Das siebenfache Wesen des Menschen
»Zahlen beweisen gar nichts.
Wohl können sie Kurzformeln von Einsichten sein.«
Wie kommt es dazu, eine Neunheit von Menschentypen anzusetzen?
Kommt die Neun als drei mal drei zustande, und welche Dreiheit wäre dafür grundlegend?
Bei diesen Fragen unter den vorhin gestellten sollten wir ansetzen, weil es diejenigen nach dem Grundlegenden für das Enneagramm sind. Um die Antwort thesenhaft vorwegzunehmen und damit die Orientierung im folgenden Begründungsgang zu erleichtern:
Der Mensch ist ein Kompositum, eine Dreiheit aus Körper, Seele und Geist.
Dieser Satz scheint nicht besonders aufregend, nachdem die Dreiheit von Körper, Seele und Geist besonders in der Esoterikszene viel genannt wird und bekannt ist. Das Bekannte ist aber nicht schon das Erkannte. Wäre es in diesem Falle so, dann könnte auch die akademische Philosophie sich ihr nicht verschließen. Denn in der abendländischen Tradition herrscht seit Aristoteles der Dualismus von Körper und Geist vor. Dieser Dualismus wird mit dem anderen von Körper und Seele einfach gleichgesetzt. Es könnten hier unzählige gelehrte Abhandlungen zu Körper und Geist beziehungsweise Körper und Seele aufgelistet werden. Allen ist gemeinsam, dass sie schon deshalb zu keinem befriedigenden Resultat kommen, weil die Begriffe Seele und Geist nicht unterschieden werden. Besonders die heute vorherrschende materialistische Mentalität, wie dies beispielsweise in der Hirnforschung der Fall ist, kümmert sich um diesen »feinen« Unterschied nicht.
Die aus der Esoterik bekannte Dreiheit geht auf indische Traditionen zurück, mit denen im Abendland nur der (in dieser Hinsicht vergessene) Platon und seine Strömung korrespondierten. Doch da man keine genaueren Begriffe einführt, bleibt dieser Gegensatz von der professionellen Philosophie unbeachtet. Man lebt in ganz verschiedenen Bewusstseinswelten, um nicht zu anspruchsvoll von Denkwelten zu sprechen. Die denkende Klärung dieses Gegensatzes bleibt eben aus.
Die Esoterik hat in der Sache recht, doch ihre Vertreter bemühen sich höchst selten um »zünftige« Klärung und sorgfältige Einführung der Begriffe Körper, Seele und Geist. Also können sie die akademischen Dualisten nicht aus ihrem Dornröschenschlaf aufwecken. Mit Liebesküssen kann das in diesem Fall nicht geschehen, nur mit begrifflicher Sorgfalt. Solange das nicht geschieht, sind die Esoteriker selbst schuld, wenn sie von den akademischen Philosophen beziehungsweise meist Philosophiehistorikern nicht ernst genommen werden. Sie bleiben der Welt selbst etwas schuldig, was diese zur Veränderung bewegen könnte – und wundern sich darüber.
Vorbereitend: die vier Sinnelemente des menschlichen Handelns
Um an die drei Wesensbestandteile oder -konstituenzien des Menschen begrifflich sauber heranzukommen und sie nicht nur dogmatisch zu setzen, müssen wir in der heutigen geistesgeschichtlichen Situation beim Bewusstsein und Handeln des Menschen ansetzen.
Alles menschliche Handeln, einschließlich der inneren Bewusstseinsvollzüge, bewegt sich zwischen folgenden grundlegenden Polen oder Sinnelementen:
Die grundlegenden Sinnelemente menschlicher Bewusstseinsvollzüge und Handlungen
Diese vier Sinnelemente sind gleichursprünglich, das heißt nicht weiter aufeinander rückführbar. Eine solche Gleichursprünglichkeit bricht bereits den altabendländischen Subjekt-Objekt-Dualismus auf, mit seinen ihn kennzeichnenden Entweder-oder-Alternativen zu einer logischen Mehrwertigkeit, hier Vierwertigkeit. Für Johannes Heinrichs’ Denken ist seit 1975 folgendes Beziehungsgefüge menschlicher Bewusstseinsvollzüge und Handlungen maßgebend:
»Ich« ist Selbstbezüglichkeit, die wenigstens anfängliche Einheit von Erkennenden und Erkannten, die wir Selbstbewusstsein im philosophischen (nicht im psychologischen) Sinn nennen.
Selbst die Objekte, seien sie Natur oder künstlich hergestellte Gegenstände, stehen den Subjekten nicht einfach räumlich gegenüber. Selbst sie sind zunächst nur Erscheinungen für mich beziehungsweise für uns (Kants grundlegender Ausgangspunkt), das heißt Teil der dialektischen (durch Selbstbezüglichkeit gekennzeichneten) Verhältnisse, die wir »Erkennen« und »Handeln« nennen. Alles, was ich über Objekte sage, sage ich – streng genommen – zunächst einmal nur über Erscheinungen in meinem Bewusstsein.
»Du« meint die antwortfähige Freiheit gegenüber dem Ich, welches dieselbe Selbstbezüglichkeitsstruktur hat. Die gleichursprüngliche Einbeziehung der Du-Beziehung in das obige Beziehungsgefüge macht das aus, was wir »dialogisches Denken« nennen, was also grundsätzlich über die bloße Subjekt-Objekt-Dialektik hinausführt.
Zwischen Ich und Du steht aber ein traditionell noch mehr übersehenes »Zwischen«, ein Ausdruck Martin Bubers für den gemeinsamen Geist, der in der Ich-Du-Begegnung, aber auch in einer Gruppe, zustande kommt. Das Zwischen ist jedoch nicht bloß Resultat der zwischenmenschlichen Begegnung, sondern noch grundlegender auch deren Voraussetzung, ein »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« (so der Titel des zweiten Bandes von Karl-Otto Apels zweibändigem Werk »Transformation der Philosophie«, 1976): das aller Begegnung und Gemeinschaft schon vorausgesetzte Zwischen oder Medium. Das Zwischen ist jedoch nicht bloß ein jeweils subjektiver »Horizont« der einzelnen Beteiligten. Ihm kommt vielmehr von vornherein eine eigene Seinsweise als Medium zu. Daher spricht Johannes Heinrichs lieber von einem Sinnmedium. In der griechischen Philosophie hieß dieses Medium »Logos«. Diese mediale Realität wurde jedoch von einem an den Gegenständen orientierten Denken in der abendländischen Geistesgeschichte nach Aristoteles verdrängt.
Von den vier Sinnelementen des Handelns zur anthropologischen Dreiheit
Der Anfahrtsweg vom Handeln oder (allgemeiner) von den menschlichen Bewusstseins- oder Sinnvollzügen ist heute notwendig, um einen überholten, allein objektgerichteten Dogmatismus zu vermeiden. Was der Mensch in seinem Wesen ist, werden wir weder aus naturwissenschaftlichen Objektdaten noch von einem vorgefassten Seinsbegriff her erfahren. Deshalb wird hier der im Sinne Kants »kritische« (»transzendentale« oder einfach reflexive) Ausgang von den vier notwendigen Sinnelementen all seiner Bewusstseinsvollzüge gewählt. Dass damit und mit der hier beiseitegelassenen Theorie von den vier Reflexionsstufen des Handelns zugleich an älteste abendländische Traditionen angeknüpft wird, beweist die folgende Schwurformel der Pythagoreer, hier in der Übersetzung von Arthur Schopenhauer, die gleichzeitig das Motto seines Werkes »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde« war (erschienen 2007 in 11. Auflage bei Diogenes).
Bei ihm, der einpflanzte die Vierzahl unserem Geiste,
Sie, die Quelle und Wurzel der ewig strömenden Schöpfung.
Dieser Ansatz führt aber unter anthropologischer Rücksicht, wenn es uns also nicht um diesen oder jenen Einzelvollzug des Menschen, sondern um die seinsmäßige Auswertung der genannten Grundkonstellation seines Handelns geht, überraschend schnell zu dem Ergebnis, das zwar in den letzten zweitausend Jahren abendländischer Philosophie und Theologie zunehmend in Vergessenheit geriet, aber durchaus starke historische Anhaltspunkte bei Platon, vor allem aber in der alten vedischen Philosophie hat. Gemeint ist die in der Esoterik gängige, doch selten begrifflich korrekt erfasste Lehre, dass der Mensch ein triadisches (dreifaches), aus den Wesenskomponenten Körper, Seele und Geist »zusammengesetztes« Wesen ist.
Insofern handelt es sich hier darum, diese alte, heute im Westen eher esoterische Lehre mit nachcartesischer und...