Bernd Bonwetsch
Ein doppelter deutscher Blick auf Russland und seine Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“
Die nachstehenden Bemerkungen waren ein Diskussionsbeitrag zur deutsch-russischen Konferenz „Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland“ im Frühjahr 2012 in Moskau. Sie erheben nicht den Anspruch, neue Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, sondern fassen Ergebnisse und Einsichten langjähriger und fortlaufender Beschäftigung mit der Realgeschichte des Krieges selbst wie auch mit der Erinnerung an ihn im öffentlichen Raum in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland zusammen. Dabei zeigt sich ganz in Wilhelm von Humboldts klassischem Gedanken, dass Wissenschaft bei aller Erweiterung von Kenntnissen und Erkenntnissen ihre Ergebnisse nie als endgültig betrachten kann. Bei einem Beobachtungsgegenstand wie der sowjetisch-russischen Erinnerungskultur, die trotz aller Konstanten laufender Veränderung unterworfen ist, ist die Vorläufigkeit des Ergebnisses ohnehin selbstverständlich.
Der im Titel apostrophierte „doppelte Blick“ meint die west- und die ostdeutsche Wahrnehmung der Kriegserinnerung in der Sowjetunion bzw. in Russland. Er ist in mehrfachem Sinne befangen, denn ich schaue mit einem durch die eigene und westdeutsche Erinnerung an den Krieg geprägten Blick darauf, wie man in der DDR auf die Sowjetunion und diese wiederum auf den Krieg geschaut hat. Als ein 1940 geborener Deutscher gehöre ich überdies gerade noch zur abnehmenden Zahl derjenigen, die einen direkten, wenn auch wenig ausgeprägten persönlichen Bezug zu Krieg und Nachkrieg haben, fünf Jahre davon in der SBZ/DDR. Das mag diesem „doppelten Blick“ eine besondere Färbung geben.
Was die Erinnerung grundsätzlich betrifft, so ist es im Prinzip überall gleich: jedes Individuum und jede Gemeinschaft brauchen Erinnerung, oder, wie es György Konrad eingängig formuliert hat: Zukunft braucht Erinnerung. Sie dient der Handlungsorientierung und -Rechtfertigung, sie ist nötig zur Identitätsbildung von Individuen in der Gemeinschaft und ist somit Teil des Vielen, was größere menschliche Gemeinschaften konstituiert. Das Bedürfnis an historischer Orientierung für diese Gemeinschaften ist deshalb groß, weil Geschichte nun einmal das einzige „Laboratorium“ und Beobachtungsfeld für das Verhalten von Menschen in sozialen Gemeinschaften und für das Verhalten dieser Gemeinschaften selbst ist. Deshalb spielen die im Titel unserer Sektion apostrophierten Deutungskonflikte auch eine Rolle, die über bloßes Faktenwissen, über bloßes „richtig oder falsch“ hinausgehen. Denn zu den Erinnerungsbedürfnissen von Individuen und Gemeinschaften gehört, dass Erinnerungen positiv sind oder die zugrunde liegenden Ereignisse positiv gedeutet werden. Anders kann man Gemeinschaften nicht konstituieren. Das Bedürfnis nach positiver, identifikationsstiftender Erinnerung führt deshalb zumeist zur entsprechenden Deutung von Vergangenem und zur Verdrängung und „Vergessen“ von Negativem, was sich jedoch häufig oder sogar immer an der Erinnerung anderer Individuen und Gemeinschaften reibt.
Kriege eignen sich besonders gut zur Veranschaulichung dieses Problems, denn sie enden traditioneller Weise mit Siegern und Verlierern. Mit Versailles zum Beispiel verbinden Deutsche bei relativ oberflächlicher Betrachtung zweierlei Erinnerung: 1871 den Sieg über Frankreich, die Bismarcksche Reichsgründung und die Ausrufung des Preußenkönigs Wilhelms I. zum deutschen Kaiser; 1919 die Niederlage im I. Weltkrieg und den „Clemenceau-Frieden“, den Philipp Scheidemann, der erste sozialdemokratische Ministerpräsident Deutschlands, so schmachvoll fand, daß er nach kurzer Amtszeit zurücktrat, weil ihm „lieber die Hand verdorren“ sollte, als daß er das „Versailler Diktat“ unterzeichnen wollte. Im französischen historischen Bewusstsein haben die Ereignisse genau den entgegen gesetzten Stellenwert.
Das Problematische an dem Versuch, die Vergangenheit positiv zu deuten und Negatives zu verdrängen, ist nur, dass Individuen und Gemeinschaften von der unangenehmen Vergangenheit eingeholt werden können und zumeist auch werden: zum einen sind Historiker dazu berufen, nicht Mythen zu pflegen, sondern aufzuklären, wobei man allerdings leicht resignieren kann, weil die erinnernden Gemeinschaften liebgewordene Mythen nicht gern preisgeben. Zum anderen ist es die Umwelt, die an die negative Vergangenheit erinnert. Sie kann einem dann, bildlich gesprochen, geradezu auf den Kopf fallen. So hat es der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss 2011 am Beispiel der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in seinem Stück „Zwanzigtausend Seiten“ dargestellt.44 Will man dieses Bild auf uns Deutsche anwenden, so ist uns zum Beispiel Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die schon von selbst erledigt geglaubte und dem Vergessen anheim gegebene Zwangsarbeiter-Entschädigung „auf den Kopf gefallen“.
Dieses sehr konkrete Erinnerungsproblem, das die deutsche Öffentlichkeit erst angesichts in den USA angestrengter Entschädigungsklagen und entsprechender Boykottdrohungen wirklich beschäftigte, leitet als eigentlich deutsch-sowjetisches bzw. deutsch-russisches Kriegsthema direkt über zur Erinnerung an den Krieg und seiner spezifischen Dialektik von Erinnern und Vergessen.
Für die Sowjetunion war der Krieg die größte Herausforderung ihrer Geschichte seit 1917. Die Sowjetunion erlitt ungeheure Anfangsverluste und schien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen. Aber sie errang einen Sieg, den niemand in Berlin, London, Washington und sogar Moskau selbst erwartet hatte. Ja sie war der eigentliche Sieger über Deutschland. Selbstverständlich prägte der Sieg von Anfang an die sowjetische und prägt noch heute die russische Erinnerung an den Krieg. Alle anderen Länder zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden zumindest offiziell nicht besiegt, sondern vom Faschismus befreit – Deutschland dagegen wurde besiegt. Entsprechend hieß es in Stalins Tagesbefehl vom 9. Mai 1945 aus Anlaß der deutschen Kapitulation: „Der Große Vaterländische Krieg … ist siegreich beendet. Deutschland ist völlig zerschlagen.“ Die am selben Tag gestiftete und Millionen Soldaten verliehene Medaille trug die Inschrift: „Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“. Entsprechend gab es für die an der Berliner Operation beteiligten Soldaten die Medaille für die „Einnahme Berlins“, während es im Falle Warschaus, Prags und Belgrads Befreiungsmedaillen gab.
Ob die Rotarmisten sich anders verhalten hätten, wenn es offiziell um die Befreiung Berlins und Deutschlands gegangen wäre, ist zu bezweifeln. Aber die offizielle Behandlung als besiegte Nation bekamen die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone und insbesondere die Kommunisten schmerzlich zu spüren: Widerstand geleistet zu haben, selbst als Kommunist, galt zunächst wenig. Auch diejenigen, die insbesondere in den 7. Abteilungen, den Propagandaabteilungen der Roten Armee, den Krieg mitgemacht hatten, um Deutschland vom Faschismus zu befreien, hatten sich dieser Sicht zu fügen. Die Besatzungsmacht bestand darauf, dass die Deutschen insgesamt als mitschuldig am Faschismus und am Krieg und seinen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden mussten. Die KPD, die das ohne wirkliche Überzeugung akzeptierte, beklagte sich aber bei der Besatzungsmacht darüber, dass die anderen Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, diese Sicht nicht teilten, sondern sich bei der Arbeiterklasse einschmeichelten, sie von Schuld an Hitler freisprachen und sich dadurch gegenüber der KPD einen Vorteil verschafften.45
Die sowjetische Position blieb jedoch zunächst hart. Die Zensur strich aus allen Redemanuskripten und Druckerzeugnissen den Begriff „Befreiung“, der dem Empfinden des deutschen Widerstands und insbesondere der Kommunisten entsprochen hätte.46 Deutschland und die Deutschen sollten insgesamt für Hitler und die militärische Aggression bestraft werden. Stalin hatte zwar während des Krieges einen Unterschied zwischen Hitler und den Deutschen gemacht – bekannt ist der vielzitierte und in der Sowjetischen Besatzungszone auch viel propagierte Ausspruch vom 23. Februar 1942 über die Hitlers, die kommen und gehen, während das deutsche Volk und der deutsche Staat bestehen bleiben –, aber das entsprach 1945 nicht der offiziellen Politik. Seit Jalta sprach Stalin von Deutschland als einem „aggressiven“ Staat, der zunächst einmal bestraft und von den friedliebenden Staaten kontrolliert werden müsse. Das Experiment mit dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“, das auf ein Zusammengehen mit einer nationalen deutschen Opposition gegen Hitler gezielt hatte, wurde deshalb gegen Kriegsende sang- und klanglos fallen gelassen. Seine Mitglieder wurden jetzt nicht etwa als das „andere“, das bessere...