Warum Rangordnung sinnvoll ist
Um Unterlegenheit, Unterwürfigkeit – oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, Submission – als ein wesentliches Merkmal eines funktionierenden Rangordnungssystems verstehen zu können, sollten wir uns zunächst die Gründe für ihr Vorhandensein genau anschauen.
Die Organisation des Zusammenlebens in einer Gruppe hat sich bei vielen Säugetieren (unter anderem auch beim Menschen) als sehr vorteilhaft bewährt. Vorteilhaft deshalb, weil der Schutz vor Raubfeinden und anderen Bedrohungen innerhalb einer gut organisierten Gruppe besser und effizienter funktioniert. Pferde können relativ entspannt in einer Gruppe grasen, weil einzelne Wachposten abgestellt sind, die sorgsam auf Raubfeinde achten und den Rest der Herde sofort alarmieren, sobald eine mögliche Gefahr droht.
Die Organisation des Zusammenlebens in Gruppen stellt die Individuen aber auch vor eine Reihe von Herausforderungen. Es ist zum Beispiel nicht möglich, limitierte Ressourcen wie die besten Futterplätze und die vielversprechendsten Sexualpartner für jeden gleichermaßen demokratisch zur Verfügung zu haben. So kann zum Beispiel nicht jedes durstige Pferd einer Herde das erste an einer Quelle oder Tränke sein. Um banale Situationen wie diese so zu ordnen, dass es nicht zu einem Chaos kommt, etabliert die Herde eine Rangordnung zur Regelung ihrer inneren Struktur. Es wäre sehr kontraproduktiv für die Herde, wenn in diesen alltäglichen Situationen jedes Mal wilde Kämpfe ausbrechen würden: Erstens könnten dadurch Raubfeinde angelockt werden und im allgemeinen Chaos auch erfolgreich zuschlagen, und zweitens wären die Pferde einem steten, sehr hohen Verletzungsrisiko ausgesetzt. In beiden Fällen bedeutet dies eine Schwächung der ganzen Gruppe und damit der Spezies an sich.
Dieses Fohlen signalisiert seine Unterlegenheit gegenüber dem Hengst durch das „Schnappen“. (Foto: Wentscher)
Im Laufe der Evolution als Triebfeder erfolgreichen Lebens haben sich deshalb bei sozial lebenden Säugetieren kommunikative Zeichen und Signale der Aggression, Submission und Sympathiebekundung herausgebildet, die eine klare Verständigung zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern möglich machen.
Sie ermöglichen die Etablierung einer definierten Rangfolge, aber auch die Herausbildung von Freundschaften oder Partnerschaften. Auch bei unseren Pferden sorgt diese Ordnung für einen geregelten Tagesablauf, der so ruhig wie möglich gestaltet ist. Pferde sind im Allgemeinen mit ihrem Status innerhalb der Herde zufrieden, wenn er nur klar definiert ist.
Einer wacht, die anderen können sich dem Fressen oder Ruhen widmen – ein wesentlicher Faktor für das Beutetier Pferd, in der Herde zu leben. (Foto: Slawik)
Früher wurde angenommen, dass ein einzelnes dominantes Pferd in der Herde die ganze Gruppe und deren soziale Organisation kontrollieren würde. Für diese Position wurde zunächst der Leithengst als chauvinistischpatriarchalischer Anführer auserkoren. Weiterführende Studien ergaben jedoch, dass die Leitstute eher die dominante Position in der Herde innehat und darüber bestimmt, wann und wo Nahrung und Wasser aufgenommen werden. Heute ergibt sich ein noch wesentlich komplexeres Bild: Die Vorstellung eines einzelnen Anführers der Herde wird ersetzt durch eine deutlich differenziertere Struktur der Herdenorganisation mit unterschiedlichen sozialen Verantwortungen und wechselnden Hierarchien in verschiedenen Kontexten.
Ein Pferdeleben in der Herde – aus gutem Grund
Die wichtigste Aufgabe einer Spezies und damit auch unserer Pferde besteht darin, als Individuum an sich und als Art generell zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen.
Pferde bilden Gruppenverbände mit klaren Rollenverteilungen und Verantwortlichkeiten, um das Überleben und die Sicherheit des Einzelnen zu optimieren. Für die konkrete soziale Organisation scheint darüber hinaus die Art und Beschaffenheit des Lebensraumes ausschlaggebend zu sein. Zur Illustration betrachten wir im Folgenden die sozialen Strukturen von zwei anderen Equiden, also engen Verwandten der Hauspferde, etwas genauer.
Das Grevyzebra (Equus grevy) und der Afrikanische Wildesel (Equus asinus) sind Tiere, die besonders territorial veranlagt sind. Hier hält ein Hengst ein festes Territorium unter Umständen über viele Jahre hinweg und verteidigt es äußerst aggressiv gegen eindringende Konkurrenten. Betritt eine Stute das Territorium eines Hengstes, verfällt jeglicher Anlass für einen Kampf. Stute und Hengst können sich ungestört von anderen Hengsten paaren, denn hier bestimmt allein das angestammte Territorium des Hengstes über den „Besitz“ der Stute. Diese Art der sozialen Organisation, die territorial strukturierte Fortpflanzung, wurde wahrscheinlich von frühen, primitiveren Formen der Equiden übernommen, die noch in Wäldern lebten.
Art und Beschaffenheit des Lebensraums bestimmen bei verschiedenen Zebraarten die unterschiedliche Ausgestaltung des Herdenverhaltens. (Foto: Boltshauser)
Weiterhin ist sowohl beim Grevyzebra als auch beim Afrikanischen Wildesel bemerkenswert, dass beide keinen sozialen Instinkt zur Etablierung länger andauernder Beziehungen entwickeln. Erwachsene Individuen leben entweder allein oder schließen sich in losen Gruppierungen, die stündlich wechseln können, zusammen. Die einzige längerfristige Beziehung wird zwischen einer Mutterstute und ihrem Fohlen eingegangen.
Das Pferd, das Steppenzebra und das Bergzebra hingegen formieren sich in Herdenverbänden aus mehreren Stuten mit ihrem Nachwuchs und zumeist einem Hengst, die über Jahre in ihrer Grundform erhalten bleiben können.
Der Unterschied in der sozialen Organisation der verschiedenen Spezies liegt demnach in ihrem unterschiedlichen Paarungsverhalten begründet. Entscheidend für das Paarungsverhalten sind wiederum die Verfügbarkeit von Ressourcen wie Wasser und Futter. Grevyzebra und afrikanischer Wildesel verteidigen ihre Territorien, während die anderen Zebraarten und unsere Pferde keine festen Territorien bewohnen, sondern ständig auf Wanderschaft sind, um genügend Nahrung und Wasser zu finden.
So wird die Ausbildung von Familiengruppen einerseits eine potenzielle Möglichkeit der sozialen Struktur, da kein fester Lebensraum bewohnt wird, und andererseits eine Notwendigkeit, da männliche Tiere mögliche Sexualpartner nicht dadurch „besitzen“ können, dass diese ihr angestammtes Territorium betreten. Andersherum betrachtet ist die Ausbildung sozialer Strukturen innerhalb der Pferdegemeinschaft eine Grundvoraussetzung dafür, sich frei bewegen zu können auf der Suche nach immer neuen Weidegründen und Wasserquellen.
Es ist in den Pferden instinktiv verwurzelt, Freundschaften und soziale Bindungen einzugehen. (Foto: Wentscher)
Die Organisation im Herdenverband ermöglicht es den Pferden, trotz des steten Bedürfnisses nach freiem Umherziehen zwecks Nahrungsaufnahme soziale Bindungen einzugehen und sich erfolgreich fortzupflanzen. Das Paarungsverhalten funktioniert daher unabhängig vom Territorium.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Pferde instinktiv lebenslang andauernde Beziehungen zu Artgenossen eingehen. Dieser Instinkt ist so stark ausgeprägt, dass er auch beim domestizierten Pferd in vielen verschiedenen Formen existiert. Unter den heutigen Haltungsbedingungen gibt es, größtenteils völlig unabhängig vom Paarungsverhalten, starke und innige Beziehungen zum Beispiel zwischen gleichgeschlechtlichen Individuen, oder auch enge Freundschaften zwischen Pferd und Ziege, Gans, Hund oder einzelnen Vertretern anderer Tierarten.
Abschließend können wir feststellen: Pferde haben eine soziale Lebensform im Herdenverband herausgebildet, um einerseits die Fortpflanzung bei dieser nichtterritorialen Lebensform zu gewährleisten und um andererseits den Genpool der Gruppe bestmöglich entwickeln und erhalten zu können. Die Vorteile des Herdenlebens sind langfristig größer als die Nachteile, die diese soziale Organisation für Pferde mit sich bringt.
Vorteile des Lebens in der Gruppe
• In einer Gruppe erhöht sich die Anzahl der potenziellen Empfänger (Rezipienten) von Gefahr, dadurch werden sich anschleichende Raubtiere eher wahrgenommen, was dem Schutz des Individuums förderlich ist. Zudem verteilt sich das Risiko einer Gefahr auf mehrere Tiere, sodass das einzelne Individuum größere Überlebenschancen hat. Gleichzeitig können auch fruchtbare Weidegründe eher entdeckt oder wiederentdeckt werden. Dadurch erhöht sich die Überlebenschance für alle Herdenmitglieder.
• Wenn ein Raubfeind ein bestimmtes Tier aus der Gruppe anvisiert, kann die Gruppe den Angreifer attackieren und vertreiben. Entschließt sie sich zur Flucht, kann der Raubfeind die Spur des anvisierten Tieres im Getümmel schneller verlieren.
• In bestimmten Situationen erlaubt der Leithengst die Nähe eines anderen Hengstes. Durch die Kooperation von zwei Hengsten ist die Herde besser vor anderen streunenden Hengsten und Angreifern geschützt.
• Der Genpool der gesamten Gruppe ist besser geschützt, weil Waisenfohlen von...