2 Rückblick und Ausblick
2.1 Bisherige Ergebnisse
Mit dem hier dargestellten Behandlungskonzept soll dem Zustand der extremen Unterernährung und vitalen Gefährdung der PatientInnen, der Komplexität der Anorexia nervosa mit vielfältigen psychischen und somatischen Komorbiditäten sowie Komplikationen Rechnung getragen werden. Entsprechend wurden die einleitend erwähnten Schwerpunkte gewählt (gesetzliche Betreuung und ggfs. richterliche Unterbringung, somatische Ausrichtung mit Anlage einer PEG, Abschluss eines Therapievertrags). Die Behandlung gliedert sich in die Einleitungs-, Behandlungs- und Abschlussphase (im Folgenden einfach Phase I–III genannt).
Die Behandlungen waren in den vergangenen Jahren langwierig. Während Phase I einen überschaubaren Zeitraum von einer bis zwei Wochen in Anspruch nahm, zog sich die Phase II häufig über einige Monate hin, da Komplikationen, Regelverletzungen und Manipulationen auftraten, die eine kontinuierliche Zunahme des Körpergewichts behinderten. Doch selbst wenn ein Verlauf ohne Komplikationen, Regelverletzungen und Manipulationen angenommen wird, muss bei einer Differenz von 16 kg zwischen Gewicht bei Aufnahme und Zielgewicht, wie es oft der Fall ist, mit einer Behandlungsdauer von mindestens 16 Wochen gerechnet werden, da die PatientInnen ja nicht mehr als ein Kilogramm pro Woche zunehmen sollten, um das Risiko von Komplikationen (z. B. einem refeeding-syndrome) geringzuhalten. Auch die Phase III nahm häufig mehr als zwei Wochen in Anspruch.
Eine vorläufige Auswertung hat ergeben, dass von 2000 bis 2011 etwa 80 PatientInnen mit Anorexia nervosa behandelt werden konnten. Die Daten von 53 PatientInnen mit Anorexia nervosa (50 weibliche und 3 männliche PatientInnen) konnten vorläufig ausgewertet werden. Die meisten PatientInnen (n = 42; 79,3 %) wurden mit hochkalorischer Sondenkost über eine PEG zusätzlich zur oralen Nahrungsaufnahme ernährt. 23 PatientInnen (43,4 %) zeigten den restriktiven Subtyp der Anorexia nervosa (im Folgenden ANR), während 30 (56,6 %) den Subtyp mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsreduktion (im Folgenden ANBP) zeigten. Sie hatten ein mittleres Alter von 26,3 " 7,3 Jahren (Angaben in Mittelwert " Standardabweichung) und waren seit 9 " 6,4 Jahren erkrankt. Ihre Behandlung nahm nach Mittelwert 141,7 " 80,9 Tage in Anspruch. Der mittlere BMI bei Aufnahme betrug 12,2 " 1,3kg/m2 und der mittlere BMI bei Entlassung bzw. Verlegung 16,4 " 1,8kg/m2. Die meisten dieser PatientInnen wurden in Einrichtungen zur stationären störungsspezifischen Psychotherapie entlassen bzw. verlegt.
In der folgenden Tabelle findet sich eine vergleichende Übersicht der Charakteristika von PatientInnen mit ANR gegenüber denen mit ANBP.
Tab. 1: Übersicht der Charakteristika von PatientInnen mit ANR und ANBP
Nach allen in Tabelle 1 aufgeführten Merkmalen unterschieden sich die Gruppen der PatientInnen signifikant allein hinsichtlich der Dauer der Erkrankung (p = 0,004) und der Dauer der Behandlung (p < 0,006). Dies könnte einerseits darauf hinweisen, dass PatientInnen mit ANBP aufgrund der Dauer der Erkrankung bis zur Aufnahme schwerer bzw. chronischer erkrankt waren, andererseits könnte dies auch auf einen Unterschied der Symptomatik hinweisen.
Aus diesem Grunde untersuchten wir den Gewichtsverlauf über 20 Wochen nach Aufnahme während der aktuellen Behandlung. Es zeigte sich ein deutlich rascherer Anstieg in der Subgruppe mit restriktiver Anorexia nervosa wie in der Abbildung 1 gezeigt. Dies erhärtete den Verdacht, dass die Symptomatik der PatientInnen mit ANBP allgemein als schwerer anzusehen ist und könnte mit den angewandten störungsspezifischen kompensatorischen Verhaltensweisen (z. B. Erbrechen) zusammenhängen.
Abb. 1: Gewichtsverlauf über 20 Wochen nach Aufnahme
Legende: Zunahme des Körpergewichts in Kilogramm über 20 Wochen nach Aufnahme. Für die statistische Auswertung wurde die Last-Observation-Carried-Forward Methode (LOCF) verwendet. Abkürzungen: ANR – Anorexia nervosa restrictive subtype; ANBP – Anorexia nervosa binge/purge subtype.
2.2 Vergleichbare Arbeiten
Bei einer Recherche fanden sich einige Publikationen aus den letzten Jahren zum Refeeding mit hochkalorischer Kost bei PatientInnen mit Anorexia nervosa, in denen vor allem retrospektiv vergleichbare Programme dargestellt werden (Diamanti et al. 2008; Gaudiani et al. 2012; Gentile et al. 2010; Imbierowicz et al. 2002; Rigaud et al. 2007; Rigaud et al. 2010; Robb et al. 2002; Zuercher et al. 2003). Daneben findet sich eine prospektiv und randomisiert durchgeführte Studie, in der eine Gruppe, die hochkalorische Kost über eine Nasensonde und oral erhielt, mit einer Gruppe verglichen wurde, die hochkalorische Kost nur oral erhielt (Rigaud et al. 2007). In den Arbeiten wird das Outcome hinsichtlich Rezidiv oder Komplikationen dargestellt, allein Rigaud et al. (2010) verglichen das Outcome zweier Gruppen, von denen eine natriumarme Diät erhielt. In sechs der acht Arbeiten wird von der Verwendung von Nasensonden berichtet. Während Imbierowicz und Mitarbeiter (2002) zwei Gruppen verglichen, die nur orale Nahrung zu sich nahmen und von denen eine zusätzlich hochkalorische Kost bekam, untersuchten Diamanti et al. (2008) das Outcome bei zusätzlich parenteraler Ernährung versus allein oraler Nahrungsaufnahme. In zwei Arbeiten wurden nur adoleszente PatientInnen eingeschlossen (Diamanti et al. 2008; Robb et al. 2002). Das Refeeding in den einzelnen Gruppen der Studien war mit zwischen 15,6 Tagen (Diamanti et al. 2008; Gruppe mit allein oraler Nahrungsaufnahme) und 12,3 " 1,9 Wochen (Imbierowicz et al. 2002; Gruppe mit Refeeding allein durch orale Ernährung mit Normalkost) sehr
Tab. 2: Studien zum »Refeeding« mit hochkalorischer Kost bei Anorexia nervosa
unterschiedlich lang. Deutliche Unterschiede weist auch das Körpergewicht vor und nach Refeeding in den Arbeiten auf. Hinsichtlich des Gewichts bzw. der Zunahme durch Ernährung mit hochkalorischer Kost sowie der Differenz des Gewichts zwischen Aufnahme und Entlassung erscheinen drei Arbeiten vergleichbar mit den oben dargestellten eigenen Ergebnissen (Diamanti et al. 2008; Imbierowicz et al. 2002; Robb et al. 2002). In diese drei Studien wurden allein erwachsene PatientInnen eingeschlossen. Allerdings weist die Dauer des Beobachtungszeitraumes wieder erhebliche Unterschiede mit einer Länge zwischen 56 Tagen (Rigaud et al. 2007) und 12,3 " 1,9 Wochen (Imbierowicz et al. 2002; Gruppe mit Refeeding allein durch orale Ernährung mit Normalkost) auf. Hervorzuheben ist, dass allein Rigaud et al. (2007) ein Follow-up nach drei und zwölf Monaten durchführten. Dabei zeigte sich, dass die Dauer bis zu einem Rezidiv in der Gruppe mit zusätzlicher Ernährung durch eine Nasensonde mit 34,3 " 8,2 versus 26,8 " 7,5 Wochen signifikant länger war (p < 0,05). Aber auch Gentile und Mitarbeiter (2010) berichteten, dass 29 von 33 PatientInnen, deren Verlauf von ihnen untersucht wurde und die nach Erreichen eines BMI von 13,5 " 1kg/m2 die stationär begonnene Behandlung ambulant fortsetzten. Sie erreichten schließlich einen BMI von 18,4 " 2,3kg/m2 (Born et al. 2015).
Insgesamt zeigt sich eine deutliche Heterogenität hinsichtlich Methodik und Ergebnissen der angeführten Arbeiten, wenn auch übereinstimmend von einer guten Akzeptanz der Sonden sowie einem besseren kurzfristigen Outcome, in Bezug auf Ernährungsstatus als auch Komplikationen mit zusätzlicher Sondenernährung berichtet wird. Allerdings wurde in keiner dieser Studien die hochkalorische Ernährung mit Hilfe einer PEG durchgeführt, wie in dem hier beschriebenen Behandlungskonzept vorgesehen. Auch weist die Gruppe, der in unserer Klinik behandelten PatientInnen neben den Arbeiten von Gentile et al. (2010) und Gaudiani et al. (2010) den niedrigsten BMI bzw. das niedrigste Körpergewicht vor Refeeding und damit einhergehend die deutlichste Differenz zum BMI bzw. Körpergewicht vor und nach dem Refeeding auf (Born et al. 2015). Ein weiterer Unterschied zu dem hier dargestellten Konzept findet sich in den meisten Programmen hinsichtlich einer psychotherapeutischen Unterstützung, die in unserem Behandlungskonzept je nach Körpergewicht in ihrem Ausmaß bzw. ihrer Zielsetzung deutlich abgestuft ist und mit regelrechten therapeutischen Sitzungen erst bei deutlich fortgeschrittener Gewichtszunahme begonnen wird.
Neben dem Refeeding mit Unterstützung durch eine Sonde gibt es auch Berichte über eine medikamentöse Unterstützung. So werteten z. B. Powers und Mitarbeiter Daten einer offenen Studie hinsichtlich der Gewichtszunahme von PatientInnen mit Anorexia nervosa unter Behandlung mit Olanzapin 10 mg pro Tag aus. Es wurden 18 PatientInnen eingeschlossen und über zehn Wochen behandelt. Vier PatientInnen schlossen die Studie...