Jugendliche als Subjekt der Medienszenen
Seit den fünfziger Jahren gibt die eben geschilderte These nur die halbe Wahrheit wieder. Dies betrifft sowohl den Vorwurf, der moderne Mensch werde an den Kinosessel gebannt und die Welt bewege sich um ihn herum, als auch die Meinung, thematisiert werde ausschließlich das, was die Produzenten und ihre Auftraggeber für wichtig halten. Beide Aspekte lassen sich in Frage stellen.
So sind Jugendliche nach allen vorliegenden Daten relativ unbefangene und vorurteilsfreie Mediennutzer mit entschieden weniger Berührungsängsten gegenüber den neuen Medien (Computern etwa) als ihre Eltern. Zwar ist ihre häufigste Freizeitbeschäftigung die Mediennutzung (fernsehen, Zeitung lesen, Radio hören, Schallplatten/Kassetten nutzen, ins Kino gehen, Video sehen). Sie folgen damit den omnipotenten Medienangeboten, denn Kindheit ist heute Medienkindheit, Jugend Medienjugend. Doch gleichzeitig steht das Zusammensein mit Gleichaltrigen oder sportliche Betätigung, jedenfalls den Wunschvorstellungen nach, an erster Stelle. Und die Mediennutzung erfolgt, soweit nur möglich, gesellig, also mit Freunden und Freundinnen, Geschwistern oder Eltern. Insofern besitzt die Altersgruppe Jugend ein eigenes Mediennutzungsprofil: Jugendliche benutzen unterschiedliche Medien am intensivsten und zugleich unterschiedlich. Sie nutzen unterschiedliche Medien, indem sie neben dem Fernsehgerät auch das Radio oder das Videogerät bevorzugen und vor allem gern ins Kino gehen – im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen. Zugleich befriedigen Medien Erwartungen und Bedürfnisse unterschiedlicher Art. Dabei spielen mindestens fünf Funktionen eine wichtige Rolle:
Erleichterung (die Sorgen vergessen);
Erregung und Abenteuer, Aggression und Spannung, Action;
Informationen erhalten, Neues erfahren;
Konversationsangebote bekommen;
Entspannung, Erheiterung (etwas bringt mich zum Lachen).
Jugendliche steuern also ihre Mediennutzung – und dazu gehört auch die Auswahl von Filmen und die Überlegung, welcher Kinobesuch geplant werden könnte – nach durchaus aktiven Interessen und verschiedenen Bedürfnissen. Auch in der Bevorzugung bestimmter Medien unterscheiden sie sich von anderen Altersgruppen. Wesentliche Leitmedien für Jugendliche sind auditive Medien: Radio, Schallplatten, Kassetten, auch Walkman. Es ist die Rock- und Popmusik, die für Jugendliche wichtig ist – neben dem audiovisuellen Filmangebot und dem Kino, das zunehmend zu einem Jugendfreizeit- und Treffort geworden ist. Hinzu kommt, daß Jugendliche auch die Orte, an denen sie Medien benutzen, weitgehend selbst festlegen und sich insofern nicht nur in den häuslichen Fauteuil oder den Kinosessel bannen lassen. Jugendliche verbringen zunehmend ihre Freizeit außer Haus und entziehen damit auch ihre Mediennutzung dem familiären Interaktionszusammenhang. Während 1974 noch 74 % der Freizeit an Werktagen und 71 % am Samstag zu Hause verbracht wurden, sank dieser Anteil 1984 an Werktagen auf 57 % und an Samstagen sogar auf 53 %. Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbringen also einen viel größeren Anteil ihrer freien Zeit außer Haus, als dies früher der Fall war, nämlich unter der Woche 43 % und an Samstagen 47 % (Bonfadelli, 1985, S. 131). Insofern sind Jugendliche Mediensouveräne, weil sie nicht nur bestimmen, welche Medien sie aus welchen Gründen auswählen, sondern auch, wo und wann.
Aber auch das zweite kritische Argument geht in die Brüche, will es sich generalisieren und keine Ausnahmen im Spektrum zulassen. Es bestand ja in dem Vorwurf, daß Jugendliche allenfalls zu Objekten der Berichterstattung und der Mediendarstellung (auch im Kino) gemacht würden. Dies stimmt ohne Zweifel bis in die fünfziger Jahre und in manchen Bereichen darüber hinaus. Es ist aber auch, wie die folgenden Kapitel zeigen, gerade der Zeitraum der zurückliegenden Jahrzehnte, in denen im Filmbereich – aber auch anderswo – sich ein Wandel vollzog, dessen Akzentuierung und Ausmaß, aber auch ästhetische wie kulturpolitische Bedeutung in diesem Band erörtert werden. Jugendliche sind es nämlich vor allem, die zunehmend einen alternativen Medienmarkt bevorzugen – handele es sich um die neuen Szenezeitschriften, die Fanmagazine oder eine Fülle von Fachzeitschriften, gehe es um spezifische Filme und Filmerszenen nicht nur im Videobereich, oder handele es sich um freie Radiosender, Radiogruppen oder Piratensender. In zwei der neueren Filme wird diese Entwicklung auf den Punkt gebracht: PUMP UP THE VOLUME (HART AUF SENDUNG, USA1990; Regie und Buch: Allan Moyle) handelt von einem intelligenten, aber eigenbrötlerischen Schüler in Arizona, der mit seinem illegalen Radiosender unangenehme und unterdrückte Wahrheiten aus dem Kleinstadtleben und dem Schulbetrieb verbreitet. Der ansonsten schüchterne Junge trifft als »Happy Harry mit dem Harten« den Nerv der Jugendlichen, die sich mit ihm und seinen Sprüchen identifizieren. Da er sich in unkonventioneller Weise Themen wie Drogenkonsum, Selbstmord und Homosexualität annimmt, ist ihm bald die Aufmerksamkeit der Schulleitung und der Behörden sicher. Durch eine unglückliche Verkettung von äußeren Umständen muß er seine Identität preisgeben und die Sendungen aufgeben. Bei seinen Altersgenossen hat er immerhin erreicht, daß sie sich solidarisieren und über Nacht ein neues Netz von Piratensendern entsteht.
Für den Piraten-DJ Happy Harry spielt die Auswahl der richtigen Musik eine wichtige Rolle; seine Eltern waren 1960er Hippies, und über sie ist er mit Klassikern wie Leonard Cohen herangewachsen. Kein Wunder, daß dessen Song »Everybody Knows« das Leitmotto der Musikprogramme von Harrys freiem Radio ist. Einen anderen Aspekt des Radiomachens berührt Isaac Julien in seinem Film YOUNG SOUL REBELS (Großbritannien 1990). Anfang der achtziger Jahre war der in East London geborene Regisseur Mitbegründer einer Film- und Videofirma für engagierte, junge schwarze Filmemacher und ihre kompromißlosen Filmprojekte. YOUNG SOUL REBELS spielt im Juni 1977 in London. Queen Elizabeth II. feiert ihr 25jähriges Amtsjubiläum. Eine Woche lang wird Tag und Nacht in den Straßen gefeiert. Die Sex Pistols sind die Stars einer bestimmten Szene; »No Future« ist die Botschaft der Stunde. Während sich die Skins und Anhänger der Nationalen Front mit den Punks prügeln, kämpfen die Schwarzen um ihre Rechte und Freiräume; ihre Musik beginnt, die Welt zu erobern. Soul liegt in der Luft. Eine unter vielen Stationen ist der von einer Autowerkstatt aus betriebene Piratensender »Soul Patrol«. Von hier aus schicken schwarze Jugendliche ihre musikalische Botschaft in den Londoner Äther: »One Nation Under A Groove.« Soul liegt in der Luft. Für die beiden DJs Chris und Caz bedeutet das Radio ihr Leben. Chris will unbedingt DJ bei einem kommerziellen Radiosender werden, und er unternimmt alle Anstrengungen, ins Geschäft zu kommen. Als ein junger Farbiger, ein Bekannter von Chris, nachts in einem von Homosexuellen besuchten Park ermordet wird, gerät Chris unter Verdacht und muß seine Karrierepläne vorübergehend zurückstecken, um den wahren Täter zu entlarven.
Die YOUNG SOUL REBELS machen Radio
Die Kriminalgeschichte dient als Klammer einer Reportage über die Londoner Disco- und Radioszene, in der die jungen Schwarzen nicht nur die Konsumenten, sondern auch die Macher sind oder sein wollen. Der Film YOUNG SOUL REBELS ist entsprechend schrill, laut und schräg wie das Programm von »Soul Patrol«: Wie Single auf Single folgt rhythmisch montiert Szene auf Szene.
Dieser Wandel der Perspektive – Jugendliche werden von Objekten (Rezipienten, Nutzern, Käufern) zu Produzenten in der Medienszene – gilt auch generell und für alle Medien. Auch hier sind die Filme in eine allgemeine Entwicklung eingebunden. Sicherlich haben die auditiven Medien eine gewisse Vorreiterfunktion. So waren es die amerikanischen Radiostationen, die in den fünfziger Jahren zunehmend jugendspezifische Musik förderten und sich damit ein neues Publikum schufen. Die Discjockeys der Stationen waren und sind teilweise Stars, vor allem seit dem Aufkommen der neuen Rockmusik in den fünfziger Jahren. Diese Discjockeys stellten sich mit Vornamen vor, sprachen ihre jugendlichen Hörer ebenso mit Vornamen an und gehörten meist selbst der jungen Generation an. Hinzu kam eine wachsende publizistische Selbständigkeit der Rockszene, dokumentiert in der Gründung der Zeitschriften »Rolling Stone« oder »Sounds«. Die Rockszene begann, sich im Bereich ihrer eigenen Publizistik kritisch mit ihren Traditionen und Entwicklungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen, und bald standen Janis Joplin, Rod Stuart, Joe Cocker oder Jim Morrison als Vertreter eines neuen Stils Ray Charles, Aretha Franklin und Tamlar Motown kritisch gegenüber. Gleichzeitig wurde die Aufnahme- und Wiedergabetechnik immer anspruchsvoller und schwieriger; es entstand eine eigene Studio-Welt mit unterschiedlichsten Ansprüchen und Realisationsmöglichkeiten (dazu: Baacke, 1988).
Daß gleiches für den Film gilt, ist die These dieses Buches. Zwar bleibt die Verkettung von jugendautonomen und authentischen Produktionen mit kommerziellen und marktgesteuerten Bestimmungsmomenten auch hier unaufhebbar. Aber...