1 Kinderstärken im Grundschulalter
Zu den zentralen Entwicklungsaufgaben von Kindern in der sogenannten »Mittleren Kindheit«, also im Alter von ca. sechs bis elf Jahren, zählt neben der intellektuellen Bildung die Entwicklung individueller und sozialer Kompetenzen (vgl. Schneekloth & Pupeter, 2010, S. 187). Im Hinblick auf einen guten Schulstart und eine positive Grundschulzeit für alle Kinder erweisen sich personale und soziale Ressourcen der Kinder als Basis bzw. Motor grundlegender Entwicklungs- und Lernprozesse. Demnach kann die Stärkung personaler und sozialer Ressourcen in Anlehnung an Schütte et al. (2007) als deren Zielperspektive bzw. Bildungsergebnis gesehen werden. Darüber hinaus bietet insbesondere die personale und soziale Kompetenzentwicklung fruchtbare Ansatzpunkte für die Grundschule, will sie allen Kindern eine chancengerechte Grundschulzeit ermöglichen. Nicht alle Kinder haben nämlich die besten Voraussetzungen für eine gute Grundschulzeit: Ob ein Kind grundlegende personale und soziale Kompetenzen adäquat entwickeln kann, erweist sich als abhängig davon, wie es aufwächst und welche Unterstützungsmöglichkeiten sich ihm bieten (vgl. Andresen & Hurrelmann, 2007, 2010, 2013; Lichtblau, 2013). Die in den repräsentativen World Vision-Studien und der qualitativen Längsschnittstudie von Lichtblau befragten Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, geben darüber hinaus an, dass sie für sich in ihrem Leben nur geringe Möglichkeiten der Entfaltung sehen. Dementsprechend ist mit Blick auf Chancengerechtigkeit und inklusive Bildungsprozesse insbesondere die Entwicklung personaler und sozialer Ressourcen von Grundschulkindern zu betrachten und als Anknüpfungspunkt grundschulpädagogischer Unterstützungen sowie der Unterrichts- und Schulentwicklung mit dem Ziel der Förderung personaler und sozialer Ressourcen der Grundschulkinder zu deuten.
1.1 Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit und Interessenentwicklung als individuelle Ressourcen im Grundschulalter
Neben schulfachnahen Kompetenzen wie beispielsweise phonologischer Bewusstheit oder Zählfertigkeiten und Mengenkonzepten, die einen nachweislichen Einfluss auf das fachspezifische Lernen in der Grundschule haben, sind vor allem individuelle personale Ressourcen unmittelbar mit der Identitätsbildung verknüpft (vgl. Berk, 2005, S. 332f., S. 431ff.). Ihnen kommt als proximalen bereichsübergreifenden Grundlagen im Grundschulalter eine große Bedeutung in Bezug auf die individuelle Persönlichkeits- und Lernentwicklung eines Grundschulkindes zu. Vor allem die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts, positiver Selbstwirksamkeitserwartungen sowie die Entwicklung differenzierter Interessen sind wesentliche Aspekte der Persönlichkeit. Sie ermöglichen allen Kindern einen guten Schulstart und eine positive Schulzeit (vgl. Helmke, 1992; Kammermeyer & Martschinke, 2004).
Dabei sind die Unterschiede unter den Schulanfängern aufgrund ihrer Vorerfahrungen und Bedingungen des Aufwachsens oft recht breit gestreut: Empirische Studien weisen beispielsweise darauf hin, dass Kinder in Armutslagen und sozial benachteiligten Familien ein signifikant niedrigeres Selbstkonzept, geringere Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und differenzierte Interessen entwickeln (vgl. Andresen & Hurrelmann, 2010, 2013; Lichtblau, 2013).
Im Folgenden werden das Selbstkonzept, die Selbstwirksamkeit sowie die Interessenentwicklung im Grundschulalter als wesentliche personale Ressourcen bestimmt und zueinander in Bezug gesetzt. Darauf folgend werden deren Entwicklung im Grundschulalter und mögliche Einflussfaktoren sowie milieuspezifische Bedingungen dieser Entwicklung aufgefächert. Die pädagogische Relevanz der Konstrukte für das Leben und Lernen in der Grundschule wird ebenfalls reflektiert. Der Fokus liegt insbesondere darauf, welche Ressourcen im Sinn von Schutzfaktoren für Kinder in Armutslagen oder mit anderen Benachteiligungen in der Grundschule gestärkt werden können.
1.1.1 Selbstkonzept
Selbstkonzept als hierarchisches multidimensionales Modell mit prozessorientierter Perspektive
Kognitionen über sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, die diese Kompetenzen bewertende Einschätzung sowie die handlungsleitende Ableitung eigener Bewältigungsprogosen bilden den Kern der Identität (vgl. Haußer, 1995; Renner, Martschinke u. a., 2011). Das Selbstkonzept bezieht sich in Abgrenzung zur Selbstwirksamkeit und zu anderen selbstbezogenen Bewertungen vor allem auf das explizite Wissen über sich selbst und seine individuellen Kompetenzen. Im deutschsprachigen Raum wird mit dem Begriff des Selbstkonzepts eine »geordnete Menge aller im Gedächtnis gespeicherten selbstbezogenen Informationen« oder »geordnetes Wissen über die eigene Person« (Krapp, 1997, S. 328) definiert. Als deklarative selbstbezogene Kognition bezieht sich das Selbstkonzept demnach auf individuelle Zuschreibungen (»Ich habe diese Eigenschaften, Merkmale, Fähigkeiten und Fertigkeiten«) und deren eigene Bewertung (»Ich kann gut/schlecht/besser als …«). Dabei handelt es sich weniger um ein globales Verständnis des Selbst, die Einschätzung bezieht sich vielmehr auf verschiedene einzelne Teilbereiche (vgl. Moschner & Dickhäuser, 2010, S. 760).
In der Forschung zum Selbstkonzept lassen sich verschiedene Vorstellungen zu seiner Struktur unterscheiden. Die eigenschaftsorientierte Persönlichkeitsforschung geht seit langem von einem hierarchischen und multidimensionalen Selbstkonzeptmodell aus, das auf den Arbeiten von Shavelson, Hubner und Stanton (1976) beruht. Im Modell wird ein generelles Selbstkonzept im Sinn generalisierter Einschätzungen über eigene Kompetenzen und Überzeugungen als Resultat aus der Genese und dem Zusammenspiel verschiedener Teilselbstkonzepte gesehen. Dabei wird in einer groben Unterscheidung zwischen dem akademischen Selbstkonzept mit den Teilbereichen des mathematischen, sprachlichen oder naturwissenschaftlichen Selbstkonzepts und nicht-akademischen Teilselbstkonzepten wie dem körperlichen, emotionalen oder sozialen Selbstkonzept differenziert. Deren Entwicklung wiederum wird aus dem jeweils bereichsspezifischen Handlungs- und Verhaltenswissen und den eigenen Bewertungen und Deutungen heraus beeinflusst.
In seiner Multidimensionalität generiert sich das Selbstkonzept einer Person dementsprechend durch das dieser Person verfügbare Wissen um eigene Stärken und Schwächen. Dies wiederum ist abhängig von den sozialen Erfahrungen des Individuums sowie den Interaktionen und Vergleichen mit anderen in verschiedenen Situationen und Herausforderungen (z. B. durch verbale Zuschreibungen und Bewertungen; vgl. Hellmich & Günther, 2011, S. 21; Moschner & Dickhäuser, 2010, S. 761). Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass sich durch eine wiederholte positive eigene und durch fremde Beurteilungen verstärkte Bewertung und Deutung der eigenen arithmetischen und geometrischen Fertigkeiten und der eigenen mathematischen Problemlösefähigkeiten ein positives mathematisches Selbstkonzept entwickelt. Dieses positive mathematische Selbstkonzept hat wiederum Einfluss auf generalisierte Einschätzungen der eigenen Kompetenzen (»Ich bin eine gute Schülerin/ein guter Schüler«). Darüber hinaus ist neben dieser hierarchisch angeordneten Genese des Selbstkonzepts auch davon auszugehen, dass sich die Kognitionen im Sinn eines Teilselbstkonzepts – hier beispielhaft des mathematischen Selbstkonzepts – auch auf die Genese anderer Teilselbstkonzepte auswirken.
Aus einem anderen Zugang, der das Konstrukt des Selbstkonzepts im Sinn prozessorientierter Forschung betrachtet, wird angenommen, dass das Selbstkonzept bzw. die bereichsspezifischen Teilselbstkonzepte netzwerkartig aufgebaut sind. Hier wird davon ausgegangen, dass sie kontextgebunden sind und sich verändern und somit einen dynamischen Charakter besitzen (vgl. Hannover, 1997). Dies basiert auf der Annahme, dass in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Substrukturen der Teilselbstkonzepte aktiviert werden. So werden, wenn sich – um beim Beispiel des mathematischen Selbstkonzepts zu bleiben – die positive Bewertung und Deutung der eigenen arithmetischen und geometrischen Fertigkeiten und der eigenen mathematischen Problemlösefähigkeiten auf eine Situation im Kontext einer Freizeitaktivität bezieht, andere Substrukturen angeregt, als wenn eben diese Bewertung und Deutung sich auf den schulischen Mathematikunterricht bezöge.
Entwicklung im Grundschulalter
Das akademische Teilselbstkonzept ist insbesondere in seiner Ausdifferenzierung in das mathematische und das sprachliche Selbstkonzept in pädagogischen Kontexten gut erforscht. So ist davon auszugehen, dass Kinder im Vorschulalter aufgrund erster Informationen über ihre Fertig- und Fähigkeiten noch eher unspezifische...