Juri Andruchowytsch
Sieben raue Februartage oder Die Rolle
des Kontrabasses in der Revolution
Das Leben von Wanderschauspielern steckt selbst in friedlichen Zeiten voller Herausforderungen und Gefahren. Gar kein schlechter Satz für den Anfang, finde ich.
Es war Ende Oktober, als die ganze »Albert«-Künstlertruppe in meinem heimatlichen Franyk[1] zusammenkam. Vor nicht allzu langer Zeit, aber auch nicht unlängst, stieß ich auf die Geschichte eines Mannes, der Albert Wyrosemski hieß und 1641 in Lemberg öffentlich verbrannt wurde. Die Geschichte passte in einige wenige Sätze, also entschied ich mich, gerade so viel hinzuzufantasieren, dass eine Erzählung daraus würde. Die schrieb ich sofort auf.
Albert Wyrosemski wurde bei lebendigem Leibe verbrannt für die »schändlichste menschliche Tat in der gesamten Stadtgeschichte«: Er hatte sich dem Bösen verkauft. Als er im unterirdischen Karzer des Bernhardinerklosters saß, schrieb er mit seinem Blut an die Mauer (Papier hatte er keines zur Hand), dass er seine Seele der Hölle überantworte. Darum geht es in der Erzählung, aber nicht nur darum.
Ein paar Jahre später nahm sich eine kleine Gruppe sehr talentierter Menschen des »Albert« an: Olja, Uljana, Anatolij, Mark. Nein, das war kein Zufall. Olja hatte ihn als erste so gelesen, dass sie darin Platz spürte für Uljanas Stimme, Gestik und Mimik, für Anatolis Schwarzweißgrafiken und Marks Kontrabass.
Platz und Raum.
So reifte in uns – manchmal unter Qualen, manchmal erstaunlich leicht – die Theater-Literatur-Musik-Multimedia-Performance »Albert oder Die höchste Form der Hinrichtung«. Wir zeigten sie auf drei verschiedenen Festivals, in drei völlig unterschiedlichen Situationen.
Auf dem Festival »ArtPole« in Unish spielten wir in einer Julinacht, unter Sternen, und der Reisig knackte im echten, lebendigen Feuer wie Knochen, wenn sie splittern.
Auf dem Festival »Meridian Czernowitz« spielten wir im bis zum letzten Platz gefüllten Schiller-(heute Kobyljanska-) Theater – ein so prächtiger Bau, dass am Tag, während wir probten, ein Hochzeitspaar nach dem anderen zur Fotosession anschwebte.
Auf dem Festival »GogolFest« spielten wir in der Kiewer »Promzona«, im neuerdings Kinosaal genannten Gebäude, und durch das löchrige Dach nieselte der Regen und schwebte Herbstlaub, ganz zu schweigen vom Erscheinen zweier lebendiger Tauben, einer schwarzen und einer weißen.
Ende Oktober verbrachten wir einige Tage damit, an unserer Aufführung zu feilen und sie zu verändern, indem wir sie mit neuen Episoden und lyrischen Abschweifungen anreicherten. All das im Hinblick auf eine kommende Tournee. Wir vereinbarten, dass sie in der zweiten Februarhälfte stattfinden sollte. Vielleicht in sieben Städten, vielleicht in neun, im Westen, Osten, Süden und natürlich in der Hauptstadt.
Damals, Ende Oktober, konnte keiner von uns ahnen, dass in der Ukraine bald Massenproteste beginnen würden, vereinigt unter dem Namen »Euromaidan«. (Ehrlich gesagt hatte ich diese Massenproteste schon seit einigen Jahren ungeduldig herbeigesehnt, aber nicht früher als 2017 erwartet).
Noch weniger konnten wir vorhersehen, dass er, der Euromaidan, gerade in der zweiten Februarhälfte seinen blutigen Kulminationspunkt erreichen und dass es allein an die hundert ermordete Demonstranten geben würde. Was die Verletzten, Entführten, Gefolterten und Verprügelten angeht, so kennen wir ihre endgültige Zahl (und wird sie endgültig bleiben?) immer noch nicht.
2. Die Geschichte beginnt
Ich kam am 1. Dezember auf den Euromaidan, dem Tag einer der mächtigsten Demonstrationen überhaupt, ausgelöst durch das beispiellos (damals noch beispiellos) brutale Vorgehen gegen friedliche Aktivisten, überwiegend, aber nicht nur junge, in der Nacht auf den 30. November. Es war der Anfang des Krieges, den das Regime Janukowytsch gegen uns alle führte. Auf die bestialische und blutige Einschüchterung reagierten die Hauptstadt und das ganze Land mit einer Million Demonstranten. Und ich wollte unbedingt einer von ihnen sein.
Ich blieb praktisch den ganzen Dezember in Kiew. Nie werde ich vergessen, wie wir in der Nacht auf den 11. von überall her zum Maidan strömten, um ihn mit unserer Menge, unserer lebenden Menschenmasse, vor dem Sturm der Polizeisondereinheiten zu schützen. In jenen Tagen und Nächten trugen wir noch keine Helme oder andere Schutzausrüstung. Wir hatten nur unsere Körper. Wenn eine kritische Anzahl davon auf dem Maidan steht, dann können wir ihn retten. So verstanden wir unsere Aufgabe. In der Nacht auf den 11. stoppten wir genau so ihren Ansturm – in nur wenigen Stunden waren wir mehrere Zehntausend. Die Glocken des Michaelsklosters läuteten über ganz Kiew, als befänden wir uns irgendwo im 13. Jahrhundert, und riefen die Menschen zum Widerstand auf. Es hatte etwas Archaisches, etwas Mittelalterliches.
Ein paar Tage später, am 14. Dezember, traf sich die ganze »albertinische« Truppe vor der wiedererrichteten Barrikade auf der Instytutska-Straße. Olja wollte von jedem wissen, ob wir wegen der Umstände die Februar-Tournee nicht vielleicht absagen sollten. Bis dahin waren es noch zwei Monate, doch konnte kein Zweifel bestehen, dass die Lage sich nicht beruhigen und der Maidan aushalten würde. Außer vielleicht, wenn man ihn mit Flammenwerfern und Panzern räumte. Aber das wäre das Ende der Welt. Nicht nur das Ende unserer Projekte, Erzählungen, Gedichte, Lieder, Vernissagen und Visionen, sondern unser aller physisches Ende.
Einmütig beschlossen wir, uns einem solchen Szenario zu widersetzen und nichts abzusagen. Dort, vor der Barrikade auf der Instytutska-Straße, drehten wir ein Video, in dem jeder von der überraschenden Aktualität des »Albert« sprach, über Schwarz, Weiß und die Kräfte der Nacht, die sich im Morgengrauen zurückziehen. Um nachts erneut vorzurücken.
Dann kam zu Schwarz und Weiß die Farbe des Feuers. Es brannten Autoreifen auf der Hruschewskyj-Straße, Scheite in den Metallfässern neben den Zelten, Aktivisten-Autos, Parteizentralen der »Regionalen«[2], Läden und Büros.
In dieser Zeit legten wir unsere Tournee endgültig fest: Vom 18. bis 25. Februar – Franyk, Ternopil, Kiew, Saporishja, Odessa. Als nächstes sollte noch Kamjanez-Podilskyj folgen, aber man bat uns, ein anderes Mal zu kommen: Alle seien auf dem Maidan, dem lokalen und dem in Kiew.
Also nur fünf Städte. Dabei hatten wir ursprünglich neun geplant. Und dann Gegenpläne entwickelt – alles abzusagen. Also war fünf gar nicht schlecht. Die Gegenpläne waren gescheitert: Kunst und Revolution marschierten gemeinsam. Keine Revolution widerspricht der Kunst, wird sie doch durch deren Ideen und Emotionen befeuert. Und umgekehrt – keine Kunst widerspricht der Revolution, balanciert sie doch ständig an der Grenze zur Zukunft.
Erst heute habe ich gedacht, dass die Woche zwischen dem 18. und dem 25. Februar gar nicht nur sieben, sondern siebenhundert Tage hatte. Wir sagten keine einzige Vorstellung ab, auch, weil sie, die im Zentrum von Kiew auf unsere Freunde schossen, nicht nur auf sie schossen, sondern ihnen ins Herz, in die Augen, in die Genitalien zielten, weil sie genau das wollten – das Ende von Theateraufführungen, Leben, menschlicher Würde, Achtung, Kreativität, Widerstand. »Kaum zu glauben, dass wir in völliger Dunkelheit begannen – eine Stunde vor dem Sturm auf den Maidan«, schrieb mir Olja gestern.
Und nun einige Fragmente aus jenen Tagen.
Am 18. Februar endete in Kiew ein seltsamer, vorgeschobener »Burgfrieden«, und die Auseinandersetzung auf Leben und Tod wurde wieder aufgenommen. Die Machtorgane nannten die Operation »Bumerang«. Sie lockten große Mengen von überwiegend friedlichen Demonstranten, Teilnehmer der sogenannten friedlichen Welle, die nicht einmal mit Holzschilden oder Helmen geschützt waren und in deren Reihen sich auch Frauen befanden, bis ans Parlament und bedrängten sie dann mit einer großen Zahl von Einsatzkräften aus verschiedenen Richtungen – aus der Hruschewskyj-, der Instytutska-Straße und den umliegenden Gassen. Schon nachmittags bewegten sie sich massiert in Richtung Maidan, fegten die Barrikaden hinweg und machten Schluss mit den Verwundeten. Und das nicht etwa schnell und schmerzlos: im Marijinski-Park neben dem Parlament haben Augenzeugen einen enthaupteten Torso gesehen. Um sechs Uhr abends befand sich der Maidan im Würgegriff eines eng geschlossenen Kreises. In den nächsten Stunden würde die Katastrophe eintreten – seine völlige Räumung.
Um sieben Uhr eröffneten wir die Vorstellung mit einer Schweigeminute.
Der Sturmangriff begann kurz nach acht. Wir rezitierten gerade die letzte Strophe von Antonytschs Gedicht »Die Posaunen des Jüngsten Tages«. Die letzte Strophe des letzten Tages. Im ganzen Saal waren wir die einzigen, die noch nicht wussten: Es hatte begonnen. Als der Akt kurz darauf zu Ende war, erhob sich das Publikum und applaudierte mit besonderem Nachdruck. Als wäre auch dies das letzte Mal. Da brannten schon die Ränder des Maidan. Es war die einzige Hoffnung seiner Verteidiger – dieser undurchdringliche Vorhang aus dem Rauch von brennenden Autoreifen, Holz und Lumpen und allem, was da war. Dieses Feuer war Verzweiflung.
»Andrij kann nicht reden«, sagte Uljana und steckte das Telefon weg. »Er hat nur eins gesagt: sie werden bis zum letzten Mann...