Vom Sinn und Zweck
der Seitengänge
Bevor ich aus der Sichtweise der Praxis heraus ins eigentliche Thema einsteige, möchte ich vorab einige ergänzende Gedanken darstellen, die meine Vorgehensweise beim Unterricht beschreiben und es dem Leser einfacher machen, den Sinn und Zweck der Seitengänge aus meiner Sicht nachzuvollziehen.
Geschichte
Das Zusammenleben zwischen Pferd und Mensch war immer und ist auch heute nach wie vor der jeweiligen Notwendigkeit der Zeit unterworfen. In den rund 6000 gemeinsamen Jahren war das Verhältnis hauptsächlich davon gekennzeichnet, dass das Pferd dem Menschen das Überleben sicherte – sei es als Fleischlieferant oder im Kriegsdienst.
Natürlich war – und ist – die Beziehung zwischen Pferd und Mensch aber auch durch andere, weniger das Leben des Pferdes bedrohende Aspekte geprägt, zum Beispiel in seinen Funktionen als Zugtier, Fortbewegungsmittel, Kampfross im Turnier, Repräsentationsobjekt, Kunstwerk, Freizeitpartner, Sportgerät, Therapeut oder einfach nur als Lebenspartner.
Bei Pferden, die in vergangenen Zeiten für den Kriegsdienst ausgebildet wurden, war zu unterscheiden zwischen der Ausbildung zum Fahr- oder Reitpferd. Unabhängig vom Verwendungszweck mussten beide sicher und ohne unnötige Kraftverluste am Schlachtfeld ankommen und sich auch während des Kampfgetümmels trotz aller Gefahren leiten lassen. Wer ein gut ausgebildetes Pferd besaß, das seinem Reiter folgte, überlebte. Davon konnte letztlich auch das Überleben eines Volkes abhängen. Insofern war man schon recht früh gezwungen, sich Gedanken über eine sinnvolle und zweckmäßige Ausbildung und Zucht zu machen.
Ich kann hier nur kurz auf Stationen oder wichtige Ausbilder in ihrer Zeit eingehen und die für uns hilfreichen, sachdienlichen Hinweise zum Thema seitliches Geschmeidig-Machen oder sogar Schulterherein beschreiben.
Beginnt man mit der Betrachtung in Griechenland, so landet man bei Xenophon um 400 v. Chr. Neben seinen Ausführungen zur Psychologie des Pferdes, zum Ankauf und zur Jungpferde- und Reitknechtausbildung ist für uns seine Beschreibung zur Arbeit auf dem Zirkel besonders nützlich. Das Pferd lernt hier, sich „auf beiden Kinnladen wenden zu lassen“. Es geht also um die Stellung und die Biegung. Ferner ließ er durch den Zirkel wechseln oder halbe Zirkel abwechselnd mit geraden Linien reiten.
Hierbei sprach er bereits vom Versammeln in den Wendungen zur Verbesserung des Gleichgewichts. Außerdem – das wird die Westernreiter freuen – ist sinngemäß auch von Stops und kurzen Sprints oder Rollbacks (zum Beweglichmachen der Vorhand) die Rede.
Ende des 16. Jahrhunderts beschrieb Georg Engelhard von Löhneysen das Reiten von Volten mit in das Kreisinnere gerichteter Hinterhand – eine Form von Travers. (Zeichnungen: Archiv Cadmos)
Nach dem Überspringen vieler Jahrhunderte wenden wir uns jetzt dem Italiener Frederico Grisone im ausgehenden 16. Jahrhundert zu. Er gilt als einer der bedeutendsten Reitmeister seiner Zeit und wird als der Vater der Reitkunst angesehen, da er sich als Erster nach fast 2000 Jahren „Abstinenz“ wieder ganzheitliche Gedanken um die Pferdeausbildung machte.
Grisone erkannte unter anderem den Wert der Trabarbeit zur Verbesserung der Tragkraft, für bessere Hankenbeugung das Reiten auf dem Zirkel oder an einem Hang. Ebenso geht er auch auf ein „Feststellen der Pferde im Widerrist“ ein. Jedoch „sanft, damit ihm der Hals nicht schlenkrig werde“.
Gut 50 Jahre später wurde von dem deutschen Reitmeister Georg Engelhard von Löhneysen bereits das Reiten auf Volten beschrieben, wobei alternativ die Vorhand oder auch die Hinterhand einen kleineren Kreis beschreiben sollte (also in einer Art Schulterherein beziehungsweise Travers).
Durch einen Schüler Grisones kamen dessen Lehren und Ideen unter anderem nach Frankreich, wo im 17. Jahrhundert Antoine de Pluvinel am Hofe Ludwigs XIII. tätig war. Er befasste sich ausführlich mit der Arbeit an der Hand, da sie „den Geist nachsinnig machen und mehr dem Kopf als dem Körper Arbeit machen“. Ferner setzte er sich für eine mildere Ausbildung der Pferde ein – ein Thema, das auch damals schon aktuell gewesen sein muss.
Von ihm sind unter anderem Übungen überliefert wie Wendungen um einen Pfahl oder Wendungen und Seitwärtstreten unter dem Reiter mit besonderem Augenmerk auf das Vorwärts, weil dadurch das Pferd in „seiner Cadenz und guten Positur“ bleibe. Hier finden sich also erste Ideen für Seitengänge. Jedoch war es ihm, der, einfach gesagt, in einer Art Rittersattel saß, nicht wie den späteren Generationen möglich, direkten Kontakt mit dem Pferdebauch herzustellen. Jegliche Biegearbeit oder das Bewegen der Hinterhand wurde mit gestrecktem Bein und Sporen erreicht.
Er stand schon im 17. Jahrhundert für eine milde, dem Pferd gerecht werdende Ausbildung: Antoine de Pluvinel, hier bei einer Unterweisung von König Ludwig XIII.
Im England des 17. Jahrhunderts empfahl William Cavendish Duke of Newcastle die Übung „Kopf in die Volte“ ebenso wie auch bereits ein erstes Kruppeherein und -heraus auf der Volte. Ebenfalls von ihm stammt die Erkenntnis, dass ein Pferd nur versammelt sein kann, wenn die Hinterbeine eng aneinander vorbeifußen (Schmalspur gehen).
Aus dieser Zeit stammen bereits die Ideen des ebenfalls deutschen Stallmeisters Pinter von der Aue nach einem „haarfühlenden, mitatmenden Schenkel“ und einem Sattel, der es dem Reiter ermöglicht, das Knie zu winkeln. Seine Sattelidee hat sich jedoch erst fast 70 Jahre später durchgesetzt. Wie man sieht: Auch damals hatten es Angestellte in Reitbetrieben nicht leicht …
Den sogenannten „Balancesattel“ brachte dann letztendlich François Robichon de la Guérinière Anfang des 18. Jahrhunderts auf den Markt. Jetzt war es endlich möglich, das Pferd ganzheitlich durch Einrahmen mit allen Hilfen zu schulen.
La Guérinières „Balancesattel“ machte es erstmals möglich, das Pferd mit den Hilfen wirklich einzurahmen.
Der „Erfinder“ des Schulterherein: François Robichon de la Guérinière mit einem seiner Schüler. (Zeichnung: Archiv Cadmos)
Ob er auch das Schulterherein „erfunden“ hat, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, zumal Reitmeister vor ihm bereits über Übungen sprachen, die sich sehr nach ersten Seitengängen anhören. La Guérinière ist jedoch der Erste, der Schulterherein auf gerader Linie reiten lässt. Er hat alles, was er als Wesentliches der Übungen seiner Vorgänger ansah, zusammengefasst und uns die Mutterübung aller Seitengänge beschert, allerdings auf vier Hufschlaglinien. Seine Lehren werden auch heute noch bei allen, die sich auf die klassische Reitkunst berufen, als die Grundlage schlechthin angesehen. Erstaunlich nur, dass gerade er nichts über die Gewichtsverteilung im Schulterherein schreibt – eine Frage, die heute gern und oft diskutiert wird (siehe auch ab Seite 105).
War die Reiterei des Barock besonders in Frankreich noch Teil der Kunst, des höfischen Lebens, so bildete die französische Revolution einen gravierenden Einschnitt, der beinahe ein Vergessen der Reitkunst zur Folge gehabt hätte, wenn sich nicht zum Beispiel die Spanische Hofreitschule in Wien schon früh La Guérinières Lehren verschrieben hätte. Viele bedeutende Ausbilder damaliger und heutiger Zeit nutz(t)en daher die Chance, von den dortigen Bereitern zu lernen. So bleibt ein Teil gewachsene europäische Kultur bis in unsere Zeit erhalten und bewahrt.
Eine kurze Definition
Als Seitengänge bezeichnen wir Lektionen, bei denen das Pferd gestellt und gebogen ist. Es bewegt sich auf drei beziehungsweise vier Hufschlaglinien in einer ständigen Vorwärts-Seitwärts-Bewegung in Versammlung. Wir unterscheiden zwischen Schulterherein, Travers, Renvers und Traversalen. Letztere werden durch ihren Abstellungswinkel und verschiedene Kombinationsmöglichkeiten noch einmal unterteilt.
Ferner zählt man die entsprechenden Konterlektionen hinzu, wobei es eine „echte“ nur im Schulterherein gibt, da Kontertravers gleich Renvers und umgekehrt ist.
Keine Seitengänge im eigentlichen Sinne, jedoch zur „Familie“ gehörend, sind Schultervor und das Reiten in Stellung. Sie werden auch gern als „halbes Schulterherein“ oder „halbes Travers“ bezeichnet, da sie Pferd und Reiter eine erste Idee der weiteren Seitengänge geben.
Die Seitengänge auf einen Blick
Travers beziehungsweise Renvers auf der Mittellinie
Die Gleichheit der Seitengänge