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E-Book

Die Möglichkeit der Normen

Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität

AutorChristoph Möllers
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783518738863
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR

Normen, so könnte man meinen, verlangen stets bestimmte Handlungen oder Unterlassungen und erfordern eine moralische Rechtfertigung. Christoph Möllers bestreitet das und behauptet, dass unser Umgang mit Normen an falschen Erwartungen leidet. Wir überfordern die Praxis des Normativen mit moralischen Ansprüchen und mit Hoffnungen auf Wirksamkeit. In seinem vieldiskutierten Buch entwickelt Möllers eine neue Sicht auf Normen und zeigt, welchem Zweck sie wirklich dienen. Darüber hinaus befasst er sich im neuen Nachwort zu dieser Ausgabe mit kritischen Einwänden gegen seine Theorie.



<p>Christoph Möllers, geboren 1969, lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.</p>

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Leseprobe

1
Gute Gründe?
Defizite philosophischer Normativitätskonzepte


[…] ob überhaupt ein Unterschied zwischen subjektiv und objektiv »Gutem« zu machen ist, kommt hier bei der bloßen Feststellung des Sinnes der Sollenssätze nicht in Betracht.[1]

 

Wenn Kategorien der praktischen Philosophie auch für das Verständnis sozialer Normen und für die Frage, wie sich diese angemessen beschreiben lassen, von Bedeutung sind, dann wird ein Blick auf die philosophische Debatte einen Einstieg bieten. Natürlich scheint es bereits verkürzt, angesichts einer kaum überschaubaren Diskussionslandschaft von »der« praktischen Philosophie zu sprechen, zumal philosophische Debatten sich dadurch auszeichnen, dass in ihnen nicht allein die Lösung, sondern bereits die Definition von Problemen umstritten ist. In kritischer Absicht nach Diskursgemeinsamkeiten zu suchen, mutet dann als vergebliches oder zumindest reduktionistisches Projekt an. Trotzdem soll dieser Versuch unternommen werden – aus der Vermutung heraus, dass zumindest die Problemidentifizierung in der zeitgenössischen praktischen Philosophie gar nicht so uneindeutig ist und für die Theorie des Normativen in der Tat eine entscheidende Weichenstellung darstellt.

Normindividualismus: Normen als Handlungsgründe


Der zentrale Ort des Handlungsgrundes. Es ist kein Zufall, dass die Frage, warum wir Gründe benutzen sollten, in der Philosophie auf kein großes Interesse stößt. Sie würde nur zu einer sinnlosen Verdoppelung oder in einen Regress führen, während über Gründe selbst damit wenig in Erfahrung zu bringen wäre. Anders ist dies für Historiker oder Soziologen.[2] Historiker beschreiben den Wandel sozialer Praktiken, und aus dieser Perspektive ist das Geben und Nehmen von Gründen keine Selbstverständlichkeit. Freilich ist auch in der philosophischen Diskussion der Begriff erst in jüngerer Zeit prominent geworden. Seit den Arbeiten von Stephen Toulmin[3] hat sich in der metaethischen Diskussion langsam die Ansicht durchgesetzt, Normen mit Gründen oder mit Handlungsgründen zu identifizieren. Diese These konnte auf Seiten der theoretischen Philosophie gut an die analytische Handlungstheorie anschließen, sie war aber in der praktischen Philosophie dauerhafter wirksam. Heute dreht sich der philosophische Streit über das Wesen der Normativität fast durchgehend um die Struktur von Gründen; es geht darum, wie Handlungsgründe zu denken sind, insbesondere ob sie einen tatsächlichen Effekt auf ein handelndes Subjekt haben müssen oder nicht. Eine nähere Rechtfertigung des Begriffs wird dagegen selten verlangt.[4] Klassisch geworden ist diese Dogmatisierung des Grundes in der vielzitierten These Scanlons, der Begriff des Grundes sei ein Primitivum,[5] das durch den Ausdruck »zählt zugunsten von« am einfachsten paraphrasiert wäre. Zumindest die Charakterisierung als primitiv ist zweifelhaft, schon weil Scanlon selbst bedeutend mehr über den Begriff zu sagen hat, als es einem Primitivum angemessen wäre.[6] Vor allem werden mit der Auswahl dieses Begriffs Vorentscheidungen über die Beschaffenheit des Normativen getroffen, die, seien sie angemessen oder nicht, jedenfalls so bedeutsam sind, dass sie einer ausdrücklichen Rechtfertigung bedürften. Die Identifikation von Normen mit »Gründen« für Handlungen – und nur auf derartige Gründe beziehen sich die in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen – im Gegensatz zu anderen möglichen »Trägern« oder »Formen« von Normativität, wie Gesetz, Regel, Urteil oder – ganz anders – Offenbarung oder Schönheit, beschränkt das Konzept der Normativität von vornherein in vielerlei Art und Weise.

Der Begriff des Handlungsgrundes bezieht Normativität exklusiv auf die Rechtfertigung einzelner Handlungen. Diese Beschränkung ist semantisch nicht zwingend. Das Wort »Grund« lässt sich, ebenso wie sein englisches Pendant »reason«, auch als Synonym für »Argument« verstehen und damit als ein allgemeinerer Gesichtspunkt, der sich nicht nur auf eine konkrete einzelne Handlung bezieht. So könnte man auch die oben zitierte Paraphrasierung Scanlons lesen. Betrachtet man aber den Argumentationsstil, insbesondere die Beispielauswahl in der gegenwärtigen moralphilosophischen Debatte,[7] sowie die intellektuelle Genealogie der Diskussion aus der analytischen Handlungstheorie, so dürfte klar sein, dass, wenn in ihr von Normativität die Rede ist, Gründe für eine einzelne Handlung einer Person gemeint sind. Der Sprachgebrauch des »Jemand hat gute Gründe für x« hat sich etabliert – und x bezeichnet eine konkrete Handlung.

Nun mag man bereits gegen diese erste Einordnung einwenden, dass in der praktischen Philosophie seit langem eine Auseinandersetzung um die Unterscheidung zwischen Werten und Normen geführt wird. Allerdings führen sehr unterschiedliche Herleitungsformen – Rechte, Pflichten oder Ziele – doch stets zur Figur des Handlungsgrundes.[8] Das gilt für die Theorie Scanlons, die Handlungsgründe konsequent als Implikationen natürlicher Eigenschaften von Gegenständen und Werte als eine abgeleitete Kategorie versteht, die Bündel von Handlungsgründen zusammenfasst.[9] Es gilt ebenso für das wertfundierte Modell von Joseph Raz, denn auch in diesem bleibt es dabei, dass alle Emanationen von Normativität auf Handlungen bezogen werden.[10]

Der Sprachgebrauch von den guten Gründen hat zudem eine gewichtige Intuition auf seiner Seite, nämlich die, dass eine handelnde Person, ein vernunftbegabter Mensch, der eine bestimmte Entscheidung trifft, als elementare Einheit zu verstehen ist, die als Ausgangspunkt sowohl einer handlungstheoretischen Analyse als auch einer Synthese zum Aufbau weiter reichender gesellschaftstheoretischer Modelle fungieren kann. Man könnte sagen, dass die Handlung in der praktischen Philosophie heute den Platz eingenommen hat, den der Aussagesatz, die Proposition, in der analytischen Sprachphilosophie besetzt: den der zentralen Erklärungseinheit. Hieran müsste jedoch die kritische Frage anschließen, ob es der praktischen Philosophie auch gelungen ist, dieser Fixierung auf Handlungsgründe eine Perspektive zur Seite zu stellen, die Ähnliches leistet wie in der Sprachphilosophie die Pragmatik, die die aussagesatzbezogene Semantik ergänzt. Solche Ergänzungen finden sich zwar in der politischen Philosophie, doch stehen sie eher in Konkurrenz zur praktischen Philosophie. Kurzum: Da die Bezugnahme auf Handlungsgründe für das philosophische Normativitätsverständnis der Gegenwart zentral ist, wird es im Folgenden darum gehen zu verstehen, welche Implikationen die Identifizierung von Normativität mit Handlungsgründen haben kann, insbesondere welche Verluste sie der Beschreibbarkeit normativer Phänomene zufügt.

Selbstbezüglichkeit der Debatte. Beginnen wir mit der Auseinandersetzung zwischen zwei Protagonisten der metaethischen Diskussion der letzten Jahrzehnte, Bernard Williams und Derek Parfit, um das Verständnis moralischer Gründe. Es wird bei dieser kurzen Darstellung gerade nicht darum gehen, Stellung zu beziehen und die unendlich oft nachgebauten Argumente um Internalismus und Externalismus,[11] Kognitivismus und Nonkognitivismus weiter zu verfeinern.[12] Interessant sind die Gemeinsamkeiten, die beide Ansätze an den Begriff des Grundes binden. Für Williams ist es ausgeschlossen, einen moralischen Grund als etwas nur Objektives zu konzipieren. Noch den praktisch plausibelsten faktischen Zusammenhang muss sich ein Akteur zu eigen machen, damit er als moralischer Grund bestehen kann: Die Tatsache allein, dass meine Handlung einem anderen Menschen Leiden zufügt, ist per se kein motivierender Grund, diese Handlung zu unterlassen.[13]

Für Parfit dagegen handelt es sich bei einem moralischen Grund um eine besondere Form eines objektiven, wahrheitsfähigen und rational erkennbaren Faktums. Die Tatsache, dass Paul, der in seinem brennenden Hotelzimmer festsitzt, sein Leben nur retten kann, wenn er aus dem Fenster in den Fluss springt, ist ein solcher Grund.[14] Die Feststellung, dass Paul aus dem Fenster springen soll, ist eine wahre moralische Aussage. Ihre Wahrheit ist erkennbar und hängt nicht von seiner internen Befindlichkeit ab.

Bemerkenswert an dieser Diskussion ist nun, dass man den Eindruck gewinnt, es ginge weniger um das richtige Verständnis von Normativität als um Eigenschaften des Begriffs des Grundes selbst: Williams fragt angesichts der Behauptung eines objektiven Handlungsgrundes, warum jemand von einem solchen Notiz nehmen sollte.[15] Für ihn kann ein Faktum ohne weitere Vermittlung mit der eigenen internen Befindlichkeit nicht handlungsrelevant werden. Darum reicht weder das Faktum noch die Überzeugung von dessen Richtigkeit als Handlungsgrund hin. Zutreffend ist an dieser Behauptung, dass das Wort »Grund« – in der deutschen Fassung noch deutlicher als in der englischen – wie auch die mit ihm verbundenen Beispiele stets auf eine konkrete Handlung verweisen. Aus Williams' Sicht wird die Person des Handelnden durch das Konzept eines objektiven Grundes übersprungen, das keine relevante Rolle für den Handelnden vorsieht. Der Begriff des Grundes – auch so, wie er von Parfit in seinen eigenen Beispielen benutzt wird – bleibt aber immer auf ein bestimmtes Subjekt und eine konkrete Handlung bezogen. Andere Beispiele finden sich in der metaethischen Diskussion so gut wie nie. Dies stellt Parfits These, es handele sich bei normativen Gründen um objektive Eigenschaften, seinem eigenen Sprach- und Beispielsgebrauch...

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