Das Recht der grünen Gentechnik in Europa wird von Strukturen, Rechtsquellen und Institutionen aus verschiedenen Ebenen und Rechtsgebieten geprägt. Es gibt horizontale Rechtsquellen auf der Ebene des Völkerrechts sowie horizontale und vertikale Regelungen auf den Ebenen des Europarechts und der jeweiligen nationalen Rechtsordnungen.
Die Grundsatzfrage im Kontext dieser Arbeit lautet: welches Recht geht im Fall eines konkreten Normenkonfliktes zwischen den Rechtsnormen, welche die grüne Gentechnik regeln bzw. diese betreffen, vor? Gegenstand dieses zweiten Kapitels ist eine grundsätzliche rechtstheoretische Darstellung der die grüne Gentechnik betreffenden Normen im sogenannten EU-Mehrebenen-System[263] bzw. innerhalb der „multi-level governance (MLG)“[264] der EU.
Erkenntnisse aus dieser Untersuchung sind einerseits die Basis für die im Kapitel 3 vorgenommene detaillierte Darstellung der konkreten Regelungen des grünen Gentechnikrechts auf den verschiedenen Ebenen; andererseit bilden sie auch die Grundlage für die im Kapitel 5 vorgeschlagenen Lösungsmodelle für die entstandenen Normenkonflikte.
Die grüne Gentechnik betrifft mehrere Teilrechtsordnungen des Völkerrechts, nämlich das Umwelt- und Wirtschaftsvölkerrecht sowie das internationale Patentrecht. Grundsätzlich stellt das Völkerrecht jene Rechtsordnung dar, welche die Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten untereinander regelt[265] und keiner nationalen Rechtsordung zuzuordnen ist.[266] Das Völkerrecht hat – im Gegensatz zum nationalen Recht sowie zum Europarecht – (noch) viel schwächere Strukturen, denn es gibt keine zentrale Instanz einer für alle Völkerrechtssubjekte verbindlichen und durchsetzbaren Rechtsordnung. Es wird von den Völkerrechtssubjekten selbst geschaffen, da ein zentraler Gesetzgeber fehlt. Ein wichtiges Strukturmerkmal des Völkerrechts ist der bloß horizontale Wirkung entfaltende Koordinationscharakter.[267]
Abgesehen vom ius cogens (zwingendes Recht, das nicht disponibel ist) existiert kein vertikaler Stufenbau, wie das in den nationalen Rechtssystemen sowie im Europarecht der Fall ist. Das Völkerrecht regelt konkrete Sachfragen,[268] denen in der Regel bereits ein bestehendes Zusammenwirken zwischen den Völkerrechtssubjekten vorausgeht (wie etwa im Bereich der Wirtschaft oder in Umweltbelangen). Das bedeutet, dass nur Vertragsparteien sowie die an der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beteiligten Völkerrechtssubjekte an die von ihnen geschaffenen Rechtsnormen gebunden sind.[269]
Völkerrecht wirkt somit – anders als nationales Recht oder Europarecht – nicht absolut, sondern nur relativ (Relativität des Völkerrechts).[270] Ein wichtiges Merkmal des Völkerrechts ist die mangelhafte Durchsetzbarkeit, da es keine obligatorische Gerichtsbarkeit für alle gibt.[271] Es existiert nur die fakultative Zuständigkeit von völkerrechtlichen Gerichten und Quasigerichten, die der ausdrücklichen Anerkennung durch die Streitparteien bedürfen.
Das Völkerrecht kennt auch keine generellen Exekutivorgane für sämtlichen völkerrechtliche Teilrechtsordnungen, welche die Einhaltung von Rechtsnormen und Entscheidungen (Urteile) durchsetzen könnten. Damit ist sein dezentralsierter Charakter angesprochen, da die Völkerrechtssubjekte teilweise darauf angewiesen sind, das Völkerrecht z.B. durch Retorsion oder Repressalie selbst durchzusetzen.[272]
Wie bereits erwähnt, sind im Kontext der grünen Gentechnik neben dem allgemeinen Völkerrecht drei Teilrechtsordnungen maßgebend: das Umweltvölkerrecht, das all jene völkerrechtlichen Normen umfasst, die dem Schutz der Umwelt gewidmet sind. Weiter ist das Wirtschaftsvölkerrecht relevant, worunter jene völkerrechtlichen Normen und Grundlagen zu verstehen sind, die transnationale Wirtschaftstätigkeiten regeln. Und, drittens, ist das internationale Patentrecht von Wichtigkeit, das sich mit den Komponenten des geistigen Eigentumsschutzes auf internationaler Ebene auseinandersetzt.
Zwischen den einzelnen völkerrechtlichen Teilrechtsordnungen (wie etwa Umwelt-, Wirtschafts- und Patentrecht) besteht grundsätzlich keine derogatorische Wirkung. Abgesehen vom ius cogens stehen alle Teilrechtsordnungen des Völkerrechts auf derselben Stufe. Normenkonflikte werden grundsätzlich mit Hilfe der Kollisionsregeln[273] – lex posterior derogat legi priori und lex specialis derogat legi generali – gelöst. D.h. jüngeres Recht derogiert älteres und spezielleres derogiert generelleres Recht.
Beim Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht wird grundsätzlich zwischen zwei Theorien, nämlich dem Monismus und dem Dualismus, unterschieden. Der Monismus[274] geht von der Einheit des Völkerrechts und dem nationalen Recht aus; er unterscheidet – abhängig vom Vorrang einer der beiden Rechtsordnungen – zwischen Monismus mit Völkerrechtprimat[275] einerseits und Monismus mit Primat des nationalen Rechts[276] andererseits.
Der Monismus mit Völkerrechtsprimat wird wiederum in einen radikalen und einen gemäßigten Monismus unterteilt. Laut radikalem Monismus ist jeder völkerrechtswidrige Hoheitsakt (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsakt) nichtig.[277] Nach dem gemäßigten Monismus bleibt der völkerrechtswidrige nationale Hoheitsakt zunächst innerstaatlich gültig, kann jedoch betreffend Prüfung der Völkerrechtskonformität vor ein völkerrechtliches Gericht gebracht werden und ist somit vernichtbar. Das Völkerrechtsgericht wendet als Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit ausschließlich Völkerrecht an.[278]
Der Dualismus[279] hingegen geht von der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit der Völkerrechtsordung und der nationalen Rechtsordnung aus; er wird wiederum unterteilt in einen radikalen und einen gemäßigten Dualismus. Die Verschiedenartigkeit betrifft den Geltungsgrund, die unterschiedlichen Strukturen (Koordinationsrecht versus Subordinationsrecht) sowie die unterschiedlichen Rechtssubjekte und Regelungsmaterien.
Der radikale[280] Dualismus geht von einer vollständigen Trennung von Völkerrecht und nationalem Recht aus, jedoch gibt es laut dieser Theorie einige Berührungspunkte der Rechtsordnungen zueinander.
Der gemäßigte[281] Dualismus basiert ebenfalls auf der grundsätzlichen Trennung beider Rechtsordnungen, lässt aber Konfliktfälle im Fall von gegenseitigen Bezugnahmen, Verweisen und Umwandlungen von Normen der einen in die andere Rechtsordung zu. Diese Normenkonflikte sind im Völkerrecht im Wege von Kollisionsregeln (lex posterior-, lex specialis-Regel) lösbar. In Deutschland z.B. wird in der herrschenden Lehre (h. L.) die Theorie des gemäßigten Dualismus, in Österreich hingegen mehrheitlich der gemäßigte Monismus vertreten.[282]
In welcher Weise die Rechtsordnungen des Völkerrechts im Verhältnis zum jeweiligen nationalen Recht der europäischen Staaten stehen, ist abhängig von der jedem Staat zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen Ausgestaltung dieser Frage. Ihre erschöpfende Behandlung würde den Umfang dieser Arbeit sprengen. Die zwischen Völkerrecht und nationalem Recht auftretenden Normenkonflikte bzw. Normenverhältnisse werden daher nur in einigen ausgewählten Fallstudien zur grünen Gentechnik im Rahmen des Kapitels 4 behandelt.
II.1. Allgemeines
Art. 38 Abs. 1 lit. a-c des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut)[283] enthält den klassischen Rechtsquellenkatalog des Völkerrechts. Laut h. L. stellen die in dieser Quelle aufgelisteten Kategorien, nämlich die völkerrechtlichen Verträge (VR-Verträge), das Völkergewohnheitsrecht (VGR) und die allgemeinen Rechtsgrundsätze (ARG) die „Primärquellen“[284] des Völkerrechts dar. Neben dieser „beispielhaften Kodifikation der formellen Quellen“[285] gibt es aber noch eine Reihe anderer Völkerrechtsquellen, wozu unter anderem die verbindlichen Beschlüsse internationaler Organisationen sowie einseitige Rechtsgeschäfte zählen.
Die in Art. 38 Abs. 1 lit. d genannten Kategorien Rechtsprechung und Lehre hingegen sind keine Völkerrechtsquelle, sondern bloß Hilfmittel zur Festellung von Rechtsnormen (Rechtserkenntnisquelle). Zwischen den einzelnen formellen Völkerrechtsquellen herrscht grundsätzlich keine Rangordnung. Es besteht relative Einigkeit darüber, dass der Aufbau des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut keine...