Vorwort
Das Mathematikum in Gießen ist das erste mathematische Mitmachmuseum (Science Center) der Welt. Es hat das Ziel, Menschen einen neuen Zugang zur Mathematik zu erschließen. Seit seiner Eröffnung im Jahr 2002 haben die vielen Experimente jährlich etwa 150.000 Besucher angezogen.
Dieses Buch ist für die Besucher des Mathematikums nützlich, die mehr über die Experimente erfahren möchten. In gleicher Weise ist dieses Buch aber auch für Leser geeignet, die das Mathematikum nicht besucht haben. Sie gewinnen einen Einblick in die faszinierende Welt mathematischer Experimente und damit auch einen ersten Eindruck von der Mathematik selbst.
Mit der Vermittlung von Mathematik durch Experimente hat das Mathematikum Neuland betreten. Der spielerische Zugang über Knobelspiele, durch Brückenbauen, durch Experimentieren mit Seifenhäuten hat eine Haltungsänderung gegenüber der Mathematik bewirkt. Jedenfalls äußern sich viele Besucher geradezu beglückt über den befreienden Zugang, den sie im Mathematikum zur Mathematik gefunden haben. Die «Mathematik zum Anfassen» mit Experimenten zu den Themen Zahlen, Funktionen und Zufall hat viele Lehrerinnen und Lehrer motiviert, ihren Mathematikunterricht für Experimente zu öffnen. Das Mathematikum hat eine ganze Reihe von vergleichbaren Institutionen angeregt oder war sogar stilbildend, so zum Beispiel für das Erlebnisland Mathematik Dresden, das MoMath New York und das Museu de Mathemàtiques a Catalunya in Barcelona.
Das zugrunde liegende Prinzip hat bereits eine Geschichte. So war schon für den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) der Dreiklang «Kopf, Herz und Hand» die Grundlage für die Unterstützung kindlicher Entwicklung. In der heutigen englischsprachigen Science-Center-Szene heißt das entsprechende Schlagwort «hands-on, minds-on, hearts-on».
Nun könnte man einwenden, dass in der Mathematik Experimente keine Rolle spielen. In den Naturwissenschaften – Physik, Chemie und Biologie – werden Experimente durchgeführt, um Naturgesetze zu verifizieren beziehungsweise Hypothesen zu falsifizieren. Demgegenüber beruht die Wahrheitssicherung in der Mathematik ausschließlich auf dem logischen Argumentieren, den berühmten Beweisen.
In der Mathematik haben Experimente eine ganz andere Funktion als in den Naturwissenschaften. Äußerlich haben sie alles, was ein Experiment ausmacht: Man sieht bunte Klötze, die darauf warten, zusammengesetzt zu werden, vor einem liegen Kugeln, die man eine Bahn hinabrollen lässt, man möchte mit einer Schnur einen Weg nachlegen. Man spricht auch von «interaktiven Experimenten». Das bringt zum Ausdruck, dass jedes Experiment nur dann funktioniert, wenn es zu einer Interaktion, einem Zusammenspiel zwischen eigentlichem Experiment und dem Besucher kommt. Es verändert sich etwas: Das Experiment sieht nach dem Experimentieren anders aus als vorher. Aber auch beim Besucher verändert sich etwas. Denn das Experimentieren regt die eigenen Gedanken an. Man kann gar nicht anders, als sich Fragen zu stellen: Ist das wirklich so? Wie kann das sein? Wie kann ich mir das erklären? Daraus bilden sich Vorstellungen, und schließlich bekommt man Einsichten. Es macht «klick», weil man plötzlich erkennt, wie alles zusammenhängt. Diese Aha-Momente mit einer plötzlichen Erkenntnis sind charakteristisch für die Mathematik, sie sind die Augenblicke, in denen man ausgesprochen positiv erlebt, dass man etwas verstanden hat!
Welche Eigenschaften muss nun ein Experiment haben, das unsere Gedanken stimulieren kann? Die Idee, die wir im Mathematikum verfolgen, besteht aus zwei Aspekten.
Zum einen gewähren die Experimente einen außerordentlich niedrigschwelligen Zugang. In der Regel bestehen die Experimente aus physischen Objekten, mit denen man ohne Schwierigkeiten hantieren kann. Nur in Ausnahmefällen sind die Experimente elektronisch gestützt: Die Besucher erfahren echte Phänomene und nicht durch Computer vermittelte Effekte. Der erste Eindruck suggeriert einem, dass das Experiment einfach durchzuführen ist, dass keine Vorkenntnisse vorausgesetzt werden, kurz: dass es ein Experiment für jeden ist.
Zum anderen ist es allerdings so, dass die Experimente keineswegs so einfach sind, wie sie zunächst scheinen. Denn beim Ausprobieren stellt sich bald eine unerwartete Schwierigkeit, eine Überraschung oder eine Verblüffung ein. Und genau diese Stolperstelle bringt unser Denken in Bewegung.
Man fängt dann unwillkürlich an, sich mit anderen Besuchern zu unterhalten und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Wenn man diese gefunden hat, ist man glücklich und stolz. Zu Recht, denn man hat ein Erfolgserlebnis, das einem niemand wegdiskutieren kann. Denn der Erfolg steht sichtbar vor einem: Ich habe die Pyramide zusammengesetzt, wir haben den Bogen gebaut, ich habe den Code geknackt.
Diese Art der Beschäftigung mit der Mathematik
• macht deutlich, dass Mathematik mit Denken zu tun hat und dass man durch eigenes Nachdenken zu Ergebnissen kommt,
• ermöglicht eine Haltungsänderung gegenüber der Mathematik und Naturwissenschaften im Allgemeinen,
• macht die Menschen nicht klein, sondern stärkt ihr Selbstbewusstsein.
Das Mathematikum in Gießen, das erste mathematische Mitmachmuseum der Welt
Der Zugang zur Mathematik über Experimente funktioniert für alle Menschen. Und tatsächlich ist das Mathematikum Gießen ein Magnet für alle möglichen Besucher, für Besucher jeden Alters und jeden Bildungshintergrunds (und übrigens auch jeden Geschlechts).
Sie sehen eine große Themenvielfalt, in der Tat werden viel mehr Themen aufgegriffen, als der Schulunterricht (der ja andere Ziel hat) dies vermag. Denn kein Bereich der Mathematik ist ausgeschlossen. Natürlich gibt es Experimente zu Geometrie, aber auch Algebra, insbesondere die Zahlen, und Analysis, insbesondere die Funktionen, sind vertreten. Überraschend viele Experimente findet man im Bereich Stochastik, also der Lehre vom Zufall. Und viele Experimente und Objekte zur Kombinatorik, zur Topologie und auch zur Geschichte der Mathematik sind zu finden.
Es gibt natürlich viele Experimente, die eng an den Schulunterricht anschließen, etwa der Satz des Pythagoras, die Berechnung der Kreiszahl Pi, das Galtonbrett, aber auch zahlreiche attraktive Experimente, deren formal-mathematische Behandlung im Schulunterricht nicht möglich ist. Beispiele dafür sind die Seifenhäute (Minimalflächen), die Brachystochrone, die Deutschlandtour (das Travelling Salesman Problem). Insofern bietet das Mathematikum einem Blick in die Mathematik, der repräsentativer ist als die Sicht des Schulunterrichts.
Das gesamte Mathematikum und die einzelnen Exponate sind so gestaltet, dass die Besucher die größtmögliche Autonomie haben. Sie dürfen beginnen, wo sie wollen, sie müssen keinem roten Faden folgen und können wählen, mit welchen Experimenten sie sich intensiv beschäftigen und welche sie nur oberflächlich betrachten. Es gibt kein heimliches Curriculum. Und trotz dieser Freiheit – vielleicht gerade deswegen – bleiben die Besucher an den Experimenten hängen, bilden sich selbst ein Bild und erklären sich selbst die Phänomene.
Das Lernmodell des Mathematikums basiert auf einem radikal konstruktiven Ansatz. Tatsächlich ist jeder Besucher ein Forscher, der bei jedem Experiment ein Problem lösen kann. Dabei werden die Lösungen nicht verraten, sondern die Besucher haben – alleine oder in einer kleinen Gruppe – selbst Erfolgserlebnisse.
Das Mathematikum ermöglicht einen ersten Schritt in die Mathematik. Und das bedeutet zweierlei. Es ist tatsächlich ein Schritt in die Mathematik, denn man löst das Problem durch eigenes Nachdenken. Es ist aber auch nur ein erster Schritt in die Mathematik, denn man kann zum Beispiel in der Ausstellung praktisch keine vertiefte und schon gar keine formale Behandlung der Phänomene vornehmen.
Was ist dieses Buch?
Dieses Buch ist keine Voraussetzung dafür, die Experimente im Mathematikum durchzuführen. Im Gegenteil: Das Mathematikum ist – wie andere Science Center auch – ein Haus, in dem man auch ohne Vorbildung und ohne Vorbereitung viel verstehen kann und ein Besuch auch ohne Führung erkenntnisreich ist.
Aber jedes gute mathematische Experiment ist auch anschlussfähig an weitergehende Überlegungen und Erkundungen, seien sie mathematisch, seien sie historisch, … Dazu soll dieses Buch beitragen. Es zeigt die große Vielfalt mathematischer Experimente, es beschreibt das Potenzial dieser Experimente, stellt historische Bezüge her und beleuchtet den mathematischen Hintergrund. Dadurch wird ein zweiter Schritt in die Mathematik möglich. In 100 Abschnitten wird ein Großteil der Experimente des Mathematikums vorgestellt.
Natürlich habe ich beim Schreiben dieses Buches zuerst an die Besucher des Mathematikums gedacht, die es vielleicht nach ihrem Besuch zur Hand nehmen. Wenn sie in diesem Buch blättern, erinnern sie sich an das eine oder andere Exponat, manches klingt in ihnen nach, über viele Exponate können sie Neues erfahren – und sie werden zahlreiche Experimente...