AUFBRUCH INS UNGEWISSE
Kap Lindesnes – Dølemo
Ich wache mit einem komischen Gefühl nach einer unruhigen Nacht auf. Es ist der 27. Mai, der Tag meines Aufbruchs. Vorfreude und Angst ergeben an diesem Morgen eine verwirrende Mischung. So lange habe ich diesem Tag entgegengefiebert, auf diesen Tag hingearbeitet. Alle Vorbereitungen sind erledigt und alle Hürden bis hierher überwunden. Gleich fahren wir das kurze Stück vom Campingplatz zum Leuchtturm am Kap Lindesnes. Dort möchte ich mich gerne mit dem Leuchtturmwärter treffen und mich in das große »Norge på langs«-Buch eintragen, das dort für alle Wanderer ausliegt, die wie ich vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkt von Norwegen laufen wollen. Ich habe schon so viel von dem Buch gehört und freue mich wie ein kleines Kind darauf, mich nun ebenfalls darin verewigen zu dürfen. Das goldene Buch der Wanderung, der feierliche Start der Tour!
Bereits am Vorabend habe ich mich im Besucherzentrum angemeldet. »Natürlich wird morgen früh jemand da sein, mit dir ein kurzes Interview für unsere Internetseite führen und dir dann das große Buch zeigen!«, versprach die junge Frau am Eingang und gab mir noch die Telefonnummer des Leuchtturmwärters. »Für alle Fälle«, sagte sie.
Um neun Uhr bin ich am Besucherzentrum – niemand da. Ich rufe die Nummer des Leuchtturmwärters an. Der will von dem Termin plötzlich nichts mehr wissen und meint, es gebe einfach zu viele Leute, die die Tour »Norge på langs« laufen wollen, sich in das Buch eintragen und dann mit Bus, Bahn oder wie auch immer abkürzen. Ich diskutiere mit ihm und bitte ihn, ein Einsehen zu haben, allerdings ohne Erfolg. Ich solle mich nach der Tour melden, wenn ich es tatsächlich geschafft hätte. Für mich bricht eine Welt zusammen. Ich habe mich so sehr auf diesen Moment gefreut, und nun das.
Flüche, böse Worte und Gedanken kommen mir in den Sinn – noch bevor es überhaupt richtig losgegangen ist. Aber es nützt nichts, der Mann lässt einfach nicht mit sich reden. Zudem müssen meine Eltern langsam nach Kristiansand aufbrechen, um rechtzeitig die Fähre zurück nach Dänemark zu erreichen. Also geht es mit gehörigem Groll zum Straßenschild »Nordkapp – 2518 km«, um wenigstens ein anständiges Startfoto zu schießen. Doch als wäre das alles nicht schon genug, herrscht auch noch Schmuddelwetter. Es nieselt, und der Wind bläst mir um die Ohren.
Ich posiere vor dem Schild mit meinem riesigen unförmigen Rucksack, und wir machen schnell einige Fotos. Der große Startmoment könnte unromantischer und ernüchternder nicht sein. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Gefühlschaos und Panik machen sich in mir breit. Ich versuche den Abschied möglichst kurz zu halten, doch schon bald fließen die ersten Tränen. Ich wende mich ab, und meine Eltern steigen in ihr Auto. Ihnen ist anzusehen, wie schwer es ihnen fällt, mich gehen zu lassen. Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir uns erst Ende September wiedersehen – also in vier Monaten. Die Strapazen und Gefahren, die mich in der nächsten Zeit erwarten, kann keiner von uns richtig abschätzen. Für meine Eltern ist es sichtlich schwer, sich vorzustellen, was ich demnächst wohl zu meistern haben werde. Von ihnen habe ich jedenfalls nicht den Drang, die Welt wandernd zu entdecken. Ich kann mich als Kind nur an einen richtigen Wanderurlaub im Schwarzwald erinnern, damals haben wir zusammen mit meiner jüngeren Schwester das beschauliche Örtchen Ottenhöfen und dessen Umgebung zu Fuß erkundet. Uns zog es allerdings schon immer in den Norden, oft fuhren wir bis zu dreimal im Jahr nach Dänemark, verbrachten den Urlaub in gemütlichen Ferienhäusern und lernten so die skandinavische Lebensart kennen.
Langsam setze ich mich in Bewegung. Das Auto meiner Eltern verschwindet schnell um eine Kurve. Beim Anblick der Rücklichter komme ich mir vor wie ein ausgesetzter Hund. Meine Emotionen stehen kopf. Fühlt sich so der große Traum an? Aber gut, ich habe es ja so gewollt, und da muss ich jetzt durch. Etwas widerwillig trotte ich an einem Straßenschild vorbei: 27 Kilometer sind es bis nach Vigeland, wo ich die erste Nacht verbringen möchte. Die Aussicht auf die endlosen Kilometer Straße hebt nicht gerade meine Stimmung, ganz im Gegenteil.
Die ersten beiden Stunden vergehen mit vielen Tränen und unkontrollierten Gedanken. Die reinste Achterbahn. Ich habe es tatsächlich geschafft, meinen großen Traum wahr werden zu lassen, aber im Moment bin ich nur unendlich einsam und traurig, hier allein zu sein. So habe ich das bisher noch nicht erlebt, auch wenn ich schon häufiger allein auf Tour war. Denn meist hatte niemand Zeit oder Lust, mit mir zusammen den Rucksack zu packen, da bin ich dann oft allein losgezogen. Es gibt allerdings einen ziemlich großen Unterschied zwischen zwei Wochen Urlaub und vier Monaten Abenteuer mit offenem Ausgang – das wird mir gerade sehr schmerzlich bewusst.
Die hügelige Straße führt mich immer wieder an einzelnen bunten Häusern aus Holz vorbei, die mit ihren großen Gärten und Blumen vor der Tür so typisch für Norwegen sind. Verlief sie anfangs noch parallel zur Küstenlinie der Lindesnes-Halbinsel, kann ich das Meer mittlerweile nicht mehr sehen. Auf meinem Weg komme ich an einer großen Fabrik für Kontrastmittel, die beim Röntgen eingesetzt werden, vorbei – in der idyllischen Landschaft so weitab vom Schuss wirkt sie seltsam deplatziert. Als ich Spangereid, den ersten Ort meiner Reise, endlich erreiche, regnet es immer noch. Also entschließe ich mich, in einer Tankstelle Zuflucht zu suchen und eine Pause einzulegen. Ich kaufe eine Solo-Limonade, die norwegische Variante der Fanta, und setze mich an einen der Tische. Draußen fährt ein Pick-up vor, und ein Handwerker kommt herein, um seine Mittagspause zu machen. Mit einer großen Mahlzeit nähert er sich einem der Tische neben mir. Der Mann ist so um die fünfzig, trägt eine Hose mit verstärkten Knien und ein Flanellhemd, das mit Mörtel besprenkelt ist. Er sieht meinen Rucksack mit dem BVB-Aufnäher und fragt mich, sichtlich erstaunt, auf Deutsch: »Was machst du denn hier bei dem Wetter?«
»Ich laufe zum Nordkap«, antworte ich, selbst etwas über mich und mein Vorhaben verwundert.
»Mensch, du hast ja Humor! Wie kommt man denn auf so eine Schnapsidee?«
Eine durchaus gute Frage! Schnell komme ich mit dem Deutschen ins Gespräch, der vor ein paar Jahren nach Norwegen ausgewandert ist und hier als Fliesenleger arbeitet. Seine Geschichte interessiert mich, ich träume auch immer mal wieder davon, nach Norwegen auszuwandern. Die Natur und die gelassene Art der Norweger haben es mir angetan. Außerdem liefert mir unsere Unterhaltung eine gute Ausrede, um bei dem Wetter – es regnet mittlerweile Bindfäden – meine Pause zu verlängern.
Jürgen schwärmt mir von den Arbeitsbedingungen, dem Lohn und den Sozialleistungen in Norwegen vor. Für ihn scheint das Land das Paradies auf Erden zu sein. Ursprünglich stammt er aus der ehemaligen DDR. Nach der Wende hat er zweimal mit vielen Hundert unbezahlten Überstunden seinen Job verloren. Da hat er seinen Mut zusammengenommen und in Norwegen einen Neuanfang gewagt, zunächst ohne Familie, die erst später nachkam. Am Anfang dachte er, die Kollegen würden ihn foppen, wenn sie früh Feierabend machten oder begonnene Arbeiten einfach am nächsten oder übernächsten Tag vollendeten. Mittlerweile besitzt Jürgen hier ein schmuckes Eigenheim, spricht fließend Norwegisch und hat viele neue Freunde gefunden, seine Familie fühlt sich wohl. Er bereut es, den Schritt nicht schon viel früher gemacht zu haben.
Unsere Pause ist nun schon sehr viel länger ausgefallen als geplant. Wir verabschieden uns herzlich, und Jürgen wiederholt kopfschüttelnd: »Mensch Junge, viel Glück, du hast echt Humor!« Schon ist er weg, und ich stehe wieder im Regen. Ich folge weiter der Landstraße, mache unzählige Pausen und passiere eine große Straßenbaustelle. Auch hier fragen mich die Arbeiter, warum ich so schwer bepackt zwischen den Baggern und Kippern herumlaufe. »Ich laufe zum NORDKAP!«, brülle ich durch den Lärm und ernte erst Kopfschütteln und dann nach oben gereckte Daumen. Ich kann mir schon vorstellen, was die sich denken. Aber was soll’s, die Jungs müssen arbeiten, und ich versuche gerade, meinen Lebenstraum zu verwirklichen. Schon irgendwie merkwürdig.
Am späten Nachmittag erreiche ich völlig fertig und mit schmerzenden Füßen den Ort Vigeland. Das erste Etappenziel wird mit einer eiskalten Cola gefeiert. Ich sitze auf dem Boden vor dem Kiwi-Supermarkt und bin echt froh, es bis hierher geschafft zu haben. Nur eine Unterkunft für heute fehlt mir noch. Der Campingplatz kommt nicht infrage, der liegt ein paar Kilometer außerhalb und würde einen Umweg bedeuten. Ich kaufe noch kurz für das Abendessen ein und begebe mich dann wieder auf die Straße. Ich hoffe, auf irgendeiner Viehweide oder bei einem Bauern auf der Wiese übernachten zu können. Doch leichter gesagt als getan.
Nach einer Stunde, in der die Verzweiflung immer größer wird, finde ich im Vorgarten einer jungen Familie ein Plätzchen, wo ich mein Zelt aufstellen darf. Mein tolles neues Zelt, das ziemlich leicht ist und das ich mir extra für diese Tour zugelegt habe, bietet mir einen grandiosen Ausblick auf die Garagen des Hauses, malerisch untermalt vom Brausen der vorbeirasenden Lkw. Sauber, lebe deinen Traum, denke ich mir so, nur noch 119 weitere Tage! Aber hey, ich habe den ersten Tag mit ungefähr dreißig gewanderten Kilometern...