[1]1 Beschreibung des Gegenstandsbereiches
Persönlichkeitstests: Wenig Einsatz trotz hoher Leistungsfähigkeit
Seriöse, wissenschaftlich belastbare Persönlichkeitstests werden in deutschen Organisationen gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit nach wie vor selten eingesetzt. Dies gilt auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und der Anwendungshäufigkeit im westlichen Wirtschaftskontext überhaupt (vgl. z. B. Ryan, McFarland, Baron & Page, 1999), was vielfach am schwer überschaubaren Testangebot und an geringer Erfahrung mit den Instrumenten in den Unternehmen liegt. Zum anderen bestehen häufiger Vorbehalte, die von dubiosen „Psychotests“ und unprofessioneller Anwendung herrühren. Ebenso lassen sich jedoch auch überzogene Erwartungen antreffen. Trainer und Berater hingegen machen reichlich Gebrauch von Tests aller Art und setzen diese in Trainings, Coachings usw. ein. An den genannten Aspekten setzt dieses Kapitel an – es beschreibt zum einen, was einen berufsbezogenen Persönlichkeitstest ausmachen sollte. Zum anderen wird dargestellt, welche Ziele mit dem Einsatz realistischerweise verbunden sein können und welcher Nutzen zu erwarten ist.
Obwohl der vorliegende Band auf die Anwendung persönlichkeitsorientierter Verfahren im Kontext von berufsbezogener Personalauswahl und Personalentwicklung fokussiert (vgl. auch Hossiep, 2013), reicht die Relevanz persönlichkeitsorientierter Ansätze weit darüber hinaus. So ist in den beiden letzten Dekaden nicht zuletzt durch den Einsatz metaanalytischer Methoden die Gültigkeit von Persönlichkeitsmaßen für verschiedenste sozial bedeutsame Kriterien noch deutlicher geworden (z. B. Wohlbefinden, Zufriedenheit, körperliche und geistige Gesundheit; vgl. Borkenau, Friedel & Wolfradt, 2011).
Ozer und Benet-Martinez (2006) kommen diesbezüglich zusammenfassend zu folgender Einschätzung (vgl. auch Muck & Wesche, 2014):
Personality has consequences. Measures of personality have contemporaneous and predictive relations to a variety of important outcomes. Using the Big Five factors as heuristics for organizing the research literature, numerous consequential relations are identified. Personality dispositions are associated with happiness, physical and psychological health, spirituality, and identity at an individual level; associated with the quality of relationships with peers, family, and romantic others at an interpersonal level; and associated with occupational choice, satisfaction, and performance, as well as community involvement, criminal activity, and political ideology at a social institutional level (S. 401)
1.1 Persönlichkeitstests in Personalauswahl und -entwicklung
Zwei Anbietergruppen: Testverlage und Beratungsgesellschaften
PersönlichkeitsStruktur-Tests und Typen-Tests
Der Markt für berufsbezogene Persönlichkeitstests (vgl z. B. Hossiep, Paschen & Mühlhaus, 2000; Sarges & Wottawa, 2004; Kanning & Holling, 2002; Erpenbeck & von Rosenstiel, 2007) ist von zwei wesentlichen Anbietergruppen [2]gekennzeichnet. Zum einen finden sich immer mehr auf den Berufsbereich ausgerichtete wissenschaftlich-standardisierte Testverfahren, die im Wesentlichen von den bekannten Testverlagen (vor allem der Hogrefe Verlagsgruppe) angeboten werden Zum anderen ist eine große Anzahl von Beratungsgesellschaften auszumachen, die entweder aus dem Ausland importierte, oder selbst entwickelte Verfahren, vielfach in einem Lizenzmodell, offerieren. Das Angebot umfasst vor allem Persönlichkeits-Struktur-Tests (wie z. B. 16PF; OPP, 2009) und Typen-Tests (wie z. B. GPOP; Golden, Bents, Blank & Diergarten, 2014). Grundsätzlich sind zwei Zielrichtungen des Einsatzes zu unterscheiden mit entsprechenden Auswirkungen auf die Durchführung (vgl. Kap. 3.4). Bei Fragestellungen, die auf Auswahl- und Selektionsprozesse fokussieren, gilt es, unter den Kandidaten eine Unterscheidung hinsichtlich verschiedener Merkmale (z. B. Motivation, Soziale Kompetenzen) zu ermöglichen. Auf dieser Differenzierung bauen dann unter anderem Personalentscheidungen (z. B. Einstellung, Aufnahme in Nachwuchsgruppe, Beförderung) auf. Im Gegensatz dazu konzentriert sich der Einsatz von persönlichkeitsorientierten Verfahren im Kontext der Personalentwicklung häufig auf die Unterstützung der Laufbahnentwicklung der Teilnehmer. Hilfsmittel dabei sind etwa Selbstbild-/Fremdbild-Abgleiche auf Basis von Feedbackprozessen oder Standortbestimmungen. Im Rahmen von Trainingsmaßnahmen dienen Tests vielfach dazu, den Teilnehmern Grundwissen über Persönlichkeitsunterschiede zu vermitteln. So finden TypenTests ihren Einsatzschwerpunkt meist in Seminaren (z. B. Kommunikationsoder Verkaufsschulungen, Persönlichkeits- oder Führungstrainings) sowie in Teamentwicklungen
Solche Tests sind in der Regel kompakt, umfassen wenige Merkmale der Persönlichkeit (z. B. lediglich zwei beim persolog Persönlichkeits-Profil, s. Kap. 3.2.7), und die Ergebnisse enthalten häufig keine ausdrückliche Wertung, da alle resultierenden Persönlichkeitstypen positiv beschrieben werden und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die Typen-Tests haben meist einen die Gesamtpersönlichkeit umfassenden Entwicklungshintergrund und zielen nicht speziell auf den beruflichen Lebensbereich. Persönlichkeits-Struktur-Tests enthalten in der Regel eine größere Zahl von Dimensionen (z. B. 16 beim 16PF oder 14 beim BIP, s. Kap. 3.2), beanspruchen somit mehr Bearbeitungszeit, und bieten in den Ergebnissen mehr Breite und Tiefe. Die resultierenden Profile erlauben eine qualitative und quantitative Bewertung, z. B. in Hinblick auf die Passung zu bestimmten beruflichen Anforderungen. Sie eignen sich auch für Trainings, ebenso für Personalauswahl, Platzierung und Beratung (vgl. z. B. Laux, 2007; Hossiep, 2007). Tests unterscheiden sich auch darin, wie konkret zu den einzelnen Merkmalen Entwicklungshinweise gegeben werden
Preis-/Leistungsverhältnis sehr unterschiedlich
Leistungen und Kosten der einzelnen Verfahren sind häufig wenig transparent, und insofern sind ohne eine vertiefte Beschäftigung mit der Materie – wozu dieser Band die Möglichkeit bietet – kaum sinnvolle Vergleichsmöglichkeiten [3]vorhanden. In jüngerer Zeit sind zwar verschiedene Übersichtsbände mit Auflistungen der Verfahren veröffentlicht worden, aber eine solide Bewertung der einzelnen Tests ist häufig nicht zu leisten. Die Auswahl von Verfahren für den Einsatz in Organisationen kann sich demzufolge meist nicht auf wirklich aussagekräftige Informationen stützen. Recherchen ergeben, dass für die im Prinzip gleiche Leistung (einmaliger Einsatz und Auswertung eines bestimmten Typen-Tests zur persönlichen Weiterentwicklung des Testteilnehmers) je nach Anbieter Kosten von ca. 10 bis zu 2.000 Euro anfallen können. Der wesentliche Unterschied liegt häufig darin, ob der Anbieter lediglich das Testmaterial und eine Anleitung vertreibt, oder ob er selbst im Rahmen einer Beratungsleistung Auswertungen vornimmt und Interpretationshinweise liefert. Letztere haben z. T. einen beträchtlichen Umfang und werden häufig in Form eines Ergebnisreports als gesonderte Dienstleistung angeboten, für die durchaus 4-stellige Beträge pro Teilnehmer anfallen können. Inhaltlich bestehen diese Reports in der Regel aus mehr oder weniger grobkörnigen, vorgefertigten Textbausteinen, die von einer Software je nach Teilnehmerantworten zusammengestellt werden.
Auffällig im Markt ist weiterhin die große Spannbreite in Bezug auf die vertrieblichen Aktivitäten der Anbieter. Während z. T. zu wissenschaftlich fundierten Verfahren kaum Werbung geschaltet wird, werden andere, weit weniger elaborierte Angebote hochprofessionell gestaltet, vermarktet und über diesen Weg ausgesprochen erfolgreich abgesetzt. Die Auswahlentscheidung der Kunden des Verfahrens wird häufig durch fehlenden fachlichen Hintergrund erheblich erschwert, sodass bestimmte Verfahren nicht zuletzt durch ihre schlichte Eingängigkeit offenbar deutlich attraktiver erscheinen. Zudem existieren in den Unternehmen selbst kaum Ansprechpartner, die eine qualifizierte Beratung gewährleisten können. Ähnlich wie bei Horoskopen erscheinen viele Testergebnisse oberflächlich betrachtet durchaus plausibel (vgl. hierzu das Potenzialgutachten in Kap. 3.1.7). So lassen sich auf diese Weise hanebüchene „Testverfahren“ mit pseudowissenschaftlichem Anstrich erfolgreich vermarkten (vgl. Schwertfeger, 2002, 2004; Kanning, 2010, 2012; Buchhorn, 2011). Dies ist insbesondere deshalb problematisch, weil beim Einsatz von Testverfahren zur Personalauswahl und -entwicklung die Folgen von Fehlentscheidungen für Person und Organisation besonders gravierend sind. Insofern lohnt sich gerade hier die Berücksichtigung folgender Empfehlungen, um keine Fehlinvestitionen zu tätigen (vgl. auch den detaillierteren Fragenkatalog zur Testauswahl auf der beiliegenden Karte):
Bei der Entscheidung für einen Test zu prüfen
– Verfahren umfassend erläutern lassen, bei Lizenzierungen auch einmal die Originalangaben der Entwickler durchsehen. Gelegentlich sind die Entwickler deutlich offener in ihren Ausführungen und gestehen die Grenzen klarer ein bzw. kennen diese besser als die Berater vor Ort.
– Soweit eine „Black Box“ vorhanden ist, also Bereiche der Auswertung o.Ä., die der Anbieter nicht offenbaren will, sollte dies besonders kritisch [4]hinterfragt werden. Bisweilen wird damit nur fehlende Substanz bzw. eigene Unkenntnis vor den Augen der Kunden verborgen (Bsp.: Auf Fragen zur exakten Auswertungsprozedur wird geantwortet: „Das ist doch alles nur höhere Mathematik“). Interessenten sollten sich genau erläutern lassen, was die schützenswerten...