilpädagogik in Coesfeld in den Fächern Erziehungswissenschaft und Psychomotorik. Er leitete zudem viele Jahre psychomotorische Fördergruppen für Kinder und Fortbildungsveranstaltungen für Erzieher, Lehrer und Eltern.

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Leseprobe

2         Psychomotorik und Anwendungsbereiche der Motologie


 

 

 

Sie erhalten in diesem Kapitel erste Erkenntnisse über theoretische Aspekte der Psychomotorik. Begriffe werden eingebettet in die Geschichte und in die Systematik des Wissenschaftszweiges der Motologie. Sie lernen verschiedenartige Fachbegriffe kennen und Sie werden vertraut gemacht mit den Erfahrungsfeldern, Inhaltsbereichen und Zielsetzungen der Psychomotorik. Ein Überblick über (mögliche) Förderwirkungen kann Ihnen helfen, psychomotorische Prozesse im Sinne professionellen Handelns zielgerichteter zu initiieren und zu reflektieren.

2.1        Grundbegriffe der Motorik


Aus physikalischer Sicht bezeichnet Bewegung jede Ortsveränderung eines Körpers in der Zeit. In dieser Schrift ist nur die menschliche Bewegung gemeint, d. h. eine menschliche Tätigkeit, die in Ortsveränderungen des menschlichen Körpers bzw. seiner Teile zum Ausdruck kommt.

Aber schon ein Blick auf den Sprachgebrauch zeigt, dass der Begriff Bewegung mehr als die Ortsveränderung eines menschlichen Körpers in der Zeit umschreibt.

Wir sprechen von Bewegung als Lebensmotor, von äußerer Bewegung oder innerer Bewegung. Wir sind ständig in Bewegung, bewegen uns auf andere zu, erleben Bewegungsmöglichkeiten bzw. erfahren Einschränkungen, setzen uns in Bewegung, organisieren Bewegungsspiele und gestalten Bewegungsräume. Wir wollen ein Leben lang in Bewegung bleiben. Das Verb bewegen kann sowohl aktiv (ich bewege etwas) als auch passiv (ich werde bewegt) gebraucht werden; wobei Letzteres sowohl physikalisch (Ortsbewegung) als auch emotional (angerührt sein) verstanden werden kann.

Dies zeigt, dass der zentrale Begriff menschlicher Bewegung nicht auf eine einfache Bedeutung reduziert werden kann, sondern einen komplexen, reichhaltigen Begriff des Lebens darstellt. Diese Komplexität kann systematisch geklärt werden, indem Motorik auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Ebenen oder aus unterschiedlichen Zugängen betrachtet wird.

Zur Verdeutlichung motorischer Prozesse unterteilen manche Autoren die Motorik in verschiedenen Dimensionen. Leyendecker (2005, S. 13 ff.) gibt zur Erklärung der Motorik vier Dimensionen der Motorik an: Neuro-, Sensu-, Psycho-, Soziomotorik. Damit sind aber nicht methodische Verfahren, sondern spezifische Merkmale menschlicher motorischer Prozesse gemeint, vor allem in der Reihenfolge der frühkindlichen Entwicklung:

Neuromotorik:Menschliche Bewegung äußert sich in der Änderung von Stellung, Lage oder Spannungszustand des Bewegungsapparates, d. h. das Skelett mit Gelenken, Bändern und die Skelettmuskulatur. Diese Vorgänge werden durch das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) sowie dessen Leitungsbahnen (Motoneuronen) gesteuert und durch Sinnesempfindungen (Sensuneuronen) zurückgemeldet. Die Neuromotorik bietet Erklärungen für nervliche Grundlagen motorischer Bewegungssteuerung, sensorischer Bewegungsempfindungen, der Organisation von Reflexen und der Koordination von Bewegungsmustern. Neuromotorik wird vor allem auf die Phase bezogen, in der die infantilen Reflexe oder besser frühkindlichen Reaktionen die Motorik ausmachen.

Sensumotorik: Dieser Begriff kann auch »Sensomotorik« geschrieben werden. Beide Schreibweisen sind möglich; Sensumotorik ist die korrekte altlateinische Form, und Sensomotorik ist an das spätere (mittelalterliche) Latein bzw. den Gebrauch in romanischen Sprachen angelehnt. Im Weiteren wird sensomotorisch geschrieben, weil es die gebräuchlichere Schreibweise ist.

Mit Sensomotorik wird der wichtige Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung gekennzeichnet. Die Koordination von Wahrnehmung und Bewegung ist eine grundlegende Entwicklungsaufgabe. Vom Säuglingsalter an sind Wahrnehmungen und Bewegungen aufeinander abzustimmen und zu koordinieren. Das funktioniert natürlich anfangs noch nicht so gut, da die Bewegungssteuerung noch nicht ausgereift ist, stellt aber eine der »spannendsten Elemente der kindlichen Entwicklung« (Leyendecker, 2005, S. 14) dar.

Der Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung ist nicht nur als ein einfacher Prozess von Informationsaufnahme, zentraler Verarbeitung und motorischer Reaktion zu betrachten; denn die motorischen (Re-)Aktionen werden selbst wieder wahrgenommen und bilden den Ausgangspunkt weiterer sensomotorischer Prozesse. Insofern bilden Wahrnehmung und Bewegung eine Einheit: Die Wahrnehmung ändert sich unter der Bewegung, und Bewegung ermöglicht die Wahrnehmung.

Psychomotorik: Stimmungen und Gefühle, Gedanken und Vorstellungen drücken sich in Bewegung und Körperhaltungen aus. Das heißt, Bewegung steht in enger Beziehung zu kognitiven und emotionalen Vorgängen. Der Zusammenhang beider Prozesse – der Kognition wie der Emotion – mit der Motorik wird unter dem Begriff der Psychomotorik zusammengefasst.

Ideengeschichtlich hat die Psychomotorik eine lange Tradition. Bereits im frühen 19. Jahrhundert hatten die französischen Ärzte Itard und Seguin ein Förderkonzept für entwicklungsbeeinträchtigte und behinderte Kinder entwickelt. Darin spielten neben einer systematischen Sinnesschulung auch spezielle Übungen, etwa Tast- und Geschicklichkeitsübungen, eine Rolle.

Diese Gedanken wurden im Erziehungskonzept von Maria Montessori zu Übungen mit speziellen Sinnesmaterialien und selbsttätigem Lernen weiterentwickelt. Aus diesen Ansätzen sowie Anregungen aus der Rhythmik (z. B. von Scheiblauer) entwickelte in Deutschland Kiphard Ende der 50er Jahre die »psychomotorische Übungsbehandlung«, welche auf den genannten Zusammenhängen beruht.

Mit dem Begriff der Soziomotorik wird Bewegung als Mittel der sozialen Kommunikation gekennzeichnet. Durch die Körpersprache und die Wahrnehmung körpersprachlicher Zeichen ist die Soziomotorik ein bedeutsames Feld zwischenmenschlicher Interaktion. Sie gewinnt ihre eigentliche Bedeutung vor dem Hintergrund der Bewertung durch Gruppen und durch gesellschaftliche Beurteilungen. Mit den Mitteln unserer Körpersprache gestalten wir Kommunikation. Dabei kann die Körpersprache auch von dem abweichen, was wir durch unsere mündliche Sprache vermitteln wollen.

Insgesamt betrachtet haben Körper und Bewegung in jeder Lebensphase einen besonderen Stellenwert in der menschlichen Entwicklung – aber je nach Lebensphase ist er unterschiedlich ausgeprägt. In der Kindheit, während sich die Persönlichkeit herausbildet, spielen Bewegung und Wahrnehmung eine herausragende Rolle. Das ist die Lebensphase, in der auch die Psychomotorik besonders verankert ist und beitragen kann, gestörte oder schwierige Entwicklungsverläufe »nachzubessern«. Während der Jugend haben Bewegung und Wahrnehmung einen geringer werdenden Einfluss. In der langen Phase des Erwachsenseins spielt die Bewegung eine untergeordnete Rolle, sie steht »zur Verfügung«, wir benützen sie, um unser Leben zu realisieren. Wir können beispielsweise die Bewegung in unser Leben einbeziehen, um unsere körperliche und seelische Befindlichkeit zu verbessern, weil wir wissen, dass Bewegungsmangel zu einer Vielzahl von Krankheiten führt. In der Phase der beginnenden Veränderungen (ab ca. 60 Jahren) nimmt der Einfluss der Bewegung wieder zu. Bewegung trägt entscheidend dazu bei, den Prozess des Alterns zu verlangsamen. Nun wird Bewegung letztlich zum Gradmesser für unsere Selbstständigkeit. Wenn im Alter die motorischen Fähigkeiten nachlassen, sind wir wieder darauf angewiesen, Hilfe zu bekommen.

Mit dem Begriff der Psychomotorik war die Einheit körperlich-motorischer und psychisch-geistiger Prozesse in der Entwicklung des Menschen beschrieben worden. Seit dem Engagement von E. J. Kiphard wird unter Psychomotorik jedoch hauptsächlich ein pädagogisch-therapeutisches Konzept verstanden, welches über die Bewegung emotionale, motivationale, perzeptive, kognitive, soziale und kommunikative Aspekte der Persönlichkeit zu beeinflussen versucht. Mit dem Bestreben und der Möglichkeit, dieses Förderkonzept therapeutisch, pädagogisch oder heilpädagogisch zu nutzen, findet sie heute ein sehr breites Anwendungsfeld in der Förderung und Unterstützung von Menschen aller Altersstufen.

Doch was bedeutet der Begriff genau? Wie ist dieser Ansatz entstanden? Was sind Merkmale dieses Konzepts, und worin grenzt es sich ab? Wann kann das, was z. B. Kindern in Bewegung angeboten wird, als psychomotorisch bezeichnet werden? Welche Fördereffekte sind zu verzeichnen, und wie sind Wirkungen zu erklären? In den folgenden Kapiteln soll diesen Fragen nachgegangen werden.

2.2        Geschichtliches zur Psychomotorik in Deutschland


Die Geschichte der Psychomotorik ist eng mit dem Namen Ernst Jonny Kiphard (1923–2010) verbunden. Er gilt als Begründer der...

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