Die Diskussionen um den Fachkräftemangel in Deutschland füllen aktuell die Seiten vieler Tages- und Wirtschaftszeitungen.[37] Dabei sind sich die Experten jedoch nicht einig, inwieweit qualifiziertes Personal in deutschen Unternehmen tatsächlich knapp ist. Kritisiert werden beispielsweise die angewandten Berechnungsmethoden zur Ermittlung eines vermeintlichen Fachkräftemangels in Deutschland.[38] Ebenso zweifeln einige Experten die langfristige Prognosefähigkeit der errechneten Daten an.[39] Um der deutschen Wirtschaft, der Gesellschaft sowie den politisch Verantwortlichen dennoch einen Überblick über den deutschen Arbeitsmarkt und mögliche Fachkräfteengpässe zu geben, veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit (BA) halbjährlich eine „Fachkräfteengpassanalyse“[40]. Diese stellt den Status quo zum Erhebungszeitpunkt dar, gibt jedoch keinerlei Auskunft über zukünftige Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.[41] Anzumerken ist, dass sich die BA nur auf ihre eigenen Daten beruft, also auf die bei der BA gemeldeten offenen Stellen und Arbeitslosen. So fehlen bei der Analyse z.B. die Hochschul- und Ausbildungsabsolventen sowie diejenigen Arbeitnehmer, die bereit wären, ihre Arbeit anstatt in Teilzeit in Vollzeit abzuleisten.[42] Zudem wird der BA laut eigenen Angaben durchschnittlich nur jede zweite Vakanz gemeldet.[43] Die Ergebnisse der Engpassanalyse helfen somit nur bedingt, den Fachkräftemangel in Deutschland zu erklären. Dennoch scheinen sich die Ergebnisse der Fachkräfteengpassanalyse der BA in großen Teilen mit den Ergebnissen aus anderen Studien zu decken. Hier sei auf die 2013 veröffentlichte „Engpassanalyse“[44] des BMWi und die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) durchgeführte Studie „Berufe im Demografischen Wandel“[45] von Tivig et al. aus dem Jahr 2013 verwiesen. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass es derzeit in Deutschland zwar keinen bundesweiten Mangel an Fachkräften gibt, dass aber einige Berufsfelder ‑ und laut BA auch einige Bundesländer[46] ‑ verstärkt von Engpässen betroffen sind.[47] KMU in diesen Branchen und Regionen fällt es daher besonders schwer, ihre Stellen mit geeignetem Personal zu besetzen.[48] Betroffen sind hier insbesondere die Berufsfelder „Metall“[49] und „Gesundheit und Pflege“[50] sowie Ingenieure[51]. Es kommt außerdem zu unterschiedlichen Engpasssituationen je nach Berufsniveau gemäß der im Jahr 2010 verabschiedeten Klassifikation der Berufe (KldB 2010). Diese teilt Arbeitnehmer in Helfer, Fachkräfte, Spezialisten und Experten auf.[52] Dass alle drei Analysen zu nahezu identischen Ergebnissen bezüglich der Fachkräfteengpässe kommen, liegt daran, dass auch die Untersuchungen des BMWi und des BMAS die statistischen Daten der BA als Basis nutzen.[53] Demnach können diese beiden Studien nicht als Bestätigung der Aussagen aus der Fachkräfteengpassanalyse der BA gewertet werden. Außerdem wird die Berechnungsmethode der Fachkräfteengpassanalyse (Arbeitslose dividiert durch die bei der BA gemeldeten offenen Stellen) u.a. von Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) stark kritisiert.[54] Er führt als Gegenargument zum postulierten Fachkräfteengpass in einigen Branchen an, dass es dort keine signifikanten Lohnerhöhungen gegeben habe, was somit nicht auf einen Nachfrageüberschuss auf Arbeitgeberseite schließen lasse.[55] Auch die BA gibt ebenso wie Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) an, dass „[o]ffene Stellen […] nicht gleichbedeutend mit einer Mangelsituation [, sondern] vielmehr Kennzeichen eines funktionierenden Arbeitsmarktes“[56] seien und „eine gewisse Diskrepanz von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von Friktionen [daher] völlig normal“[57] sei. Das IAB hat aktuell einen Forschungsbericht veröffentlicht, der auf dem vom IAB durchgeführten Betriebspanel und der IAB-Stellenerhebung fußt.[58] Darin kommt das IAB ebenfalls zu dem Ergebnis, dass „auf gesamtwirtschaftlicher Ebene nicht von einer Engpass- oder Mangelsituation gesprochen werden kann“[59]. Die Autoren gaben jedoch – ähnlich den Aussagen der BA – an, dass für einzelne Branchen und Berufsgruppen Stellenbesetzungsprobleme von den Betrieben gemeldet werden.[60] Dies gilt beispielsweise für die Dienstleistungsbranche, Pflege- und Erziehungsberufe sowie die Bereiche Elektrotechnik und Maschinenbau.[61]
Für die subjektive Wahrnehmung in den Betrieben spielen die Ergebnisse der Untersuchungen mit Blick auf diverse Unternehmensbefragungen außerdem nur eine untergeordnete Rolle, denn gemäß den Angaben aus dem IAB-Forschungsbericht lag der Anteil aller Unternehmen, die in den kommenden Jahren Probleme bei der Rekrutierung von geeigneten Fachkräften erwarten, im Jahr 2012 schon bei 64%.[62] Dies bedeutet einen Anstieg von 15% im Vergleich zu 2008 und einen Anstieg von immerhin 5% verglichen mit den Angaben aus 2010.[63] Laut dem KfA-Mittelstandspanel 2010 befürchtet jedes vierte KMU in Deutschland, offene Stellen nicht mit geeignetem Personal besetzen zu können.[64] Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK) gibt an, dass 2012 34% der im Rahmen des DIHK-Mittelstandsreports befragten KMU den Mangel an geeigneten Fachkräften als Gefährdung für die Unternehmensentwicklung wahrnehmen. Bei dieser Studie stellten Unternehmen aus der Dienstleistungsbranche sowie der Industrie mit 41% bzw. 30% den größten Anteil der Befragten dar.[65] Weitere 23% der befragten Unternehmen waren dem Handelssektor zuzuordnen.[66] Lediglich 6% waren in der Bauwirtschaft tätig.[67] Vor allem der Gesundheitssektor (63%), aber auch die Gruppe Gastgewerbe (52%), die in den Auswertungen der BA sowie des BMWi und BMAS nicht explizit genannt wird, und der Bereich der IT-Dienstleistungen (42%) nahmen das Risiko durch einen Mangel an Fachkräften in besonders hohem Maße wahr.[68]
Martin Hug befragte bereits im Jahr 2007 – also zur Zeit der EU-Finanzkrise – 324 Unternehmen. Davon kamen 20% aus den Bereichen Dienstleistung, Gesundheit und Gastronomie, 33% aus Industrie, Anlagenbau und dem Verarbeitenden Gewerbe und 18% aus Handel, Transport oder Verkehr. Daraus ergibt sich ein Anteil von 29% an sonstigen Branchen, die in der Studie nicht näher erläutert werden. Insgesamt gaben 70% der befragten Betriebe an, dass der Fachkräftemangel für sie einen wichtigen bis sehr wichtigen Stellenwert habe.[69] Ebenfalls hatten 70% Probleme bei der Stellenbesetzung.[70] Besonders betroffen zeigten sich hier die Branchen Fertigung/Produktion (36%), Forschung und Entwicklung (24%) und Marketing/Verkauf (22%).[71] Letztere Bereiche fanden in den Ausführungen von BA, BMWi und BMAS ebenfalls keine Erwähnung. In einer aktuellen Umfrage von Ernst & Young (EY), auf die sich das BMWi in seiner Veröffentlichung „Wirtschaftsmotor Mittelstand ‑ Zahlen und Fakten zu den deutschen KMU“ aus dem Jahr 2014 bezieht[72], wurde der Fachkräftemangel als zweithäufigste Sorge mittelständischer Betriebe genannt.[73] Befragt wurden 342 Unternehmen, von denen 43% im Dienstleistungssektor, 28% im Handel und je etwa 15% im Bereich Bau/Energie bzw. im Industriesektor tätig waren.[74] Von 42% der KMU wurde der Fachkräftemangel als größte Sorge für die weitere Geschäftsentwicklung wahrgenommen.[75] Nur die Sorge um erhöhte Energiepreise war mit 47% noch größer.[76] Bei der Frage in welchen Bereichen die Betriebe die größten Probleme sehen, vakante Stellen zu besetzen (Mehrfachnennungen waren erlaubt), wurden die Bereiche Technik/Produktion mit 32% und Marketing, Vertrieb sowie Kundendienst mit 26% am häufigsten genannt.[77] Der Bereich Technik/Leitung wurde zu 19% als betroffener Bereich genannt, IT/EDV kam ebenso wie der Bereich Finanzen auf 14% der Nennungen, Forschung und Entwicklung wurde nur von 9% der befragten Unternehmen angegeben.[78] Lediglich 8% der Unternehmen gaben an, im Bereich Produktentwicklung Probleme zu haben.[79] Sechs von zehn Unternehmen konnten somit nach eigenen Angaben ihre ausgeschriebenen Stellen mangels geeigneter Bewerbungen nicht besetzen und befürchteten aus diesem Grund weitere Einbußen von etwa 31 Milliarden Euro pro Jahr.[80] Bezogen auf die internationale Rekrutierung gaben hier 63% der Befragten an, dass sie eine „[v]erstärkte Zuwanderung zur Sicherung der Fachkräftebasis“[81] als eher wichtige bzw. sehr wichtige Maßnahme zur Stärkung der mittelständischen Unternehmen in Deutschland ansehen. EY gibt weiter an, dass derzeit rund 326.000 Stellen in Deutschland unbesetzt bleiben,[82] bezieht bei der Rechnung sowie bei der gesamten Analyse aber Unternehmen mit bis zu 2.000 Mitarbeitern ein.[83] Diese Grenze entspricht jedoch nicht der Definition des IfM, auf die sich das BMWi in seinen...