II. Ausgangspunkt – Politische Kommunikation im Alten Reich 1530–1650
Die These von der Obrigkeitsgläubigkeit des lutherischen Protestantismus ist festgeschrieben wie kaum ein anderes Interpretationsmuster zur Geschichte des 16./17. Jahrhunderts. Und obgleich jüngere Forschungen diese Interpretation wiederholt korrigiert haben,[67] hält sich diese vereinfachende Darstellung hartnäckig.[68] Umso aufschlussreicher ist der Blick auf die politica christiana, die sich seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum des Alten Reichs zu einer eigenen Wissensordnung entfaltete. Anhand der konkreten politischen Kontroversen lassen sich die Normen und Grundmuster nachvollziehen, die umstritten waren; aus ihnen setzte sich das Vokabular der politischen Sprachen zusammen.
1. Ungehorsam oder legitime Gegenwehr? Rechtfertigungsdebatten unter den protestierenden Reichsständen 1529–1546
Das europäische 16. Jahrhundert ist durch eine Zuspitzung der Diskussionen über Normen und Werte politischer Ordnungen und deren Geltungsanspruch geprägt; die Konfessionsspaltung schuf gegensätzliche Positionen im Binnenverhältnis von Herrschaftsordnungen. Dadurch, dass nunmehr zwei, seit 1648 drei christliche Konfessionen ihren absoluten Wahrheitsanspruch formulierten, der sich wechselseitig ausschloss, gab es keine Einigkeit mehr darüber, was als gerechte und im zeitgenössischen Verständnis deshalb als christliche Herrschaft zu gelten hatte. Der Anfang dieser Konflikte im Alten Reich lag in den Streitigkeiten zwischen protestantischen Reichsständen einerseits, katholischen Reichsständen und katholischem Kaiser andererseits. Sie entzündeten sich an der Frage, ob es für die protestantischen Reichsfürsten, die sich seit 1530 im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten, legitim sei, sich gegen den altgläubigen Kaiser mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen, falls dieser sie an der Ausübung ihres Glaubens mit Gewalt zu hindern beabsichtigte.[69] In den Auseinandersetzungen um die Einführung des Interim 1548–1550 differenzierten sich diese Debatten in Inhalt und Trägergruppen; sie verebbten aber auch nach dem Augsburger Religionsfrieden keineswegs, sondern verlagerten sich auf die Ebene der Territorien; dort sind sie der Forschung lange Zeit verborgen geblieben. Die Veränderungen in Gegenstand und Zielsetzung lassen sich am Wandel des Vokabulars der politischen Sprachen beschreiben.
In den konfliktgeladenen Jahrzehnten seit 1529/1530 verbanden sich römischrechtliche, lehnsrechtliche und theologische Argumentationen zu einem Geflecht von Rechtfertigungen, dessen sich die konfessionsverschiedenen Reichsfürsten ebenso bedienten wie der Kaiser. Im Laufe der Auseinandersetzungen der dreißiger bis späten fünfziger Jahre und anschließend der drei letzten Jahrzehnte des 16. und der beginnenden Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts differenzierten sich die Argumente; an allen Diskussionen waren adlige und/oder bürgerliche politische Entscheidungsträger, gelehrte Juristen und gelehrte Theologen beteiligt.
1.1. Protestation und Verteidigungsbündnis
Die Verfahren des Reichstages zur Lösung von Konflikten waren für religiöse Auseinandersetzungen nicht vorgesehen: Sie entstammten dem späten Mittelalter, für das die Einheit der Christenheit unbestritten war. Alle grundsätzlich neuen Konflikte, die den Reichstag im Zuge der reformatorischen Bewegung und der damit verbundenen Spaltung der Kurien erreichten, mussten mit den vorhandenen reichsrechtlichen Instrumenten gelöst werden; dies war der frühneuzeitliche Weg, Wandel zu bewältigen. Das Problem stellte sich erstmals im April 1529.[70]
Wenige Tage vor dem Ende des Speyrer Reichstages verständigten sich Kaiser Karl V. und die altgläubigen Reichsfürsten am 19.4.1529 darauf, dass der Reichsabschied in Sachen des Glaubens Gültigkeit erlangen sollte, ohne die Einwände der evangelischen Minderheit unter den Reichsfürsten zu berücksichtigen. Umgehend protestierten etliche dieser Mitglieder gegen den Abschied, der am 22.4.1529 in Kraft getreten war;[71] dies waren Kursachsen, Braunschweig-Lüneburg, Brandenburg-Ansbach, Hessen und Anhalt, zugleich schlossen sich 14 Reichsstädte an, unter ihnen Ulm, Straßburg und Nürnberg.
Eine Mehrheitsentscheidung, so ihr Argument, sei in diesem Fall unwirksam, denn es seien die «Ehre Gottes und das Gewissen» betroffen. Zudem könne ein einstimmig beschlossenes Gesetz, wie es der Wormser Reichsabschied von 1526 gewesen war, nicht mit einer Mehrheitsentscheidung wieder aufgehoben werden.[72] Folgerichtig erkannten die protestierenden Stände den Abschied von 1529 nicht an und hielten weiterhin an der Gültigkeit des Wormser Edikts fest, wonach Veränderungen des Kirchenbrauchs durch die evangelische Seite zulässig waren. Da ein Einigungsversuch scheiterte, tauschten die gegnerischen Gruppen am 24.4.1529 Zusicherungen des Gewaltverzichts in Glaubenssachen bis zur Einberufung eines Konzils aus. Damit war zwar die aktuelle Lage entschärft, der Kernkonflikt aber blieb bestehen.
In einem geheimen «Verständnis» beschlossen deshalb am 6.6.1529 im fränkischen Rodach einige der protestierenden Stände, nämlich Kursachsen, Hessen, Straßburg, Ulm und Nürnberg, Verhandlungen über ein festes Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Für die Zwischenzeit versicherten sie sich einander bewaffneter Hilfe für den Fall, dass die Gegenseite (die altgläubigen Stände und der Kaiser) militärische Gewalt anwenden oder andere Widrigkeiten auftreten sollten. Das geplante Verteidigungsbündnis barg massiven Konfliktstoff, der sich in der Frage konzentrierte, ob es sich auch gegen den Kaiser richten dürfe oder, in der zeitgenössischen Rechtssprache formuliert, wie der Kaiser legitimerweise «ausgenommen» werden könne. Damit war die Frage nach dem Recht auf «Gegenwehr» im Falle eines militärischen Angriffs durch den Kaiser gestellt; theologische und juristische Begründungen verzahnten sich im Folgenden zu einem dichten Feld theologiepolitischer Argumente, aus dem sich die politische Sprache der folgenden Jahrzehnte speiste.
1.2. Juristische und theologische Argumente: Gegenwehr und Notwehr
Im Lager der protestierenden Stände wurde diese Kernfrage durch gelehrte Juristen, Theologen und politische Entscheidungsträger intensiv diskutiert. Dabei sammelten sich etliche Argumente, die entweder traditionaler juristischer Logik folgten oder theologische Legitimationslinien hinzufügten. Für die Zeitgenossen kreiste die ganze Debatte um das Recht der «Gegenwehr» und der «Notwehr», der Begriff des «Widerstandes» erscheint in den reichsrechtlichen Quellen des 16. Jahrhunderts nicht.[73]
Den Ausgangspunkt bildete die «Ausnehmung» des Kaisers, d.h. die Treueaussage ihm gegenüber, die nach altem Herkommen für die Reichsfürsten analog zum Lehnsverhältnis galt, sofern der Kaiser nicht selbst Partei war. Trotz dieser eindeutigen Regelung war ihre Umsetzung in die Praxis höchst umstritten, der Konflikt zwischen altgläubigen und protestierenden Reichsständen also vorprogrammiert. In ihrer vorläufigen Übereinkunft hatten die Protestanten etliche mögliche Gegner aufgezählt (z.B. den Schwäbischen Bund), nicht aber den Kaiser. Das Verhältnis zu ihm musste für den Fall eines festen Bündnisses zuallererst geklärt werden. Und gerade das blieb in den internen Beratungen der protestierenden Stände kontrovers.
Zwei Positionen lassen sich erkennen: eine, die sich mit dem Namen des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler (1479–1534)[74] verbindet, der für eine «freie Ausnehmung» plädierte, und eine zweite, die für eine «beschränkte Ausnehmung» votierte; Wortführer dieser Gruppe war der hessische Landgraf Philipp.
Im Verständnis von L. Spengler galt die freie Ausnehmung uneingeschränkt, selbst bei schwerem Amtsmissbrauch; dazu zählten in erster Linie religiöse Zwangsmaßnahmen. Die beschränkte Ausnehmung dagegen differenzierte bereits den Begriff «Kaiser»: Ausnehmung sollte sich ausdrücklich nicht auf das Amt des Kaisers beziehen, sondern allein auf dessen individuellen Inhaber. Alle Entwürfe, die den Spenglerschen Text veränderten, gingen von der Annahme aus, dass «das Kaisertum ein Amt mit beschränkten Kompetenzen und folglich beschränktem Gehorsamsanspruch sei.»[75] Dass diese Thematik überhaupt diskussionswürdig war, zeigt, wie prekär das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsständen im Vergleich zum ausgehenden Mittelalter geworden war. Drei Blickrichtungen standen zeitgenössisch neben- und gegeneinander: Einerseits war der Kaiser Reichsoberhaupt, das schutz- und gerichtsherrliche Befugnisse hatte; zum Zweiten war er «princeps», d.h. man charakterisierte ihn als Rechtsnachfolger der römischen Imperatoren, womit ein herrschafts- bzw. machtpolitischer Anspruch verbunden war; zum Dritten war er in mittelalterlicher Tradition «advocatus ecclesiae», also Schützer der ungeteilten Kirche; auch...