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E-Book

Das Weblog als modernes Tagebuch? Der Wandel der diaristischen Kulturpraxis vom 18. Jahrhundert bis heute

AutorJana Richter
VerlagBachelor + Master Publishing
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl70 Seiten
ISBN9783863418281
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Das Tagebuch als Ort der Selbstreflexion und Herzensergüsse hatte seine erste Blütezeit im 18. Jahrhundert und ging Hand in Hand mit der Herausbildung eines bürgerlichen Individualgefühls. Rund 200 Jahre später schießen im Word Wide Web sogenannte Weblogs wie Pilze aus dem Boden. Während ein Tagebuch in der Regel im Geheimen geschrieben und gut versteckt wird, scheinen Blogger ihr Innerstes vor einer mehr oder weniger großen Leserschaft zu entblößen. Dieses Buch beschäftigt sich mit der Genese und dem Wandel der diaristischen Kulturpraxis, die sich sowohl im papierenen Tagebuch als auch im digitalen Weblog manifestiert. Folgende Fragen rücken dabei in den Fokus: Was sind die formalen Eigenschaften des Tagebuchs? Worin liegt der Sinn des diaristischen Schreibens und ist es nicht eigentlich ein Dialog mit sich selbst? Selbstdarstellung und Selbststilisierung scheinen im Weblog alltäglich zu sein, doch lassen sich diese Phänomene auch für das Tagebuch nachweisen? Viele Schriftsteller haben neben ihrer eigentlichen literarischen Tätigkeit Tagebücher geschrieben, welche eine ganz eigene Qualität erreichten und sich dadurch vom gemeinen Diarium unterschieden. Anhand der Tagebücher von Johann Casper Lavater (1741 - 1801), Friedrich Hebbel (1813 - 1863) und Franz Kafka wird die Genese des Tagebuchs vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachvollzogen. Jedes der drei Tagebücher dient als Beispiel einer spezifischen Art der Tagebuchführung. Von der Analyse des (Papier-) Tagebuchs wird der Bogen zum digitalen Weblog geschlagen: Was ist überhaupt ein Weblog und wie ist die Blogosphäre entstanden? Wer sind die Blogger und welche Kategorien von Weblogs gibt es? Was treibt Menschen dazu private Gedanken und Erlebnisse mit Fremden im Internet zu teilen? Wo verschwimmt die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit? Wie groß ist die literarische Qualität des Weblogs? Beispiel-Blogs aus dem Word Wide Web illustieren die Vielfältigkeit der Blogosphäre. Das Buch analysiert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Tagebuch und Weblog, deren Mittelpunkt stets derselbe ist: das Ich und dessen sich auf sich selbst und die Welt.

Jana Richter, B.A., wurde 1988 in Görlitz geboren. Ihr Studium der Literatur- und Kulturwissenschaft und Philosophie an der Technischen Universität Dresden schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Di

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Leseprobe
Textprobe: Kapitel 2.3., Rückzug in die eigene Psyche - Friedrich Hebbels Tagebuch als deutsches Beispiel für ein 'journal intime' des 19. Jahrhunderts: Nach dem Abklingen der Empfindsamkeit ließ Anfang des 19. Jahrhunderts zumindest in Deutschland und England die intensive Tagebuchschreiberei nach.158 In Frankreich erhielt das Tagebuch jedoch neue Impulse, basierend auf der bitteren Enttäuschung über die politischen und sozialen Entwicklungen nach der napoleonischen Ära159: Ohne Bindung an religiöse Konventionen oder allgemeine Maßstäbe der Moral, auch in seiner unmittelbaren Umgebung wenig Anlaß zu verantwortungsvollen Handeln spürend, konzentrierte sich der Diarist fast ausschließlich auf das Wohl und Wehe der eigenen Psyche. Die äußeren Lebensumstände schienen für ihn nur noch insofern eine Rolle zu spielen, als sie den Stoff lieferten zu seinen inneren Erschütterungen, aus denen dann häufig eine Vielzahl ichbezogener Reflexionen resultierte. Das hohe Maß an seelischen Reflexionen prägte die Bezeichnung journal intime. Auch in Deutschland kam es zu einer thematischen Wandlung in den Tagebuchaufzeichnungen der Diaristen; ein 'sich mehr und mehr von allen Bindungen lösendes Ich'161 stand nun im Zentrum: 'War das Tagebuch bisher vor allem Werkzeug zur Herausarbeitung der Individualität, Ort einer Reflexion von Ich und Welt, [...], so schlagen sich nun überwiegend Lebensnot und Daseinsangst in ihm wieder' Die Angst als Urphänomen der Existenz wird insbesondere von dem schwedischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813 -1855) thematisiert und ist symptomatisch für viele Tagebuchschreiber bis hinein ins 20. Jahrhundert. Vogelgesang schreibt: 'Der Mensch des 19. Jahrhunderts, vor allem dann des 20. Jahrhunderts ist nicht mehr nur [...] Gegenstand seines eigenen Studiums, er wird zum Gegenstand seiner eigenen Sorge und Angst, er wird sich selber zum Problem.' Ein deutscher Vertreter des journal intime ist der deutsche Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel (1813 - 1863). Friedrich Hebbel führte mehr als sein halbes Leben Tagebuch; von 1835 bis zu seinem Tod im Jahr 1863 füllte er Dutzende Notizbücher. 1885-87 wurden diese erstmals von Felix Bamberg veröffentlicht. Ob der Schriftsteller seine Tagebücher von Beginn an für die Veröffentlichung schrieb oder ob ihm dieser Gedanke erst mit dem wachsenden dichterischen Selbstbewusstsein angesichts einiger literarischer Erfolge kam, ist nicht eindeutig auszumachen. Zu Beginn seines Diariums, in einer Präambel, verspricht Hebbel, als er mit diesem 1835 beginnt, 'Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art einer Tagebuchs', werde er in sein Tagebuch schreiben. Damit macht Hebbel von Anfang an deutlich, wer im Mittelpunkt seiner Aufzeichnungen stehen soll: er selbst als Individuum. Wuthenow sieht in dem Zusatz 'nach Art des Tagebuchs' außerdem ein Indiz dafür, dass Hebbel klar war, dass es sich bei seinem Tagebuch auch um eine Materialsammlung und Werkstattnotizen handeln werde. Für Wuthenow ist Hebbels Tagebuch das bedeutendste Künstlertagebuch des 19. Jahrhunderts, denn das Tagebuch Hebbels ist weit mehr als eine Dokumentation seines Lebens und der überaus mühevollen schriftstellerischen Entwicklung. Zwar ist der biographische Gehalt keineswegs gering, aber er wird doch weit überboten durch Einsichten, Reflexionen, Merksätze und literarische Skizzen; außerdem hat Hebbel Briefe und Briefauszüge aufgenommen, Entwürfe, ja ganze Abschnitte aus Aufsätzen und Rezensionen, dazu Bemerkungen über sich, Zeugnisse der Selbstkontrolle und -kritik. Hebbel notiert auch eigene und ihm erzählte merkwürdige Träume, Bemerkungen von anderen Personen, Anekdoten und besondere Vorkommnisse, auch wo sie ihn nicht selbst betreffen. Der nächste Satz der Präambel geht einen schmalen Pfad zwischen Eitelkeit und Selbstironie: 'Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde.' Soll das Tagebuch also zuerst noch als Materialsammlung für eine künftige Biographie fungieren, dient es Hebbel spätestens ab dem zweiten Heft vor allem der Selbsterkenntnis, es dient dementsprechend auch der Selbstverständigung, wird also nicht so sehr dem künftigen, fremden Biographen zur Verfügung gestellt, als vielmehr ihm, dem schreibenden Subjekt, das sich des eigenen Lebensganges zu vergewissern gedenkt. Weiter schreibt Hebbel in seiner Präambel, soll das Tagebuch ein 'Notenbuch meines Herzens', welches 'diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten' verwahrt. Hebbels Beweggrund Tagebuch zu führen ist der Wunsch die Flüchtigkeit des Moments schriftlich zu fixieren: Und wer kann gleichgültig so manche tausend Welten in sich versinken sehen und wünscht nicht, wenigstens das Göttliche, sei es Wonne oder Schmerz, welches sich durch sie hinzog, zu retten? Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende. Einige Jahre später äußert sich Hebbel im ersten Eintrag seines zweiten Tagebuchs aus dem Jahr 1843 dagegen weniger euphorisch über den Nutzen des Tagebuchschreibens: Im allgemeinem haben meine Tagebücher freilich sehr geringen Wert: Zustände und Dinge kommen kaum darin vor, nur Gedanken-Gänge, und auch diese nur, soweit sie unreif sind. Es ist, als ob eine Schlange ihre Häute sammeln wollte, statt sie den Elementen zurückzugeben. Aber man sieht doch einigermaßen, wie man war, und das ist sehr notwendig, wenn man erfahren will, wie man ist.
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