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Was wirkt in der Erziehungshilfe?

Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten

AutorKlaus Esser, Michael Macsenaere
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783497602230
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Welche Faktoren wirken in stationärer und ambulanter Erziehungshilfe? Die Autoren stellen praxisrelevante Ergebnisse aus über 100 Wirkungsstudien übersichtlich dar und verdeutlichen deren Relevanz für die Arbeit in verschiedenen Settings. Sie beschreiben, was Wirkung in den Erziehungshilfen ist, wie sie gemessen werden kann und wie eine wirkungsorientierte Steuerung funktioniert. Im Fokus stehen dabei sowohl übergreifende Erfolgsfaktoren, wie Passung, Indikation, Elternarbeit und Case Management, als auch spezifische Wirkmerkmale von Heimerziehung und anderen Hilfearten.

Prof. Dr. phil. Michael Macsenaere, Dipl.-Psych., ist Direktor des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) und des "Centrums für angewandte Wirkungsforschung" in Mainz.

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Leseprobe

3 Was wirkt in der Erziehungshilfe?

Die Erziehungshilfen setzen sich aus einer Reihe spezifischer Hilfearten zusammen (Macsenaere et al. 2014). Jede dieser Hilfen kann wiederum auf spezifische Wirkfaktoren zurückgreifen (Kap. 4). Darüber hinaus gibt es aber auch Faktoren, die nicht nur für eine einzelne Hilfeart, sondern für das gesamte Spektrum der Erziehungshilfe die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen. Diese übergreifenden Faktoren werden in diesem Kapitel beschrieben.

Als primäre Grundlage hierfür dient eine überschaubare Anzahl an empirischen Studien, so z. B. die Jugendhilfe-Effekte-Studie (JES) (Schmidt et al. 2003), die EST!-Studie (Macsenaere et al. 2009) oder die Evaluation Erzieherischer Hilfen (Macsenaere/Knab 2004). Diese untersuchten sowohl beratende, ambulante als auch stationäre Hilfen zur Erziehung auf der Basis eines gemeinsamen Untersuchungsdesigns.

3.1 Passung

Passung wird von verschiedenen Studien (Rätz-Heinisch 2005; Finkel 2004; BMFSFJ 1998; Fröhlich-Gildhoff 2003) als wichtiges Wirkmerkmal benannt. Der Begriff „Passung“ betont die Notwendigkeit, Brüche zwischen den Lebenswelten des Jugendlichen und seiner Familie zu vermeiden und die Anschlussfähigkeit zwischen den Unterstützungsangeboten und der biographischen Vorgeschichte zu gewährleisten.

Es sind demnach nicht einzelne Interventionsformen oder Organisationsstrukturen, die eine spezifische Wirkung entfalten. Vielmehr stellt es eine zentrale Qualitätsdimension dar, ob die jeweiligen Strukturen und die personellen Konstellationen für den jeweiligen Jugendlichen bzw. die jeweilige Familie geeignet sind. „Je leistungsfähiger die Fachkräfte (Jugendamt, HzE-Einrichtung) darin sind, diese Passung herzustellen, umso wahrscheinlicher werden intendierte Wirkungen erreicht“ (Wolf 2007).

Andere Autoren heben eher auf die Konstellation von Kinder und Betreuungspersonen ab, die zueinander passen müssen, damit die Hilfe Wirkung erzeugen kann. Wenn die Personen im Helfersystem von den Kindern und Jugendlichen und den Erwachsenen der zu betreuenden Familie angenommen und akzeptiert werden, ist die Passung gelungen und damit ein wichtiger Wirkfaktor realisiert (Fröhlich-Gildhoff 2003; Rätz-Heinisch 2005).

Im Bereich der stationären Hilfen zur Erziehung ist die Passung von großer Bedeutung, weil hier in hohem Maße in die Lebenswelt des jungen Menschen eingegriffen wird. In der stationären Jugendhilfe ist die „gute Vorbereitung und Durchführung der Heimeinweisung“ (Gehres 1997, zit. n. Wolf 2007, 29) eine der Methoden, das Ziel der Passung zu erreichen. Daneben finden sich weitere Maßnahmen, die in stationären Settings einer gelungenen Passung Vorschub leisten können.

Wirksame Maßnahmen zur Herstellung einer gelungenen Passung in der stationären Hilfe zur Erziehung

gute Vorbereitung und Durchführung der Heimeinweisung,

Beteiligung von Kind und Eltern,

Einbezug/Mobilisierung der Ressourcen des früheren Lebensfeldes,

Zusammenarbeit zwischen Eltern und Heim,

Erhalt guter Beziehungen zu Bezugspersonen außerhalb des Heimes,

Vermeidung von Loyalitätskonflikten der Kinder,

Kenntnis und Einbezug der Professionalität und Persönlichkeit der Erzieher im Heim und

der offene Umgang mit den Ambivalenzen des Fremdunterbringungsprozesses (Wolf 2007).

3.2 Ausgangslagen

Bei jedem Kind bzw. Jugendlichen und seinem Umfeld liegen unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale und Lebenserfahrungen vor, die die Wirksamkeit von erzieherischen Hilfen entscheidend beeinflussen. In diesem Sinne konnten die nachfolgenden Ausgangsmerkmale empirisch als Risikofaktoren nachgewiesen werden.

Fortgeschrittenes Alter zu Hilfebeginn: Ein Effekt, der aus vielen Bereichen der Interventionsforschung bekannt ist, zeigt sich auch in den erzieherischen Hilfen: Mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen – und damit i. d. R. einer ausgeprägteren und verfestigteren Symptomatik – steigt die Wahrscheinlichkeit für Misserfolge und Abbrüche der Erziehungshilfen. So ist die Abbruchquote in der Altersgruppe der 14–17-Jährigen gegenüber der Altersgruppe der bis Sechsjährigen mehr als verdoppelt (IKJ 2011a). Umgekehrt sind die Erfolgsaussichten positiv, wenn es gelingt, möglichst frühzeitig auf einen Hilfebedarf zu reagieren. Dieser hochsignifikante Zusammenhang zwischen Alter und Hilfebeginn wurde schon 2002 von Arnold beschrieben und konnte mittlerweile jährlich repliziert werden (IKJ 2011a).

Wie Abb. 2 verdeutlicht, wird dieser Effekt durch den Aufbau von Ressourcen verursacht. Dieser gelingt in besonderem Maße bei Kindern bis zu einem Alter von sechs Jahren und nimmt dann mit zunehmendem Alter sukzessive ab. Die Reduzierung von Defiziten scheint dagegen kaum abhängig vom Alter der jungen Menschen zu sein.

Abb. 2: Effektivität und Alter bei Beginn der erzieherischen Hilfe

Mangelnde Kooperationsbereitschaft zu Beginn der Hilfe führt in der Regel zu einer geringeren Kooperation (s. u.) im Verlauf der Hilfe und sollte daher als Risikofaktor sehr ernst genommen werden.

Ausgeprägte Jugendhilfe-Karriere: Je mehr Hilfen bereits in Anspruch genommen wurden, desto höher ist die Änderungsresistenz des jungen Menschen, d. h. desto geringer ist die zu erwartende Effektivität (IKJ 2011a; Schmidt et al. 2003). Es gilt daher, die durchaus nicht seltenen Jugendhilfekarrieren zu vermeiden, indem frühzeitig eine adäquate Hilfe gewährt wird. In diesem Zusammenhang führt die des Öfteren praktizierte Vorgehensweise, prinzipiell zunächst ambulante oder teilstationäre Hilfen den stationären Hilfen vorzuschalten, zu einer verspäteten Inanspruchnahme der möglicherweise am besten geeigneten Hilfe. Durch dieses Vorgehen wird die Erfolgswahrscheinlichkeit der verspätet eingeleiteten Hilfe merklich reduziert.

Erzieherische Hilfen für junge Menschen mit Migrationshintergrund weisen geringere Effektstärken auf. Für diese Klientel gilt es zukünftig, spezifische und damit geeignetere Konzepte zu formen.

Sämtliche Formen von Fluktuation im Leben des jungen Menschen, wie z. B. Umzüge und Schulwechsel, reduzieren die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der Erziehungshilfe und müssen daher im Rahmen der Hilfeplanung als Risikofaktoren wahrgenommen werden.

Eine Reihe von Studie belegen erhebliche Unterschiede der Ausgangslagen von Mädchen und Jungen. So zeigen Mädchen häufiger internalisierende Auffälligkeiten, wie z. B. soziale Unsicherheit und depressive Verstimmtheit, Jungen dagegen eher externalisierende Auffälligkeiten, wie z. B. aggressives, dissoziales und delinquentes Verhalten. Auch werden Hilfen für Mädchen beträchtlich seltener und zudem noch später gewährt als für Jungen. Trotz der differierenden Ausgangslagen zeigt die Mehrzahl der Studien aber keinen signifikanten Geschlechtsunterschied hinsichtlich der Effektivität.

Ein wichtiger Indikator für den Umgang mit der Ausgangslage wurde bei der Befragung von ehemaligen Betreuten im Heim (Esser 2010) im Merkmal Respektierung von Eltern und Familie gefunden: Ehemalige, die das Gefühl hatten, dass ihren Eltern und ihrer Familie seitens der pädagogischen Fachkräfte nicht genug Respekt entgegengebracht wurde, bewerteten die Hilfe in der Einrichtung deutlich schlechter und tragen damit ein negatives Wirkmerkmal für den Erfolg der Jugendhilfe.

Aus dieser Untersuchung wissen wir ebenfalls, wie wichtig es für Kinder und Jugendliche im Heim ist, den Grund für die Unterbringung zu verstehen. Wer die Gründe für seinen eigenen Aufenthalt im Heim/Kinderdorf versteht, bewertet alle Qualitätsmerkmale und damit die gesamte Erfahrung im Heim besser als derjenige, für den die Unterbringung sinnlos und unverständlich bleibt. Die bessere Bewertung der Qualitätsmerkmale bedeutet, dass die stationäre Jugendhilfe für diejenigen, die die Gründe für die Unterbringung verstehen, eine bessere und nachhaltigere Wirkung entfaltet.

3.3 Indikation

Wie in Kapitel 2.6.4 erläutert, gelingt es dem Jugendamt zwar in gut 50% der Fälle, die am besten geeignete Hilfeart zu wählen; in ca. 30% der Fälle gelingt ihm dies dagegen nicht (Abb. 3). Die Jugendhilfe-Effekte-Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Hier besteht in den nächsten Jahren noch Qualitätsentwicklungsbedarf, um das inzwischen vorliegende Wissen für die Praxis der Jugendämter nutzbar zu machen (Arnold 2014a).

Einen Erfolg versprechenden Weg zeigen die sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen (Abb. 4) auf, die nachweislich zu einer verbesserten Indikation beitragen. Darüber hinaus bietet die Analyse von wirkungsorientiert dokumentierten Jugendhilfeverläufen die Chance, daraus konkrete Eignungskriterien für einzelne Hilfearten zu gewinnen (Macsenaere et al. 2009) und dies für den Entscheidungsprozess im ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) zu nutzen.

Abb. 3: Aktuelle Güte der Indikationsstellung im Jugendamt (Angaben in %)

3.4 Sozialpädagogische Diagnostik

In Hinblick auf die Arbeit im Jugendamt erweist sich eine systematisierte sozialpädagogische Diagnostik als sinnvoll, wie sie z. B. mit den bayerischen sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen vorliegt. In einer Kontrollgruppenstudie (Macsenaere et al. 2009) erwiesen sich die Diagnose-Tabellen als hoch reliables (zuverlässiges) und valides...

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