Wolfgang Rüdiger
Zum Begriff Musikvermittlung und zu den Beiträgen dieses Bandes
Musikvermittlung – welch ein Wort! Ein Kompositum aus zwei Grundbegriffen abendländischer Kunst und Kultur, Philosophie und Ästhetik. Musik – in griechischer Antike wurzelnd, ein unendlich weiter Begriff, kaum definierbar; Vermittlung – ein philosophisch-theologischer, gesellschaftlicher und (völker-)rechtlich-politischer Terminus, ein Theorie-Praxis-Begriff, griech. mesiteia, lat. mediatio: Vermitteln bedeutet ursprünglich, etwas „als Mittelstück zwischen unvermittelte Dinge einschieben“1 – was eine Trennung und eine Verbindung zugleich impliziert: von Leib und Seele, Ich und Welt, Ding und Bewusstsein, Individuum und Gesellschaft, in unserem Fall: Mensch und Musik.
Warum aber muss zwischen Mensch und Musik vermittelt werden? Weil Musik als Wesenszug des Menschen und Bestandteil seiner Kultur2 zunehmend aus dem Lebenszusammenhang schwindet, so eine mögliche, vielfach zu begründende Antwort. So tritt Musikvermittlung auf den Plan: als kunstvolles Bemühen, die einstmals „unmittelbare“ Verbindung von Musik und Mensch, die aus vielerlei Gründen zerbrochen ist, ansatzweise wiederherzustellen.3
Eine Urszene von Vermittlung beschreibt Platon im Symposion. Den dort geschilderten Geschlechter-Mythos können wir als Parabel auf unser Thema lesen: dass der Mensch ursprünglich rund, eine mannweibliche Kreis- und Kugelgestalt gewesen sei, die Göttervater Zeus wegen ihres Übermuts in zwei Hälften zerschnitten habe, die sich seither nacheinander sehnen, um zu ihrer eigentlichen Natur und Einheit zurückzufinden. Der Gott, der dabei hilft, heißt Eros.
Auf Musik bezogen: Rund und rundum musikalisch war der Mensch ursprünglich, doch diese Einheit von Mensch und Musik ist zerfallen. So sehnt im Grunde seines Herzens der Mensch sich nach Musik, die zum Ganzen seiner Existenz, seines Lebens und Zusammenlebens mit anderen gehört. Und Musikvermittlung ist der „Gott“, der hilft, die Liebe zur Musik wiederzuentdecken und die „musikalische Natur“ des Menschen wiederherzustellen. Da es aber sehr viele Menschen, Traditionen und Kulturen gibt, die auf mannigfache, sich wandelnde Weise Musik machen und hören, Musik mithin vielfältig in sich selbst vermittelt ist (historisch, gesellschaftlich, kulturell, künstlerisch), erscheint Musikvermittlung als ein vielschichtiges Projekt, das verschiedene Menschen und Musiken unterschiedlichster Zeiten und Kulturen zueinander führen möchte.4
Diese anthropologisch und kulturell begründete Vielfalt von Musikvermittlung wird in den Beiträgen dieses Bandes entfaltet: als Frage nach Sinn und Zweck, Definition, Ausprägung und Perspektive, Geschichte, Gegenwart und Zukunft des recht jungen Arbeitsfelds und Fachgebiets Musikvermittlung. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff „als Fachbezeichnung […] erstmals im Jahr 1998 für den konzertpädagogischen Studiengang an der Hochschule für Musik Detmold eingeführt. Mit der Bezeichnung sollte seinerzeit der Unterschied zu den unterrichtsbezogenen musikpädagogischen Studiengängen – Diplom-Musikerziehung und Schulmusik – erkennbar werden. […] Musikvermittlung ist vor diesem Hintergrund die Entwicklung und Anwendung von Methoden, Spielformen und Techniken künstlerischer, reflexiver und kommunikativer Art, mit dem Ziel, Musik in unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte zu bringen. […] So verstanden grenzt sich die Musikvermittlung in ihrem Anliegen ab von der Instrumental- und Musikpädagogik, soweit diese sich auf die Bereiche Schule und Musikschule bezieht, und entwickelt sich in der Anbindung an den Konzert- oder Musiktheaterbetrieb als eigenständige Profession.“5
Mit dieser historischen Herleitung benennt Ingrid Allwardt den definitorischen Kern des oft missverstandenen, inflationär gebrauchten und vielfach gescholtenen, in seiner Wortfügung aber genialen Begriffs, der seit seiner Entstehung und Verbreitung immer wieder selbstkritisch reflektiert wurde – und nach „kleinem Siegeszug“ in den vergangenen zehn bis 15 Jahren (vgl. den Beitrag von Reinhart von Gutzeit) heute als ein selbstverständlicher, wenn auch immer neu zu hinterfragender Bestandteil unserer Musikwelt erscheint.
Im gleichen Sinne beschreibt 2001 Ernst Klaus Schneider, Gründer des Weiterbildungsstudiengangs an der Hochschule für Musik Detmold, Musikvermittlung als „ein weites Berufsfeld für Musiker, Musikpädagogen und Musikwissenschaftler […] abseits oder in Verbindung mit Schule und Musikschule [Hervorhebung W. R.]“ – was ganz klar zeigt, was der Terminus meint und was er nicht meint: Musikvermittlung ist kein „flotteres Synonym“7 für Musik- und Instrumentalpädagogik oder -didaktik; ebenso wenig meint Musikvermittlung so etwas wie „außerschulische Musikpädagogik“;8 und schon gar nicht bloßes Musik- und Kulturmanagement.
Wenig sinnvoll ist es auch, Musikvermittlung als Oberbegriff aller Disziplinen und Stätten zu benutzen, die den „pädagogischen Auftrag“ erfüllen, „eine Beziehung zwischen dem Individuum und der Musik herzustellen“, und dies als „Querschnittaufgabe für alle Studiengänge“ zu deklarieren, wie es das Grundsatzpapier Musikalische Bildung in Deutschland des Deutschen Musikrats von 2012 formuliert.9 Dies ist sicherlich gut gemeint, besonders hinsichtlich eines neuen Musikertypus und seiner Ausbildung sowie der Zielperspektive, „Menschen zu aktivem musikalischen Handeln zu befähigen“ und „zu Akteuren und mündigen Rezipienten der Kultur zu machen“10 – verwischt aber mit seiner pädagogischen Universalisierung vollends die Grenzen des Begriffs, dessen künstlerische Ausrichtung in allen Beiträgen dieses Bandes präsent ist: Musikvermittlung ist keine Pädagogik, sondern ein künstlerisches Projekt mit künstlerisch-pädagogischen Anteilen. Musikvermittlung ragt dabei ebenso in Musik- und Instrumentalpädagogik hinein (vgl. den Beitrag von Bianka Wüstehube), wie Musikpädagogik als Theorie und Praxis institutionalisierten Musiklernens (die selbstverständlich „Vermittlung“ enthält) in ihren besten Ansätzen der Musikvermittlung wichtige Methoden an die Hand gibt (vgl. die Beiträge von Reinhart von Gutzeit und Ernst Klaus Schneider).
Im Unterschied zu Musikpädagogik und Musikunterricht jedoch, in denen es explizit um Musiklernen geht,11 hat Musikvermittlung das Ziel, musikalisch-ästhetische Erfahrungen zu initiieren, genauer: in künstlerischen Kontexten Musik berührbar zu machen und Menschen zu berühren, zu bewegen, zu verändern; durch künstlerische Handlungen und Hörangebote Menschen zu öffnen für das Musikalische in ihnen und Musik zu öffnen für das Menschliche in ihr: die Bedeutung von Musik für das Leben der Menschen in ihrer Zeit.
Dieses wechselseitige Öffnen kann freilich nur je einzelne Menschen in ihrer subjektiven Welt und nur einzelne konkrete „Musiken“ aus der Fülle musikalischer Angebote betreffen, auch wenn es zumeist in Gemeinschaft verschiedener Menschen und, wie in Konzerten, in Verbindung mehrerer Werke geschieht (jedoch: „Ein Musikstück wirklich hören, erfinden, erfahren und zu eigen machen ist besser als in zig Konzerte gegangen zu sein“12). Weil jedem Menschen diese Erfahrung von Grund auf möglich und gegeben ist, ja alle Menschen musikalisch sind, wenn auch auf verschiedene Weise, sollte jeder und jede die Chance erhalten, seine bzw. ihre je eigene Musikalität auch wirklich leben und entfalten zu können. Musikvermittlung bedeutet daher auch, Menschen mit sich selbst in Verbindung zu bringen (mit sich zu „vermitteln“), damit sie „ihre“ Musik innen und außen wieder erspüren und erhören, in den „Tiefenschichten der Erinnerung“13 wie in jeder neuen Aktualisierung.14
Musikvermittlung als Summe aller nicht-schulischen oder in Kooperation mit Schulen und Musikschulen stattfindenden künstlerischen Wege und Formen des Verbindens von Menschen und Musik zur Ermöglichung persönlich und sozial bedeutsamer ästhetischer Erfahrungen mit Musik – dieses klare Verständnis von Musikvermittlung leitet die Beiträge dieses Bandes, die auf den Vorträgen des Symposiums „Musikvermittlung wozu?“ an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf am 6. und 7. Juni 2013 basieren.
Unter der Fragestellung „Musikvermittlung wozu?“ (in Anlehnung an Heinz-Klaus Metzgers Referat von 1969 „Musik wozu?“15) unternahm das Symposium eine kritische Standortbestimmung und Neureflexion von Musikvermittlung auf dem vorläufigen Höhepunkt ihrer Entwicklung. Von acht erfahrenen Referentinnen und Referenten, die seit Jahren wegweisende Arbeit auf diesem Gebiet leisten, wurden Gründe und Geltungsbereiche des Fachs aufgezeigt, Arbeitsfelder und Ausbildungsformen neu vermessen, Methoden und...