Teil 2
Trauma und Traumafolgeschädigungen
Wie entsteht ein Trauma?
Ein Trauma ist ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« (Diese Definition nach Fischer und Riedesser nutzte die Unabhängige Beauftragte für sexuellen Kindesmissbrauch Christine Bergmann in ihrem 2011 erschienenen Abschlussbericht.)
Wie unterscheidet sich ein Trauma von einem belastenden Ereignis? Was »nur« belastend ist und was traumatisch, das entscheidet sich im Innern der betroffenen Personen. Dieser Vorgang kann nicht bewusst gesteuert werden. Persönliche Dispositionen oder die Begleitumstände des Ereignisses können ein Trauma behindern oder eben befördern. Als »klassische« Auslöser für das Trauma-Erleben gelten beispielsweise Verkehrsunfälle, Kriegsereignisse, das Erleben oder Bezeugen von Gewalt und die Erfahrung von sexualisierter Gewalt. Tatsächlich gibt es so etwas wie eine »Hierarchie des Schreckens«; die Auswirkungen der sexualisierten Gewalt stehen ganz oben. Eine Wiederholung des Geschehens macht die Verarbeitung nicht leichter; im Gegenteil: Die »Trauma-Folgeschädigungen« verfestigen sich.
Wie setzt ein Trauma ein? In einer Gefahrensituation werden im menschlichen Verhaltensrepertoire verschiedene Mechanismen in Gang gesetzt. Der Blutdruck steigt, Atem- und Herzfrequenz erhöhen sich, die Muskeln sind in Alarmbereitschaft. Die Alternativen lauten Kampf oder Flucht, »fight or flight«. Diese motorischen Funktionen werden vom Sympathikus ausgeführt. Kann eine dieser Optionen erfolgreich gewählt werden, erfolgt im Regelfall danach die Stressreduktion. Der Blutdruck sinkt, Herz- und Atemfrequenz normalisieren sich etc. Dieses Erleben kann in die Lebenserfahrung integriert werden, es wird Teil des deklarativen Gedächtnisses.
»Das menschliche Nervensystem kennt drei neuronale Kreisläufe als Regulatoren für unser reaktives Nervensystem.« (Porges 2003) Das ist die Kernaussage der Polyvagal-Theorie (PVT) von Stephen Porges. Neben dem Sympathikus verfügen wir Menschen über den ventralen und den dorsalen Vagus. Der ventrale oder auch soziale Vagus ist myelinisiert (mit Marksubstanz ausgestattet). Dieser Nervenkomplex übernimmt unter anderem die Verbindung »… mit der Muskulatur am Kopf, welche Gesichtsausdruck, Kopfstellung, Stimmqualität und Hörfähigkeit reguliert und in funktioneller Hinsicht das soziale Engagement System (SES) bildet.« (Frick 2012, S. 39)
Dagegen übernimmt der dorsale Vagus salopp gesprochen die Verbindung zu unserem Reptilienhirn. In einer akuten und subjektiv als ausweglos wahrgenommenen Bedrohungssituation regrediert der Mensch zu urzeitlichen Überlebensmechanismen. Der Blutdruck sinkt, der Atem wird flach, die Herzfrequenz wird schwach, die Körpertemperatur verringert sich. Der Vagus-Stress reduziert die Körperfunktionen. Im schlimmsten Fall kommt es zum Vagus-Tod, zum Tod durch den Zusammenbruch der Gegenregulationsmechanismen des vegetativen Nervensystems
Der Mensch erstarrt, hat nicht mehr das Gefühl, er selbst zu sein, er sieht sich quasi von außen. Für die Bedrohungssituation ergeben sich daraus gravierende Vorteile: der betroffene Mensch empfindet weder Angst noch Schmerzen. Die veränderte Wahrnehmung hat aber auch langfristige Auswirkungen. Das Geschehene kann nicht »normal« in die Lebensgeschichte integriert werden, sondern wird als Trauma abgespeichert.
Vorsicht Trigger
Ich bin gelähmt. Keiner sieht es, ich bewege mich ja. Ich jedoch weiß es. Dabei sitze ich ganz klein in mir drin, die Augen groß auf die Augen der Schlange gerichtet. Sie wiegt sich langsam, bedächtig, kommt näher, und ich falle in einen Taumel, drehe mich, drehe mich, das Nichts zieht mich an, alles wird dunkel, so undurchdringlich, so schwarz, so schrecklich, bis ich mich auflöse, zersetze. Ich bin nur noch ein Molekül. Ich bin Millionen von Molekülen? Nein, ich bin nicht mal das. Nichts ist geblieben, das Nichts hat mich gefressen – doch es verdaut mich nicht. Es gibt keinen Kreislauf, es gibt nur das namenlose Grauen, auf das nichts mehr folgt, das beständig und unendlich ist. (Therapietagebuch)
Das bedeutet also: Die Verarbeitung von belastenden Ereignissen und Traumata findet in unterschiedlichen Regionen des Gehirns statt. Grob vereinfacht lässt sich sagen: belastende Ereignisse werden im Hippocampus abgespeichert. Der Verarbeitungsprozess verläuft über verschiedene Stufen, das Resultat ist eine abrufbare Erinnerung. Das Trauma-Erleben wird direkt und unverarbeitet in der Amygdala abgelegt. Dieser Bereich des Gehirns verknüpft Ereignisse mit Emotionen. Diese Erinnerungen sind implizit, nicht bewusst vorhanden, es gibt keinen erzählbaren Handlungsverlauf. Doch auch diese Erinnerungen sind kodiert, die Begleitumstände wurden registriert. Bestimmte Körperhaltungen, Bewegungen, Geräusche oder Gerüche: diese Wahrnehmungen können die plötzliche Erinnerung an das Trauma-Erleben auslösen. Diese Reize nennt man Trigger, das plötzliche Erinnern Flashback. Dabei werden nur selten ganze Handlungsabläufe auftauchen, sondern zumeist nur Fragmente, Einzelbilder oder kurze Sequenzen. Diese Flashbacks sind häufig mit massiven Angstzuständen verbunden. Die Betroffenen können nicht beurteilen, was da eigentlich mit ihnen passiert. Sie sind verunsichert, verängstigt, panisch – und unglaublich irritiert, weil sie sich ihr eigenes Verhalten überhaupt nicht erklären können. Was bedeutet das für die Therapie? »Erst wenn das autonome Nervensystem – oder der Hirnstamm (oder das Reptilienhirn) wieder ruhig sind, kann man sich an den Kortex und an das Mittelhirn mit seinen Repräsentationen, Werten, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Zukunftsträumen wenden. Erst in einem solchen ruhigen Zustand können die evolutiv höheren Zentren funktionieren, wird Zugang zu Gedächtnis bewusst möglich.« (Perren-Klingler 2012, S. 20)
Wie schrecklich das ist, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Deshalb bedeuteten diese Erkenntnisse zu Beginn meiner Therapie für mich eine enorme Erleichterung. Ich habe lange Zeit nicht gewusst, was mir tatsächlich angetan wurde. Vieles weiß ich bis heute nicht, die Taten sind für mich
auch nicht (mehr) relevant. Es geht »nur« noch um die Auswirkungen, und darum, ohne Flashbacks und Panikattacken gut leben zu können.
Die therapeutische Bearbeitung des Traumas erfolgt auf zwei Ebenen. Zunächst einmal müssen die Körperfunktionen zur Ruhe kommen, das kann auch non-verbal über Atemtechniken erfolgen. Erst wenn der dorsale Vagus-Stress überwunden und der soziale Vagus aktiviert wurde, erst dann kann die Verarbeitung einsetzen. »… schließlich ist unser Hirn darauf angewiesen, dass auch traumatische Erfahrungen in Worte gefasst, geordnet und dann im expliziten Gedächtnis abgelgt werden können.« (Perren-Klingler 2012, S. 21)
Früher ist man davon ausgegangen, dass ein Mensch quasi fertig auf die Welt kommt, dass die Entwicklung des Gehirns spätestens im Erwachsenenalter abgeschlossen ist. Doch die Forschung im Bereich der neuronalen Plastizität beweist gerade das Gegenteil. »Forscher (konnten) in den letzten Jahren zweifelsfrei nachweisen, dass die Strukturen unseres Gehirns keinesfalls starr und unveränderlich sind, sondern im Gegenteil höchst formbar und anpassungsfähig.« (Max Planck Gesellschaft 2010) Das Gehirn macht aus Psychologie Biologie, und das funktioniert ein Leben lang. Neuronale »Programmierungen« lassen sich verändern. Die Synapsen, also die Verbindungen der Nervenzellen im Gehirn, formen sich auch bei Erwachsenen. Nervenbahnen können befeuert oder gehemmt werden. »Cells, that fire together, wire together« (Hebbsche Lernregel). Was im Hirn immer wieder gleichzeitig aktiviert wird, wächst zusammen. Darin liegen Risiken und Chancen für Traumatisierte. Zunächst zu den Risiken: Jedes Mal, wenn ein Trigger die Erinnerung befeuert, setzt die Stressreaktion ein. Jedes Mal etwas schneller, weil die Zellen lernen.
Ein Beispiel sind Menschen, die fortlaufend über ein schreckliches Ereignis sprechen müssen – und es doch nicht verarbeiten können, sondern stattdessen immer tiefer in einer Spirale aus Depression, Konzentrationsschwäche, Stress und Unglück versinken. Bei Menschen mit dissoziativer Struktur wird durch das Reden allein das Trauma nicht abgebaut, im Gegenteil. Das darüber Reden ist die Bestätigung dafür, dass Schreckliches passiert ist. Die Stressreaktionen laufen wie...