DIE FAMILIE
1473–1547
Habe Geduld und höre meine Erlebnisse nach der Ordnung; denn so werden sie dir mehr Vergnügen machen, wenn dich nicht etwa der Wunsch plagt, die Mitte eher zu erfahren als den Anfang.
(Novelle und Zwiegespräch, das sich begab zwischen Cipión und Berganza)
Cordobeser Glaubenskämpfe
Die Geschichte der Vorfahren von Miguel de Cervantes ist eng verbunden mit den Glaubenskämpfen und der Auseinandersetzung zwischen Konvertiten und Inquisition in Córdoba. Eingeführt im Jahr 1478 auf Betreiben der katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón, lag der geistige Ursprung der spanischen Inquisition im Misstrauen gegen die konvertierten Juden und Muslime. Man warf den Zwangsgetauften vor, nur zum Schein zum Christentum übergetreten zu sein, und verdächtigte sie, die Riten ihrer angestammten Religion weiterhin heimlich zu praktizieren. Dabei spielte zweifellos auch Neid eine Rolle, schließlich hatten getaufte Juden oft wichtige Positionen in der Verwaltung, den Wissenschaften und der medizinischen Versorgung inne. Insbesondere in Südspanien, wo in den ehemals muslimischen Städten viele Konvertiten lebten, war es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen diesen und den Altchristen gekommen. So verhielt es sich auch in Córdoba, das für die spanische Inquisition im frühen 16. Jahrhundert zu einem Brennpunkt wurde. Vorfahren von Miguel de Cervantes waren daran als Opfer und als Täter beteiligt.
Franz Hogenberg, Córdoba, Radierung für Georg Brauns Civitates Orbis Terrarum (1572–1618), Genua, Marinemuseum
Am 14. März 1473 zog die Cofradía de la Caridad, eine Bruderschaft von Altchristen, mit einer Statue der heiligen Jungfrau durch einen Stadtteil, der von conversos bewohnt war. Als die Prozession die noch heute als La Cruz del Rastro bekannte Straßenkreuzung überquerte, goss ein Mädchen vermutlich versehentlich von einem Fenster aus Flüssigkeit auf die Statue und provozierte damit eine blutige Auseinandersetzung. Die Männer der Prozession behaupteten, sie habe die Statue absichtlich mit Urin beschmutzt und begannen, die Häuser der Konvertiten anzugreifen und zu plündern. Ein Cordobeser Würdenträger und Ahne von Miguel de Cervantes, der converso Pedro de Torreblanca, versuchte zu vermitteln, wurde aber vom aufgebrachten Mob selbst schwer verletzt, einzelnen Quellen zufolge sogar erstochen.[1] Aus diesem Zusammenstoß wurde ein heftiger Aufruhr, der rasch auf die Landbevölkerung übergriff und den obersten städtischen Amtsträger zwang, im Alcázar, der Festung, Zuflucht zu suchen. Fast zwei Jahre dauerten die Unruhen, denen Hunderte Menschen zum Opfer fielen.
Als Folge dieser Vorkommnisse kam es zu weiteren Pogromen und Restriktionen. 1482 wurde das erste dauerhafte Tribunal der spanischen Inquisition im Alcázar Córdobas eingerichtet, um Kryptojuden und Ketzer aufzuspüren. Mit der Berufung des Inquisitors Diego Rodríguez de Lucero im Jahr 1499 verschlimmerten sich die Nachstellungen auf ungeahnte Weise, nicht zuletzt deshalb, weil Lucero sein Amt gezielt missbrauchte. Luceros Laufbahn zeichnete sich durch Versuche aus, wohlhabende Bürger unter spitzfindigen, oft haltlosen Vorwürfen zu verhaften. So konnte er deren Eigentum konfiszieren, das durch Beschlagnahme dem Tribunal zufiel. Gedeckt durch einen königlichen Beamten verbreitete er in Córdoba Angst und Schrecken. Einen Höhepunkt erreichte sein Terrorregime, als er im Jahr 1504 in einem einzigen Autodafé 107 Menschen auf der Plaza de la Corredera verbrennen ließ. Das angebliche Vergehen der Delinquenten bestand darin, der Predigt eines Juden beigewohnt zu haben. Lucero propagierte eine Verschwörungstheorie, wonach das christliche Spanien von conversos komplett vernichtet werden sollte. Er häufte große Reichtümer an und agierte immer selbstherrlicher, ehe sich geballter Widerstand formierte. 1508 wurde er auf Befehl des Generalinquisitors abgesetzt und in Ketten nach Burgos geführt, konnte jedoch seinen Lebensabend unbehelligt in Sevilla verbringen.[2]
Streitlust und Dominanz: Juan de Cervantes
Zu den Mitarbeitern Luceros in Córdoba gehörte auch Juan de Cervantes (um 1477–1556), der Großvater des Don Quijote-Autors. 1502 hatte Juan de Cervantes eine Tätigkeit als Abogado del Real Fisco de la Inquisición aufgenommen: Als Anwalt und Finanzbeamter der Inquisition war er für die Konfiskationen zuständig und damit zweifellos in die Machenschaften Luceros verwickelt. Welche Rolle er dabei genau spielte, ist mangels Dokumenten nicht bekannt. Lediglich eine Archivalie ist überliefert, aus der hervorgeht, dass Juan de Cervantes im Juni 1502 als Anwalt der Inquisition gegen einen Geschworenen intervenierte, der sich die Häuser einer verhafteten Jüdin angeeignet hatte.[3] Juan de Cervantes bestritt die Rechtmäßigkeit der Inbesitznahme und forderte die Häuser für die Inquisitionsbehörde ein, verlor aber den Prozess. Anfang 1509 verließ er Córdoba, wohl auch infolge des öffentlichen Drucks auf die ehemaligen Mitarbeiter Luceros. Wenig später wurde er Stellvertreter des königlichen Verwalters in Alcalá de Henares, einer Stadt in der Nähe von Madrid.
Dass er selbst oft skrupellos war, beweist sein aktenkundiges Fehlverhalten in zahlreichen Fällen. Juan de Cervantes’ Sündenregister in späteren Jahren reicht von Amtsmissbrauch, Unterschlagung, illegalen Festnahmen bis hin zu Folterungen. Zwar ist durchaus möglich, dass manche Anschuldigungen keine reale Grundlage hatten, da die Gerichtsbarkeit auf lokaler Ebene oft korrupt war und Diffamierungen täglich vorkamen. Doch die schiere Quantität der Vorwürfe lässt vermuten, dass sich Juan de Cervantes in seinen verschiedenen Ämtern tatsächlich fragwürdig verhielt. Am 14. April 1524 sagte ein gewisser Diego Cordido in Cuenca aus, Juan de Cervantes habe ihn nicht nur ungerechtfertigt ins Gefängnis geworfen, sondern ihn dort auch eigenhändig gefoltert.[4] Andere klagten, er habe sie eigenmächtig von der Kandidatenliste für städtische Ämter gestrichen. Sein Koch forderte ausstehenden Lohn ein. Eine Frau beschwerte sich, Juan de Cervantes habe ihr das Bettzeug weggenommen, das sie ihrem inhaftierten Mann zukommen lassen wollte. Hinweise auf Juans cholerischen Charakter, seine Impulsivität und sein bisweilen brutales und ungerechtes Vorgehen gibt es viele. Doch die belastenden Zeugenaussagen scheinen ihm bei seinen Vorgesetzten nicht geschadet zu haben – im Gegenteil, mit den Mächtigen wusste er sich zu arrangieren. Juan de Cervantes wurde regelmäßig mit hohen Ämtern betraut und fand Fürsprecher, die ihm seine Ehrbarkeit schriftlich bestätigten. 1550, Jahrzehnte nach dem Interregnum Luceros, wurde er wieder für die Inquisition in Córdoba tätig, diesmal als Richter für die konfiszierten Güter des Tribunals.
Aus dem langen Leben von Miguel de Cervantes’ Großvater – Juan starb 1556 und wurde fast 80 Jahre alt – sind der Nachwelt 288 Rechtsdokumente überliefert, leider jedoch keine persönlichen Schreiben, die Aufschluss über seinen Charakter geben könnten.[5] Er war der Sohn von Ruy Díaz de Cervantes, einem in Córdoba ansässigen Tuchhändler, wo er um 1477 zur Welt gekommen war. Mit der Tätigkeit seines Vaters, die ortsgebunden war und vorwiegend in jüdischen Händen lag, wollte sich der junge Mann nicht zufriedengeben. Juan de Cervantes schlug die juristische Laufbahn in Salamanca ein und beendete sie als Lizenziat der Rechte. Nach seinem Examen war er Anwalt und Beamter in einem Dutzend Städten, von Córdoba bis Cuenca. Ende 1503 oder zu Beginn des Jahres 1504 heiratete er Leonor Fernández de Torreblanca, eine Verwandte jenes Pedro de Torreblanca, der sich 1478 in Córdoba noch zwischen die Fronten gestellt hatte. Ihrer eigenen Aussage nach konnte sie nicht schreiben, brachte aber, was Juan de Cervantes wichtiger gewesen sein dürfte, die stattliche Mitgift von 50.000 Maravedis in die Ehe ein.[6] War seine Tätigkeit als Anwalt bislang schlecht bezahlt gewesen, hatte er nun eine gute Partie gemacht. Die Ehe, aus der die Kinder Juan, Rodrigo, María, Andrés und Catalina hervorgingen, scheint zumindest in späteren Jahren nicht harmonisch gewesen zu sein. 1541 verließ Juan Leonor und lebte kurze Zeit später mit seiner Haushälterin zusammen.
Juan de Cervantes’ Geschäftstüchtigkeit, gepaart mit einer gehörigen Portion Unverfrorenheit, wurde in den Jahren 1527 bis 1531 in Guadalajara ersichtlich, wo er den Grundstein für sein späteres Vermögen legte. Dort leistete er gut bezahlte Kupplerdienste für seinen Herrn, Diego Hurtado de Mendoza, den Herzog von Infantado, der verwitwet war, sich in eine Nichtadelige verliebt hatte und sie heimlich heiratete. Als der Herzog 1531 starb, zog Juan den Ärger der herzoglichen Söhne auf sich. Diese wussten nicht, dass ihr Vater ihrer Stiefmutter ein Fünftel seines gesamten Vermögens vermacht hatte und machten Juan für die entsprechende Verringerung der Erbsumme verantwortlich. Dass Juans Tochter María...