Wunder der Adria
Uwe Rada
Vorneweg möchte ich anmerken, dass ich hier zu Ihnen nicht als Wissenschaftler und Forscher schreibe, sondern als Autor, also als Reisender und Beobachtender. Ganz so, wie es einmal Claudio Magris formuliert hat: »Reisen ist eine Musil’sche Erfahrung, eher dem Bewusstsein für die Möglichkeiten überantwortet als dem Realitätsprinzip.«1 Und: »Reisen heißt, die Rechnung mit der Realität zu machen, doch auch mit ihren Alternativen, ihren Lücken; mit der großen Geschichte und mit einer anderen Geschichte.«2
Meine kleine Thesensammlung unter dem Titel Wunder der Adria ist so ein Versuch, die Realität am Möglichen zu messen und umgekehrt. Sie ist sowohl eine Essenz aus dem Buch Die Adria. Die Wiederentdeckung eines Sehnsuchtsortes, das im September bei Pantheon3 erschienen ist, als auch einer Reise, die mich 2012 rund um die Adria geführt hat.
Obwohl ich zuvor unzählige Male an diesem Meer war und seitdem immer auch wieder gewesen bin, war diese Umrundung jene Erfahrung, die es mir ermöglichte, auf die Realität zu schauen und sie gleichzeitig zu vergleichen: mit anderen Realitäten, mit anderen Identitäten, mit anderen Möglichkeiten. Die Umrundung erfolgte übrigens gegen den Uhrzeigersinn, über Caorle, wo ich als Zweijähriger zum ersten Mal dem Meer begegnet bin, und die Stadt Adria an der Po-Mündung, hinunter nach Bari und Otranto, dann mit dem Schiff zur Gegenküste, über Igoumenitsa nach Saranda, Vlora und Durrës und schließlich die Jadranska Magistrala über Montenegro, Neum, Kroatien und Slowenien zurück nach Caorle.
Es war im Grunde eine spontane Entscheidung, aus dem Bauch heraus: Erst später ist mir klar geworden, dass das auch die Richtung der Strömung ist, mit Hilfe derer schon in der Antike die Griechen die Adria besiedelt haben und die Handelsschiffe aus Adria, der Stadt also, die dem Meer den Namen gegeben hat, zurück ins Ionische Meer segelten.
Der Teutonengrill ist Geschichte
Lassen Sie mich mit dem ersten Stichwort beginnen, das auch zu diesen Wundern an der Adria gehört, denn mein Titel meint den Plural. Es ist das Image, das die Adria hat. Dass es inzwischen weitgehend überwunden ist, gehört zu den Wundern, von denen ich spreche.
Als ich 1965 mit meinen Eltern das erste Mal am Meer war, wusste ich noch nichts von Pier Paolo Pasolini. Sechs Jahre vor meiner Ankunft an der Adria war der gebürtige Römer, der im Friaul aufwuchs, bereits genervt. Caorle sei mittlerweile »der Strand von Wien, München und Ulm«4, gruselte sich Pasolini, der im Auftrag der Illustrierten Successo 1959 die italienischen Küsten bereist hatte. Dabei war er auch in das einst verschlafene Fischerdorf gekommen, das nun den Deutschen gehörte: »Auf drei-, viertausend Einwohner und ein-, zweitausend Sommerfrischler aus Venetien kommen achttausend Deutsche«5, notierte Pasolini in seiner Reportage Die lange Straße aus Sand – und trauerte den Zeiten hinterher, als Caorle noch ein Geheimtipp war. »Ich schwöre, es war einer der schönsten Orte der Welt. Es gab keine Brücken, die Kanäle und Lagunen überquerte man auf sehr langsamen Flößen. Keiner kannte es.«6
Caorle wurde bald zum »Hausmeisterstrand« und Rimini zum Inbegriff des »Teutonengrills«. Auch dort trug ein italienischer Filmregisseur Trauer:
»Was ich hier sehe, ist ein Rimini, das nicht mehr aufhört. Früher gab es rund um die Stadt viele Kilometer Dunkelheit, die Küstenbahn, eine holprige Straße. Man sah nur die gespensterhaften Umrisse von faschistischer Architektur: die Gebäude der Ferienkolonie am Meer. Im Winter, wenn man mit dem Rad nach Rivabella fuhr, hörte man den Wind durch die Fenster dieser Gebäude pfeifen, weil man die Fensterläden abgenommen hatte, um daraus Brennholz zu machen. Jetzt ist die Dunkelheit verschwunden.«7
So beklagte Federico Fellini, der in Rimini geboren wurde, den Verlust seiner Heimatstadt und ihrer kulturellen Identität. Ähnlich wie Pasolini trauerte Fellini der Alltagskultur der kleinen Leute, der bäuerlichen und dörflichen Bevölkerung und der Fischer, hinterher, die nun der Urlaubskultur anderer kleiner, aber eben zahlungskräftigerer kleiner Leute gewichen war. »Teutonengrill«, das ist nicht nur ein Synonym dafür, dass die Adria zum Massenmeer geworden ist, zum Urlaubsziel des deutschen und österreichischen Wirtschaftswunders, das an den Küsten der Adria dolce vita kennenlernte und dolce far niente. Es ist auch der Begriff einer Entfremdung, der invasione tedesca.
Wie viele Images hat auch das der Adria als Teutonengrill ein hartnäckiges Nachleben. Anders als das Mittelmeer mit seinem Jetset rümpft man immer noch die Nase, wenn man Adria hört, dabei ist der Teutonengrill in Rimini längst Geschichte. Inzwischen sind es junge Russen, die dort Party machen, während die Kulturtouristen auf den Spuren der römischen Geschichte oder der romagnolischen Küche wandeln. Indem sich Rimini vom Strand ab- und seinem Hinterland zuwendet, wird aus dem Urlaubsziel eine Region. Und, ganz nebenbei, die alte Trennlinie überwunden, über die schon Fellini räsoniert hatte. Gehörte Rimini Marina Centro schon damals den Touristen, war Rimini Centro Storico, die Altstadt, ganz in der Hand der Riminese. Heute ist beides gemischt. Die Touristen gehören zum Bild der Altstadt, während es die Riminese vor allem sonntags und außerhalb der Saison, zur Passegiata an den Strand und an die Mole zieht. Ein kleines adriatisches Wunder, über das sich der Regisseur sicher gefreut hätte.
Albanien entdeckt die Adria
»Der Traum vom Meer als Ausgangstor zum Kennenlernen des Unendlichen kollidiert mit der Wirklichkeit eines Meeres, in dem man ertrinkt, und zerbricht daran.«8 Dieser Satz stammt von Fatos Lubonja, einem der wenigen Intellektuellen und Schriftsteller Albaniens, die auch im Westen bekannt sind. Lubonja erinnert an eine Tragödie von 1997, bei der 81 Menschen den Tod fanden. Ein Schiff der italienischen Marine hatte das albanische Flüchtlingsschiff gerammt, kurz danach war es gesunken. Seitdem ist in Albanien von der Adria als einem »Meer der Tränen« die Rede. Aber nicht nur während der Unruhen 1997 war die Straße von Otranto eine Flüchtlingsroute, sondern auch schon 1991, nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Nicht nur Wunder gehören zur Adria, sondern auch Tragödien und Katastrophen.
Zum Image der Adria gehört also auch das Meer des Eisernen Vorhangs; wenn man so will, ist die Festung Europa seine Fortsetzung. Nirgendwo war dieser Vorhang so dicht zugezogen wie in Albanien. 750 000 Bunker hat Albaniens Diktator Enver Hoxha zwischen 1973 und 1984 bauen lassen, je einen für vier Bewohner des Landes. Viele von ihnen bewachten die albanische Küste. Das Meer war plötzlich umkämpftes Gebiet, Verteidigungsland, wer sich an die Küste begab, machte sich verdächtig. So zog sich also das kommunistische Albanien wieder in die Berge zurück, dorthin, wo schon im 15. Jahrhundert Gjergi Kastrioti alias Skanderbeg gegen die Türken gekämpft hatte.
Und diese Berge haben es in sich. Mit einer mittleren Höhe von 700 Metern über Normal Null ist Albanien das am höchsten gelegene Land Europas. Und weil die Geografie, wie Lubonja einmal sagte, die »hartnäckigste Sache der Welt«9 sei, wurde aus Albanien, in dem die maritime Kultur wie auch die Bergkultur zuhause waren und das bei seiner ersten Unabhängigkeit 1912 mit Vlora eine Adriastadt zu seiner Hauptstadt erkor, wieder eine reine Bergkultur.
Doch inzwischen wird das Maritime wiederentdeckt. Überall an der Küste herrscht Bauboom, in den Ferien sind die Strände voll, Bunker werden zu Appartements umgebaut, ein gemeinsames Illyrian Coastal Exploration Program mit Montenegro und Kroatien soll die Hinterlassenschaften der illyrischen Geschichte zutage fördern.
Für die aus Albanien stammende Schriftstellerin Lindita Arapi ist die Adria inzwischen auch ein Versprechen:
»Die Verbindung zu Europa durch dieses Meer ist eine Sehnsucht in diesem Land. Es war eine Trennung. Es war uns bewusst, dahinter ist Europa, und wir gehören nicht dazu. Aber es ist auch vielsagend, dass, als die Wende kam, die ersten Versuche, nach Europa zu kommen, über dieses Meer führten.«10
Die Tränen sind verflossen, nun schaut man auch mit Optimismus aufs Meer und damit auch auf die Gegenküste. Eine grenzüberschreitende Region bringt Albanien derzeit eher mit Italien hervor als mit Griechenland.
Die Brücke von Otranto
Auch in Apulien, das sich 1991 gegen die Flüchtlinge abgeschottet hat, blickt man wieder auf die Gegenküste. Ein Beispiel dafür ist Biancamaria Bruno. 2011 hatte die...