3. Ist Weltherrschaft das Ziel der Sowjetunion?
In den Vereinigten Staaten gründen sich Politik und öffentliche Meinung auf die beiden Voraussetzungen, dass die Sowjetunion a) ein sozialistischer Staat und b) ein revolutionäres und/oder ein imperialistisches System mit dem Ziel der Welteroberung sei. Jede dieser Voraussetzungen ist einer sorgfältigen Überprüfung wert. Gleichzeitig ist der Zusammenhang zu beachten, der zwischen der inneren gesellschaftlichen Struktur der Sowjetunion und ihren revolutionären bzw. imperialistischen Tendenzen zur Weltherrschaft besteht.
a) Ist die Sowjetunion sozialistisch?
Nach den Aussagen der Führer der Sowjetunion ist die „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ nicht nur dem Namen nach, sondern tatsächlich sozialistisch. Bereits 1936 hat Stalin (1947, S. 548) „den vollständigen Sieg des sozialistischen Systems in allen Bereichen der Volkswirtschaft“ proklamiert, und heute behauptet die Sowjetideologie, die Sowjetunion schreite rasch voran auf dem Weg zur Verwirklichung des Kommunismus – entsprechend der berühmten Devise von Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (K. Marx, 1962, S. 1191)
Man kann die Frage nach dem sozialistischen Charakter der Sowjetunion nur entscheiden, wenn man Marx’ Vision des Sozialismus mit der Wirklichkeit des Sowjetsystems vergleicht. Mit welcher Begründung bezeichnen die Sowjetführer von Stalin bis Chruschtschow ihr System als Sozialismus? Sie stellen diese Behauptung hauptsächlich auf Grund ihrer Definition des marxistischen Sozialismus auf, in der zwei Faktoren als von entscheidender Bedeutung für eine sozialistische Gesellschaft angesehen werden: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Planwirtschaft. Aber man kann den Sozialismus im Sinne von Marx oder auch im Sinne von Owen, Hess, Fourier, Proudhon usw. nicht auf diese Weise definieren.[12]
Was aber war der Kern der Gedanken von Marx und des marxistischen Sozialismus? Es ist erstaunlich, wie sehr die Marxsche Theorie verfälscht und herabgesetzt wird, [V-085] und das nicht nur aus Unkenntnis, sondern auch von vielen, die es besser wissen sollten und könnten. Wie Robert L. Heilbronner richtig bemerkt, verschleiern unsere Zeitungen und Bücher
die Tatsache, dass die Literatur des sozialistischen Protests zu den bewegendsten und moralisch engagiertesten Chroniken der menschlichen Hoffnung und Verzweiflung gehört. Diese Literatur ungelesen beiseite zu legen, sie zu verleumden, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, was sie repräsentiert, ist nicht nur empörend, sondern zeugt auch von einer gefährlichen Dummheit. (R. L. Heilbronner, 1960, S. 113°f.)
Das Verständnis der Schriften von Marx ist bereits im Ansatz blockiert durch das weit verbreitete unsinnige Klischee vom „Materialismus“. (In Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 46°f.) habe ich auf diesen Irrtum hingewiesen; dieselbe Ansicht vertritt auch J. Schumpeter, 1962.) Man nimmt an, dieser Materialismus bedeute, dass des Menschen wichtigstes Motiv sein Streben nach materiellem Gewinn – im Gegensatz zu den spirituellen, moralischen oder religiösen Werten – sei. Abgesehen davon, dass es ziemlich paradox klingt, wenn diejenigen, die Marx wegen seines angeblichen Materialismus attackieren, den Kapitalismus gegen den Sozialismus mit der Behauptung verteidigen, dass nur der Anreiz des Gewinns eine genügend starke Motivation sein könne, damit der Mensch sein Bestes gebe, ist die Theorie von Marx genau das Gegenteil dieses angeblichen Materialismus. Seine Hauptkritik am Kapitalismus lautet, dass dieser ein System darstelle, das egoistische und materialistische Motivationen belohne; und unter Sozialismus verstand er eine Gesellschaft, die Menschen, welche etwas sind, höher wertet als solche, die viel haben. Marx’ historischer Materialismus spricht niemals vom ökonomischen Faktor als von einer psychologischen Motivation, sondern stets als von einer sozio-ökonomischen Bedingung, die zu einer bestimmten Lebensweise führt und hierdurch den Charakter des Menschen formt. Idealismus und Materialismus sind bekanntlich philosophische Begriffe und haben mit dem Gegensatz von idealistischer und materialistischer Motivation nichts zu tun, wie jeder Gebildete eigentlich wissen sollte. Der Unterschied zum Idealismus Hegels liegt aber darin, dass nicht ausgegangen wird
von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklichen tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (K. Marx, Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 15°f. = MEW 03, S. 26; Hervorhebungen E. F.)
Oder wie Marx es an anderer Stelle in Die deutsche Ideologie formuliert:
Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. (MEGA I, 5, S. 10°f. = MEW 03, S. 21.)
Die Entdeckung von Marx bestand darin, dass die Lebenspraxis, so wie sie durch die ökonomischen Systeme bestimmt wird, das Fühlen und Denken der Betreffenden bestimmt. Seiner Auffassung nach kann das eine System zur Entwicklung materialistischer Tendenzen führen, während ein anderes das Überwiegen asketischer Tendenzen bedingen kann. (Mit dem Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ habe ich den Zusammenhang zwischen der sozio-ökonomischen Struktur einer [V-086] Gesellschaft und den vorherrschenden emotionalen und intellektuellen Haltungen zu analysieren versucht. Vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 379-392, sowie die ältere Abhandlung Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus, 1932a, GA I, S. 37-57.)
Das Hauptanliegen von Marx war genau wie bei Hegel die volle Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten: dass der Mensch sich aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Tatsächlichkeit hinüberführt. Nach Marx entwickelt der Mensch seine Möglichkeiten im historischen Prozess. Er sollte das sein, was er sein könnte, aber noch nicht ist. Mit der modernen Industriegesellschaft hat der Mensch nach Marx den Höhepunkt der Entfremdung erreicht. Im Produktionsprozess wird die Beziehung des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als etwas erlebt, das nicht zu ihm gehört. Während der Mensch hierdurch sich selbst entfremdet wird, wird das Produkt seiner Arbeit zu einem fremden Objekt, das ihn beherrscht. Der Arbeiter existiert „für den Produktionsprozess, nicht der Produktionsprozess für den Arbeiter“ (K. Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 514). Der Mensch wird aber nicht nur beherrscht von den Dingen, die er produziert, er wird es auch von den gesellschaftlichen und politischen Umständen, die er schafft:
Dieses Sich-Festsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung. (Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 22 = MEW 03, S. 33.)
(Man könnte sich kaum ein drastischeres Beispiel für diese Macht der Dinge über den Menschen ausdenken als die Atomwaffen, die der Mensch geschaffen hat und die ihn jetzt zu beherrschen scheinen.)
Dass der Mensch, der voll entwickelte, produktive Mensch zum Subjekt, und nicht zum Objekt der Geschichte wird, dass er aufhört, „in eine Abnormität (...) verkrüppelt“ zu sein (K. Marx, Das Kapital, 1. Band, MEW 23, S. 381) und ein voll entwickeltes menschliches Wesen wird, dies ist nach Marx das Ziel des Sozialismus.
Nach der Auffassung von Marx ist das Ziel des Menschen Unabhängigkeit und Freiheit. „Ein Wesen“, sagt Marx in Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (MEGA I, 3, S. 124 = MEW Erg. I, S. 544°f.),
gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen.
Nach Marx ist der Mensch nur dann unabhängig, wenn er „sich ein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art“ aneignet, und so „ein totaler Mensch“ wird.
Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität (sind) die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit. (...) Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. (...) An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller...