1 Die Bedeutung von Stellenbesetzungen
Man sollte erwarten, dass der Verantwortliche es selbst in die Hand nimmt, die Kandidaten zu durchleuchten und aus ihnen den Besten oder die Beste auszuwählen. Tatsächlich stellen wir fest, dass immer mehr Führungskräfte diese Aufgabe vollständig oder zumindest in Teilen delegieren. Ist man sich heute der Gefahren vielleicht stärker bewusst als noch vor zehn Jahren? Riskiert man doch am Ende mit einer Fehlentscheidung unter Umständen sogar den eigenen Arbeitsplatz.
Vor welchen Aufgaben stehen Führungskräfte und Personaler heute, wenn sie Stellen zu besetzen haben? Welche Tücken gibt es, wie kann man ihnen entgehen? Und warum scheuen sich Menschen – vielleicht aus gutem Grund – sich dieser Aufgabe zu stellen?
1 Der Erwartungsdruck
Wer immer heute eine Personalentscheidung für die Besetzung einer Stelle trifft, steht unter dem Erwartungsdruck, genau den Mitarbeiter auszuwählen, den das Unternehmen beziehungsweise eine bestimmte Abteilung benötigt. Wie aber findet man heraus, was das Unternehmen braucht?
Problematisch in diesem Zusammenhang ist zum einen die Entwicklung zu immer mehr Spezialisierung. Dies gilt sowohl für das Unternehmen als Gesamtes als auch für den einzelnen Mitarbeiter. Aufgrund dieser Spezialisierung macht sich das Unternehmen zugleich abhängig von Experten. Experten können mit den traditionellen Führungsmitteln nicht kontrolliert werden, da sie selbst oft der einzige Mensch im Unternehmen sind, der über eine detaillierte Kenntnis seiner Arbeit verfügt und sie somit kontrollieren kann. Das heißt, wir sind darauf angewiesen, den Experten zu finden, der eigenmotiviert ist und in hohem Maße selbstverantwortlich handelt.
Eine zusätzliche Erschwernis ist das Tempo der Entwicklung, das uns zwingt, rasch Entscheidungen zu treffen und damit Entscheidungskompetenz an die Peripherie zu verlagern. Hinzu kommt die Komplexität von Prozessen, die der Einzelne nicht mehr überblickt, und der Druck des Marktes, der nur in einem funktionierenden Team aufgefangen werden kann.
Vor diesem Hintergrund wird die Führungskraft vor die große Herausforderung gestellt, genau den Mitarbeiter zu finden, dessen Interessen, Potenzial und Fähigkeiten in besonderem Maße auf diese eine Aufgabe abgestimmt sind. Diese Auswahl muss sich an den differenzierten Kriterien orientieren, die der geforderten Leistung entsprechen, und nicht an allgemeinen Kriterien.
Wer über dieses differenzierte Wissen verfügt, kann sich glücklich schätzen. Oft aber werden Sie selbstkritisch feststellen, dass Sie zu wenig Einblick in die Arbeit haben, die der Kandidat später ausführen wird. Das ist eine der großen Belastungen, der Personalverantwortliche heute ausgesetzt sind. Kein Wunder, dass sie versuchen, andere Personen einzubinden, die die Entscheidung mittragen. Diese haben aber nicht selten noch weniger Ahnung vom eigentlichen Job.
2 Die Angst vor Fehlentscheidungen
Dieses Dilemma ist natürlich auch den Betroffenen bewusst. Der Verkaufsdirektor, der die Stelle des Verkaufsleiters besetzen will, weiß wohl, dass ein Außenstehender unmöglich wissen kann, worauf es bei dieser Position genau ankommt, woran der Erfolg hängt und woran der Misserfolg. Dennoch wird diese Verantwortung aus Angst vor einem Irrtum in die Hände von Experten abgegeben. Die Auswirkungen von Fehlentscheidungen können gravierend sein, angefangen bei Umsatzzielen, die nicht erreicht werden, über Projekte, die nicht vorangebracht werden, oder Reibungsverluste, die im Team entstehen, bis hin zu Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern, die vielleicht sogar zu Kündigungen führen. Letztlich bedeutet eine Fehlentscheidung Zeitverlust, Kundenverlust, Umsatzverlust und Unproduktivität.
Die Kosten einer Fehlentscheidung können sogar identifiziert und im Ansatz auch quantitativ berechnet werden, wenn sie sich beispielsweise auf Zielvereinbarungen beziehen, deretwegen der Mitarbeiter eingestellt worden ist. Vor solchen Studien, die das Risiko des Unternehmens für verschiedene Positionen einschätzen könnten, schrecken Unternehmen noch zurück. Es berechnet niemand gern die Kosten seiner Fehlentscheidungen. Mittlerweile werden aber auch Führungskräfte immer häufiger direkt an den Leistungen der Mitarbeiter gemessen. So ist es heute in der Wirtschaft schon fast so verbreitet wie im Fußball, dass bei schlechter Leistung der Chef ausgetauscht wird.
3 Die Schwierigkeit, Kandidaten zu beurteilen
Woran erkennen wir aber, ob ein Kandidat erfolgreich sein wird? Was gibt uns die Sicherheit, dass es rückblickend betrachtet eine gute Entscheidung gewesen sein wird? Wir haben oben hervorgehoben, wie wichtig eine genaue Kenntnis der zu besetzenden Stelle ist. Die Schwierigkeit, Kandidaten zu beurteilen, hängt aber an weiteren Punkten.
Man sollte davon ausgehen, dass sowohl Kandidat als auch Personalberater das gleiche Anliegen haben, nämlich die richtige Entscheidung zu treffen. Sie stimmen grundsätzlich auch darin überein, was eine richtige Entscheidung ist, nämlich eine, die sowohl den Erwartungen des Unternehmens als auch denen des Arbeitnehmers gerecht wird. Werden diese Erwartungen verfehlt, kommt es früher oder später zu einer Trennung. Im Detail jedoch können diese Erwartungen weit auseinander liegen. Der Kandidat wird deshalb alles tun, um die Entscheidung in seinem Sinne zu beeinflussen, und er wird die Informationen, die er gibt, sorgsam danach selektieren.
Das wissen natürlich auch die mit der Auswahl betrauten Personen im Unternehmen und begegnen deshalb dem Kandidaten mit einer gehörigen Portion Misstrauen. Spürt der Kandidat dieses Misstrauen, wird er sich verschließen, um sich zu schützen. Der Auswahlprozess kann so leicht zu einem Schattenboxen entarten.
4 Die erschwerende Situation am Arbeitsmarkt
Hohe Arbeitslosigkeit, könnte man vermuten, führt zu einfacheren Personalentscheidungen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Sie verführt geradezu zu Fehlentscheidungen. Sucht nämlich ein Mitarbeiter, der längere Zeit ohne Arbeit ist, eine Tätigkeit, so wird er die erste Gelegenheit nutzen, um sich gut zu verkaufen und eine Stelle anzutreten. Hartz IV verschärft die Bedingungen nochmals, indem der Handlungsspielraum, auch eine Möglichkeit auszuschlagen, kaum noch gegeben ist. In der Not neigt man zu Kompromissen, die letztendlich nur ein neues Problem schaffen.
Je stärker der Kandidat unter Druck steht, eine Arbeitsstelle finden zu müssen, desto problematischer ist es leider auch, eine objektive Prüfung der Eignung durchzuführen. Ein ernstes Abwägen von Anforderungen und Leistungsprofil ist in dieser Situation nochmals schwieriger. Ohne das aktive und offene Mitwirken des Kandidaten erreichen aber selbst Assessment-Center eine Validität, die nur knapp über dem Zufallsprinzip liegt.
5 Die einseitige Sicht des Unternehmens
Aktive Mitwirkung verlangt Vertrauen, und Vertrauen gibt es nur, wenn Offenheit und eine gewisse Gleichberechtigung herrschen. Wenn nicht aus ethischer Einstellung, so doch wenigstens aus Klugheit sollte der Auswahlprozess vertrauensbildend, das heißt symmetrisch gestaltet werden.
Die Praxis entspricht dieser Forderung wenig. Die heute verfügbaren professionellen Verfahren der Eignungsdiagnostik nutzen die Kooperation mit dem Kandidaten nicht nur nicht, sondern sind gezielt darauf angelegt, sie zu verhindern. Einstellungsinterviews ähneln in ihrer Gestaltung eher einer Verhandlung zwischen Kontrahenten, in der man sich nicht in die Karten blicken lässt, als einer objektiven diagnostischen Abklärung von gemeinsamen Chancen und Risiken, wie sie für ein Arbeitsverhältnis im Alltag gegeben sind.
Viele heutige Verfahren gehen davon aus, dass der Kandidat einseitig vom Interesse getrieben ist, die Anstellung zu bekommen, und dass es am Unternehmen liegt, die Eignung zu prüfen und die Entscheidung zu evaluieren. Sie sind daher methodisch so angelegt, dass der Kandidat möglichst wenig Einblick in das Verfahren und in die Bewertung bekommt. Der Kandidat wird getestet, er wird beobachtet, und zur Auswertung zieht sich die Jury zur Beratung zurück, zu der der Kandidat keinen Zugang hat. Niemand kann bei dieser Rollenverteilung erwarten, dass der Kandidat Schwächen zugibt oder bereit ist, auf Fragen ehrlich zu antworten. Vielmehr wird er versuchen, nachteilige Informationen für sich zu behalten und auf Fragen so zu antworten, dass es für ihn günstig erscheint. Die Prüfung der Eignung ist für ihn kein wesentliches Interesse mehr. Das Auswahlverfahren führt so nicht zu einer Klärung der Gegebenheiten, sondern wird zur Verhandlung mit festgelegten Positionen. Das ist die Karikierung des Auswahlprozesses und der eignungsdiagnostischen Prüfung.
Wer diese Kultur der Auswahlentscheidung lebt, realisiert nicht, dass das Unternehmen Mitarbeiter braucht, die ein hohes Maß an Selbstverantwortung mitbringen, die in unternehmerischem Denken und eigenständigem Handeln ausgezeichnet sind und die loyal zum Unternehmen stehen. Diese Mitarbeiter findet man nicht mit einem Auswahlverfahren, das die Kandidaten wie unselbständige und wenig motivierte Hilfskräfte behandelt. In dem Maße, in dem wir von einem neuen Mitarbeiter die Übernahme von Verantwortung verlangen, müssen wir ihn auch an der Auswahlentscheidung beteiligen. Warum sollte man ihm gerade hier das verantwortungsvolle Handeln absprechen, das man am Arbeitsplatz von ihm verlangt?
Ausgangspunkt unserer Ausführungen ist die wechselseitige...