Aller Anfang ist schwer (1953)
Meine Anwaltskarriere begann am 1. Juni 1953. Die Nazizeit, der Krieg, drei Jahre Studium, zwei Staatsexamina und vier Jahre in der juristischen Praxis lagen hinter mir. Die DDR stand im vierten Lebensjahr, Stalin war drei Monat zuvor verstorben. Die Zeiten waren bewegt und hart. Der Start als Anwalt war ein Ergebnis dieser Zeit. Nach zweimonatiger Referendarausbildung, nach einjähriger Tätigkeit als Richter kraft Auftrags und einem Jahr als Seminarleiter in der Berliner Volksrichterschule hatte ich ein gutes Jahr in der Berliner Justizverwaltung gearbeitet. Zwei Monate zuvor war ich zum Hauptreferenten befördert worden. Mein monatliches Bruttoeinkommen war von 800 auf 1 200 DDR-Mark gestiegen.
Das war viel. Doch damit war es nun vorbei. Der Staatsapparat wurde gesäubert. Mir sagte die Partei, ich könne nicht mehr in der Abteilung Justiz des Magistrats arbeiten. Ich solle wählen: Universität oder Anwaltschaft.
Ich zog Letzteres vor. An der Uni, so hieß es warnend, versuchten die jungen Professoren sich gegenseitig mit scholastischen Haarspaltereien »die Beine wegzuhauen«. Nichts für mich.
Der Sprung in die Selbständigkeit war ein deutlicher Abstieg. Mit meinen 31 Jahren hatte ich immerhin schon eine ansehnliche Position erklettert. Meine unmittelbare Chefin war die Magistratsdirektorin Hilde Neumann, Tochter des in der Weimarer Republik bekannten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Rechtsanwalts Dr. Kurt Rosenfeld, der auch Rosa Luxemburg verteidigt hatte und in Preußen 1918 kurzzeitig Justizminister war. 1944 starb er in der Emigration in den USA, nachdem er – wie es heißt – zuvor Mitglied der KPD geworden sei. Seine Tochter war vor dem Machtantritt der Nazis als Anwältin in der Kanzlei ihres Vaters tätig gewesen. Sie emigrierte gemeinsam mit diesem zunächst nach Paris. Dort wurde sie Exekutivsekretärin der Association Juridique International (AJI). Sie arbeitete eng mit berühmten Rechtsanwälten wie Marcel Willard, Joe Nordmann und D. N. Pritt zusammen. So unterstützte sie von Paris aus Willard bei seinem Auftreten in Leipzig beim Dimitroff-Prozess und hatte wesentlichen Anteil an der Vorbereitung und Durchführung des Londoner Gegenprozesses.
Hilde Neumann sprach mehrere Sprachen und war mit hervorragenden antifaschistischen Juristen aus mehreren Ländern befreundet. Als sie Anfang 1947 aus der Emigration zurückkehrte, wurde sie eine der drei »roten Hilden«, die mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten die Justiz in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR in jenen Jahren dominierten. Die anderen hießen Hilde Benjamin und Hilde Heinze. Alle drei waren gebildete, selbstbewusste Frauen. Ihre beruflichen und politischen Karrieren endeten früher oder später sämtlich abrupt. Gleichberechtigung war eines ihrer Ziele, die sie mit Vehemenz erfolgreich angingen. Deswegen hieß es alsbald – aus heutiger Sicht unverständlich – nicht mehr »Staatsanwältin« oder »Richterin«. Es ward vielmehr angeordnet, Titel für jegliches Geschlecht nur in Form zu führen. Hilde Neumann war also »Magistratsdirektor« und nicht etwa »Direktorin«. Es war Gleichberechtigung auf Männerniveau.
Offiziell unterstand Hilde Neumann dem Stadtrat Dr. Kofler (CDU), tatsächlich jedoch war sie die Chefin. Ich mochte sie, und ich glaube: sie mich auch. Sie hatte, nicht nur was mich anbelangte, überhaupt eine unglückliche Hand in der Auswahl ihrer »Kader«, wie man damals die Menschen nannte, wenn sie von einem Leiter geleitet wurden. Sie musste kurz vor mir aus dem Staatsapparat ausscheiden, weil sie in der Westemigration gewesen war. Sechs Jahre später erlag sie einem Krebsleiden.
Im Juli 1989 stiftete die Vereinigung der Juristen der DDR einen Hilde-Neumann-Preis für junge Juristen. Die erste Preisverleihung wurde mir angetragen. Hilde Benjamin war nach ihrer brüsken Abberufung als Justizminister 1967, wie ich meine: verbittert, wenige Monate zuvor gestorben. Hilde Heinze, die aus mir unbekannten Gründen in Ungnade gefallen war, kannte inzwischen niemand mehr.
Von der Magistratsdienststelle in der Littenstraße zog ich im Sommer 1953 in die schräg gegenüber in der Rathausstraße 40 gelegene Zweigstelle Mitte I des Rechtsanwaltskollegiums. Meine letzte Amtshandlung in der Littenstraße war die Gründung dieses Kollegiums gewesen. Als Vorsitzender eines »Initiativkomitees« hatte ich die Vorbereitungsarbeiten geleitet und die Gründungsversammlung zum 30. Mai 1953 in den Plenarsaal des Kammergerichts einberufen. Die Eröffnungsansprache hielt der Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Max Fechner, nach einem von mir vorbereiteten Manuskript. Zuhörer waren 22 soeben zugelassene Rechtsanwälte. In der Mehrzahl hatten sie das 1. juristische Staatsexamen abgelegt und befanden sich in der Referendarausbildung. Anstelle der zweiten Staatsprüfung brauchten sie nur eine Klausur zu schreiben. Thema war der Slánsky-Prozess, der im November 1952 in Prag gegen den ehemaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen KP durchgeführt worden war und mit zehn Todesurteilen und drei lebenslänglichen Freiheitsstrafen geendet hatte. Intern hieß das Examen deswegen schnoddrig »Slánsky-Examen«.
Allen Anwälten war unterschiedslos gemeinsam, dass sie für die Justiz, obgleich diese dringend Richter und Staatsanwälte brauchte, als ungeeignet galten. Zwei von ihnen – der spätere Vorsitzende des Kollegiums Brunner und das Vorstandsmitglied Butte – waren zuvor nach einer Volksrichterausbildung Richter bzw. Staatsanwalt gewesen, hatten aber den Dienst aus kaderpolitischen Gründen quittieren müssen. Ein Jahr später durften sie wieder in die Justiz zurückkehren. Mir selbst ging es ähnlich. Am 30. Mai durfte ich »aus kaderpolitischen Gründen« nicht Mitglied des Vorstands werden, ein Jahr später rückte ich nach.
Um auch das noch zu sagen: Acht von uns Gründungsmitgliedern waren in der SED, vierzehn parteilos und blieben es auch bis zu ihrem oder der DDR Ende.
Das »Rechtsanwaltskollegium von Groß-Berlin« – so die offizielle Bezeichnung – war eines der fünfzehn »Kollegien der Rechtsanwälte«, die 1953/54 in den vierzehn Bezirken der DDR und in Berlin gegründet wurden. Jedes Mitglied eines solchen Kollegiums überwies seine Einnahmen monatlich an die Zentrale, die 30 bis 40 Prozent zur Deckung aller beruflichen Kosten – Gehälter für Sekretärinnen, Miete, Literatur, Arbeitgeberanteil an der Sozialversicherung usw. – einbehielt. Von den verbleibenden 60 Prozent wurden die Steuern und Sozialabgaben des Anwalts gezahlt und der Rest auf das Privatkonto des Anwalts überwiesen.
Es bestand freie Anwaltswahl, und der Anwalt unterlag in seiner Berufsausübung zwar der Disziplinaraufsicht, nicht aber den Weisungen der Organe des Kollegiums. Vorstand und Revisionskommission wurden in Berlin geheim gewählt.
Als Mitglied des Berliner Kollegiums und Anwalt ohne Erfahrung und Mandanten betrat ich das Anwaltsbüro in der Rathausstraße. Das war ein Büro, in dem drei weitere mehr oder weniger neugebackene Rechtsanwälte arbeiteten. Zweigstellenleiter war Rechtsanwalt Strodt, den ich flüchtig aus meiner Schulzeit in Neukölln und näher vom Studium an der Humboldt-Universität kannte. Wir beide waren mit über dreißig Jahren die Ältesten, die beiden anderen Anwälte aber nur wenig jünger. Bis auf mich hatten alle schon als Anwälte oder wenigstens bei einem Anwalt gearbeitet. Rechtsanwalt Strodt gehörte sogar der Westberliner Anwaltskammer an. Ein Experte unter uns Blinden.
In dem Büro war es eng, es war nicht für vier Anwälte gedacht. Bis zum 31. Mai 1953 hatte Rechtsanwalt Dr. Rabe hier seine Praxis allein ausgeübt. Da er in Westberlin wohnte, verlor er durch die Verordnung des Magistrats vom 17. April 1953 seine Zulassung im demokratischen Sektor von Groß-Berlin, wie der Ostteil der Stadt hieß, von einem Tag auf den anderen. Harte Zeiten. Seine Praxiseinrichtung war unter Treuhandverwaltung gestellt und dem Kollegium zur Nutzung gegen Entgelt zur Verfügung gestellt worden.
Es war also eng in dem Anwaltsbüro in der Rathausstraße. Ich teilte ein Zimmer mit Rechtsanwalt Gotzmann. Im Gegensatz zu mir hatte er Mandanten aus früherer Tätigkeit mitgebracht. Er war vorwiegend Strafverteidiger und überdies ein schöner, eleganter, von den Damen geschätzter junger Mann. Während ich trübselig vor meinem leeren Schreibtisch saß und auf Mandanten wartete, bat er mit ausladender Handbewegung einen Mandanten nach dem anderen in unser gemeinsames Zimmer. Meist waren das Mandantinnen, die sich nach dem Schicksal ihrer inhaftierten Ehemänner erkundigten. Das machte die Sache für mich aber nicht besser. Noch vor dem Bau der Mauer setzte sich Gozmann nach Westberlin ab und wurde dort Staatsanwalt.
Irgendwie bekam ich im Laufe der Zeit schließlich auch Mandate. Sie führten mir schnell vor Augen, was ich alles nicht wusste. Gott sei Dank hatten wir mit neben dem Inventar unseres Vorgängers auch dessen Sekretärinnen und den berufserfahrenen Bürovorsteher Herrn Sauer übernommen. Der weihte mich in die unerlässlichen Formalitäten ein, die der Anwalt zu beachten hat. Herr Sauer war unter den Bürovorstehern des Kollegiums der Größte. Später bildete er jahrelang Sekretärinnen zu Bürovorstehern aus. Männer standen für diesen Beruf dann nicht mehr zur Verfügung. Dabei zeigte sich: Mann bleibt Mann. So bissig, kenntnisreich und autoritär und damit nützlich wurde keine von ihnen – liebenswerter allerdings waren die Frauen. Später starb der Job überhaupt aus. Bedauerlich für die...