Europa als Heimat?
Michael Fischer
60 Jahre lang wuchs Europa zusammen – von Portugal bis Polen. 60 Jahre lang war die Europäische Union Garant für Frieden und Wohlstand. Aber das Wir-Gefühl fehlt, das 27 Staaten in eine Schicksalsgemeinschaft verwandelt, wie die Euro-Krise zeigt. Hängt wirklich alles am Euro, den bloß 17 Mitgliedstaaten als Währung haben?
Bisher hat die Union all ihre Herausforderungen gemeistert, oft allein durch die Dichte ihres politischen und kulturellen Netzwerkes und aufgrund des gemeinsamen kulturellen Erbes. Aber wird dies auch morgen der Fall sein? Ich wundere mich oft, wie depressiv wir Europäer trotz dieser enormen Erfolgsgeschichte sind. Sind es wirklich bloß idealistische Assoziationen, an Europa als kulturelle Gemeinschaft zu glauben, weil es seine Existenz und Essenz mit den grundlegenden Menschenrechten rechtfertigt, mit Menschenwürde und der Ablehnung aller religiösen und politischen Fanatismen? Was wäre denn die leb- und realisierbare Alternative?
Die Anatomie der Krise (wie das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen 2012 lautet) zeigt ein anderes Bild: eine Wirtschafts- und Finanzgemeinschaft, eine Gemeinschaft der Aktiengesellschaften. Als kulturelle Gemeinschaft erscheint die Europäische Union nur insoweit, als dies zur Belebung von Bankgeschäften, zur Prosperität der Telekommunikationskonzerne, zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Ölindustrie beiträgt. Umgekehrt wollen wir kulturelle und soziale Herkunftsbestände bewusst oder unbewusst vor der Gefahr schützen, dass sie sich im unüberschaubaren Wandel restlos auflösen: eine Kompensationsstrategie gegen die Angst der Fragmentierung und Zersetzung des Ich.
Die Frage, die sich viele Menschen stellen, ist, ob der vertraute Raum – Heimat, Ort, Region –, diese hochemotionalen Sinnkonstrukte, wirklich von der Auflösung bedroht sind: Sei es nun kulturell, strukturell oder sozioökonomisch. Flughäfen, Einkaufszentren, Supermärkte, Freizeitparks, Hotelketten, Bahnhöfe, »Gated Communities«: Das Leben verlagert sich von Dörfern und Kleinstädten in die Einkaufszentren auf der Wiese, Kästen ohne Eigenschaften, »Nicht-Orte« (so der Pariser Anthropologe Marc Augé), die das Leben aus den gewachsenen Strukturen saugen: Abwanderung, Überalterung. Lemmingszüge durch die Wüsten der Arbeitslosigkeit. »Nicht-Orte«, die immer mehr Menschen zu vereinzelten, nicht bloß ökonomisch zu »asozialen« Benutzern machen: »sich selbst und einander fremd«, verbunden bloß »in der ängstlichen Erfahrung isolierter, leerer Existenz«. Orte, die uns Aufbrüche ohne Ankünfte zumuten, gleichsam Nietzsches Finale ins Nichts.
Phänomene, die man nicht sehr präzis unter verschiedenen Begriffen wie »Rechtsradikalismus«, »Modernisierungsververlierer«, »Empörungsbewegung«, »Wutbürgertum«, »Verwahrlosungskohorte« oder anderen Etikettierungen und Stigmatisierungen bündelt, versteht nicht, wer nicht sieht, welches Motiv die im Einzelnen sehr heterogenen Gruppierungen verklammert: soziale Angst und gleichzeitig soziale Nahebedürfnisse sowie der verzweifelte Versuch, ökonomische Sicherheit im gegliederten begrenzten Raum zu behaupten.
Auf die Forderung nach Kulturalität, Öffnung und universeller Verantwortung durch die Menschenrechte antworten zukunftsverunsicherte Menschen mit der Wiedererrichtung von Grenzen und Tabus. Dies ist ein rapid ansteigendes, gesamteuropäisches Problem: Wenn wir auf die Stichworte der Wertewandelforschung schauen, die auf Globalisierung, Beschleunigung, Virtualisierung reagieren, so bündeln sie genau jene Emotionen, die im Begriff Heimat enthalten sind: »Cocooning«, Geborgenheitsästhetik, Biotope der Vertrautheit, Sehnsucht nach authentischen Eindeutigkeiten und einer intakten Lebensatmosphäre. Gemäß einer vom SPIEGEL in Auftrag gegebenen Studie vom März 2012 gilt das für knapp 80 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Die Zahl dürfte zumindest auf Österreich analog übertragbar sein, vielleicht auch auf Slowenien. Überwältigend ist die Zustimmung zur Heimat als regionale Identität in Friaul-Venetien mit seinen spezifisch grenzüberschreitenden Identitätsformen.
Die Rückbesinnung auf Heimat und Herkunft als geografischen Raum wird freilich dort für Europa politisch prekär, wo sie direkt oder indirekt auffordert, die Welt der großen Politik und der großen Strukturen zu verlassen. Small is beautiful statt Europa als Einheit. Dies birgt Gefahren für eine offene Zivilgesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder sich internationalisieren und globalisieren, sich der Weltgesellschaft öffnen. Also: Heimat sowohl als Präsentation kultureller Identität wie auch als Ort der Innovation und Aufklärung. Denn so gesehen hat Europa, wie bereits gesagt, »so viel Herkunft, dass seine Zukunft nicht zu verhindern ist«.
Die Zivilisationstheoretiker der Aufklärung haben bereits über solche Zusammenhänge nachgedacht und praktische Konzepte entwickelt. Eine innovative Theorie der Heimat hat der Zürcher Pädagoge und Aufklärer Johann Heinrich Pestalozzi formuliert. Er machte deutlich, dass das Besondere unserer Herkunft nicht ein trennender, separierender Faktor ist, sondern der Brennpunkt für eine künftige, offene und tolerante »Völkerverbindung«, wie es damals hieß. Und bei dieser Verbindung dachte er natürlich an ein symbolisches (idealistisches) Kapital und nicht an ein finanzielles.
Freilich, die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat dem Heimatbegriff seine Unschuld genommen. Durch die totale Enthumanisierung alles Menschlichen im Namen einer »besseren, rassenreinen Heimat«. Der katastrophalen Pervertierung durch Faschismus und Nationalsozialismus folgte nach 1945 die weitgehende Verdrängung. Aber stets haben namhafte Philosophen die Unverzichtbarkeit des Heimatbegriffs hervorgehoben. Ernst Bloch etwa notiert am Ende seines Werkes Das Prinzip Hoffnung: Bei jedem Menschen gibt es etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«. Stets sind wir gezwungen, so Sigmund Freud, den Blick auf den »Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes« zu richten. Doch hat diese sentimentale (postromantische) Utopie noch eine Bedeutung?
Heimat ist zunächst eine raum-zeitliche Gegebenheit für jeden Menschen, in die er hineingeboren oder hineingekommen ist und in der er wohnt. Darüber hinaus ist Heimat das Ganze der an die engere Umgebung angelagerten weiteren »Lebenskreise« und ihrer »Horizonte« (Pestalozzi): die Landschaft, das Land, der sprachliche Großraum, dann Europa, schließlich die »Welt«. Heimatbewusstsein setzt das »Andere« voraus und daher auch Toleranz. Automatisch ist es auch immer eine Form des Weltbewusstseins. Dadurch verliert der Heimatbegriff seine bloß geografische Komponente und seine existentielle Bedeutung wird deutlich. Heimat ist ein Komplex, den es für jeden Menschen aktiv zu schaffen gilt, eine Beziehung, die eine stetige geistige Anstrengung voraussetzt.
Die hohe Bewertung der eigenen Heimat ist freilich nur unter der Bedingung sinnvoll und zulässig, dass man auch für die Heimat anderer eintritt. Das Recht auf Heimat, das als kategorischer Imperativ für alle Menschen gilt, hat elementar diesen Bedeutungskern. Die Sorge für die Heimat und das Heimatbewusstsein anderer, der nachfolgenden Generationen oder anderer Völker, ist die notwendige Konsequenz und Grenze des Bewusstseins der eigenen Heimat und der Sorge um sie. Daher ist es notwendig, gegen jede Art von regionalem Partikularismus aufzutreten (Johannes Hahn).
Die genannten Perspektiven sind kein verbohrter Traditionalismus, sondern ein evidentes Problem kraft der Einsicht, dass unter den Lebensbedingungen und Krisenerscheinungen unserer Gegenwartszivilisation Herkunftsprägungen und Traditionen ein knappes Gut sind, mit dem wir im Interesse unserer und künftiger Generationen behutsam umzugehen haben. Sie bieten ein wesentliches Zivilisationselement des 21. Jahrhunderts. Längstens liefern Landschafts-, Umwelt- und Naturschutz, Altstadterhaltung und Denkmalschutz positive Beispiele. Aber wir sind jetzt dabei – wie die Tagung zeigt – auch unsere Einstellungen zu Sprache und Alltagskultur, Festlichkeiten und Theater zu verändern. Herkunft öffnet die Zukunft für das Neue, heißt es. Und in der Tat ist das Neue mit all seinen Herausforderungen die Voraussetzung dafür, dass Tradition fortgeschrieben werden kann. (Hegel spricht zurecht »von der historischen Kategorie des Neuen«.)
Der Esstisch war stets ein großes Symbol intakter Gemeinschaftlichkeit, ja die gemeinsame Tafel ist die Keimzelle der Zivilisation. Dort begannen die Erzählungen von Menschen über Menschen, über ihre Leistungen und Fehlschläge, ihre Kämpfe mit den Göttern und den Triumph der Liebe. Durch Erzählungen, durch narrative Intelligenz lassen wir uns positiv...