1. Dimensionen der Pädagogik
1.1 Ein Blick auf die Entwicklung der Pädagogik
Obgleich das Nachdenken über Fragen von Erziehung und Bildung schon so alt ist, wie es diese Erscheinungen gibt – schon in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts vor Christus etwa finden sich bei Homer Überlegungen zur «Zucht» von Körper und Seele, zur gymnastischen und musischen Bildung, zur «ethischen» Erziehung des jungen Adels –, so spielten doch über viele Jahrhunderte hinweg pädagogische Fragestellungen eine Rolle, stets im Rahmen der Reflexionen der Philosophie. Erst mit dem Umbruch der Neuzeit, in dem es zugleich zur gesellschaftlichen Inanspruchnahme von Erziehung und Bildung in eigens für diese geschaffenen Institutionen kam, wurde das Nachdenken über Erziehung und Bildung zunehmend zum Gegenstand einer eigenständigen Disziplin: der Pädagogik.
Allgemein lässt sich die neuzeitliche wissenschaftliche Pädagogik bestimmen als die Gesamtheit derjenigen Erörterungen, die sich auf Erziehung, Bildung und Unterricht beziehen und daher die mit der Integration der nachwachsenden Generation in eine bestehende Gesellschaft zusammenhängenden Probleme thematisieren (vgl. Mollenhauer, 1974: 199ff.).
Bis zur Ausdifferenzierung dieser Disziplin als eigenständiger Wissenschaft im modernen Sinne dauerte es eine ganze Zeit. Überlegungen zur Beeinflussung der Höherentwicklung des Menschen (auch) durch Erziehung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, etwa durch die Deutschen Klassiker – wie Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und Friedrich Schiller (1759–1805) – und Vertreter des Neuhumanismus – vor allem Wilhelm von Humboldt (1767–1835) –, waren dabei ebenso deutlich der Philosophie zugehörig wie die ersten systematischen Versuche einer Grundlegung der Pädagogik bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), Johann Friedrich Herbart (1776–1841) und Friedrich Fröbel (1782–1852) (vgl. Reble, 1999, Bd. 1: 184ff.). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Pädagogen konfrontiert mit bildungspolitischen Veränderungen und wirtschaftlichen Entwicklungen, können aber sicherlich nicht als Vorreiter dieser Reformen charakterisiert werden. Die sich entwickelnde akademische Disziplin Pädagogik wurde allerdings mit vielen Veränderungen im Bildungssektor identifiziert und geriet von zwei Seiten in die Kritik: auf der einen Seite kritisierte vor allem Friedrich Nietzsche (1844–1900) die Verwandlung der Ideen neuhumanistischer Bildung in «leeres Gelehrtentum» (Benner/Brüggen, 2011: 243). Auf der anderen Seite wurde die vorherrschende Buch- und Pauk-Schule von der Reformpädagogik unter Beschuss genommen. Diese auch durch internationale Impulse – etwa John Dewey (1859–1952) und Maria Montessori (1870–1952) – bereicherte Bewegung zielte weniger auf die Entwicklung der Disziplin Pädagogik als auf die Veränderung der Erziehungs- und Bildungswirklichkeit ab.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik erfolgte seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch eine eigenständige «Schule» der Pädagogik, die später unter dem Namen «Geisteswissenschaftliche Pädagogik» zusammengefasst wurde. Hier sind Namen wie Herman Nohl (1879–1960), Theodor Litt (1880–1962), Eduard Spranger (1882–1963) und Erich Weniger (1894–1961) zu erwähnen (vgl. Blankertz, 1982). Diese Pädagogen mussten sich auseinandersetzen mit der wachsenden gesellschaftlichen Pluralität, die die im 19. Jahrhundert noch weitgehend fraglos hingenommene Normierung der nachwachsenden Generation zunehmend bedrohte. Geisteswissenschaftliche Pädagogik bedient sich vor allem der «Hermeneutik»; es werden Texte immer aufs Neue interpretiert, wodurch Selbstverständnis, Absichten und jeweilige Begründungen der am Erziehungs- und Bildungsgeschehen Beteiligten ermittelt werden sollen.
Nach der «Unterbrechung» der Entwicklung der Pädagogik im Nationalsozialismus kam es in den 1950er-Jahren zunächst zu einer Restauration der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik als vorherrschender Disziplin. Mitte der 1960er-Jahre stand diese Richtung dann «am Ausgang ihrer Epoche», wie Ilse Dahmer und Wolfgang Klafki in einer von ihnen 1968 herausgegebenen Schrift konstatierten. Es war allerdings nicht nur die Selbstkritik, die an der Vorherrschaft der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zehrte, sondern vor allem Kritik seitens empirischer und seitens kritischer Erziehungswissenschaftler.
Auf der einen Seite wird gefordert, Pädagogik dürfe nicht nur Normen verbindlich machen, sondern müsse auch konkrete Wege und Mittel angeben, wie die Normen zu erreichen seien. Wenn zweck- und normengerechte Mittel auf verlässliche Art und Weise angegeben werden sollen, dann müssen kontrollierbare Wege der Beobachtung durch die Pädagogik bereit gestellt werden – «Pädagogik» wird zur empirischen «Erziehungswissenschaft». Zwar gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in der experimentellen Pädagogik von W. August Lay und Ernst Meumann (vgl. Benner, 1973: 143ff.; Wulf, 1977: 66ff.) – erste Ansätze der empirischen Forschung innerhalb der Pädagogik. Als eigenständige Richtung innerhalb der Disziplin konnte sie sich jedoch erst in den 1950er- und 1960er-Jahren durchsetzen. Neben der Rezeption US-amerikanischer Forschungen (insbesondere aus dem Umfeld der pädagogischen Psychologie) spielte hier vor allem Heinrich Roths Plädoyer für eine «realistische Wendung der Pädagogik» eine herausragende Rolle (vgl. Jungmann/Huber [Hrsg.], 2009; auch: Knoop/Schwab, 1999: 294ff.).
Die empirische Erforschung des pädagogischen Feldes muss dabei nicht notwendig mit einem technologischen Verständnis von Pädagogik verknüpft werden. Diese Konsequenz hat allerdings Wolfgang Brezinka vollzogen. Brezinka bezeichnet als Erziehung Handlungen, «durch die versucht wird, das Dispositionsgefüge menschlicher Persönlichkeiten mit psychischen (Verhaltenssysteme) und/oder sozial-kulturellen Mitteln (Soziale Systeme) in Richtung auf größtmögliche Annäherung an gesteckte Lernziele zu verändern.» (Brezinka, 1971: 33). Diese wissenschaftliche Definition beschreibt Erziehung als ein planmäßiges Handeln von Menschen gegenüber Menschen, dessen Ergebnis möglichst dauerhaft sein soll. Erziehung wird hier zur wissenschaftlich legitimierten Technik der möglichst optimalen Manipulation des Menschen – ohne dass gefragt wird, ob der Beeinflusste die Beeinflussung möchte oder nicht, und ohne dass die gesellschaftlichen Implikationen dieses Geschehens aufgedeckt werden. In welche Richtung die erzieherische Beeinflussung erfolgen soll, ist letztlich für Brezinka eine Frage, die die Erziehungswissenschaft nicht beantworten kann: «Die Erziehungswissenschaft informiert über die ‹Erziehungswirklichkeit› oder über erzieherisch relevante Sachverhalte, aber aus ihr sind keine Anweisungen darüber ableitbar, zu welchen Zielen, nach welchen Normen (Richtlinien, Prinzipien, Handlungsmaximen) und mit welchen Mitteln erzogen werden soll» (Brezinka, 1971: 151, Hervorhebung im Original).
In einem solch engen Wissenschaftsverständnis wird die Frage nach den Zielsetzungen von Erziehung aus pädagogischen Diskursen, die sich – bei allen Widersprüchlichkeiten – stets um theoretische Begründungen bemüht haben, in die Beliebigkeit von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen entlassen.
Demgegenüber nun wird seitens «Kritischer Pädagogen» seit den 1960er-Jahren die Forderung erhoben, die gesellschaftlichen Zusammenhänge des gesamten Erziehungsgeschehens stärker in das Blickfeld der Pädagogik zu rücken. Zentrale Aufgabe der Pädagogik ist die «Ideologiekritik», Pädagogik in diesem Verständnis zielt auf «Emanzipation». Wie Kritische Gesellschaftstheorie (vgl. Sahmel, 1988) zielt auch Kritische Pädagogik «auf die praktische Veränderung der bestehenden (gesellschaftlichen) Seinsstruktur, weil sie in der Grundstruktur der herrschenden Verhältnisse selbst die Fesseln sieht, die ein unbeschädigt entfaltetes Leben bisher verhindert haben. Das Ziel individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, auf das die praktische Option kritischer (pädagogischer) Theorie sich richtet, ist daher negativ definiert – eben durch jene Fesseln, die gesprengt werden müssen.» (Keckeisen, 1984: 168, Hervorhebungen im Original; vgl. auch Sahmel, 1985).
Für einige – vor allem aus der geisteswissenschaftlichen Richtung kommende – Vertreter der Pädagogik bedeutete die Auseinandersetzung mit Kritischer Gesellschaftstheorie einen grundlegenden Wandel in ihrem Selbstverständnis. So erklärte etwa Klaus Mollenhauer 1964: «Pädagogik als Erziehungswissenschaft befindet sich […] – wie jede andere Wissenschaft auch – in Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Insofern ihr Verfahren zweckrational, analysierend und aufklärend ist, ist sie auch kritisch. Gesellschaftskritik ist daher eine ihrer Funktionen. […] Die Bedingung dafür, dass die explizite pädagogische Kritik der Gesellschaft im Namen der erstrebten Mündigkeit der heranwachsenden Generation geschieht, ist die ‹mündige Gesellschaft›, d.h. eine Gesellschaft, die die Kritik an sich selbst als ein wesentliches Merkmal ihrer selbst zulässt.» (Mollenhauer, 1964: 104, Hervorhebungen im Original)
Allerdings darf aus der Tatsache, dass seitens einiger (kritischer) Pädagogen Erziehung die Aufgabe zugeschrieben wurde, «in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen» (Mollenhauer, 1973: 66), nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, als sei dieses...