3. Reimpaardichtung
3.1 Übersicht
Die erzählende, dramatische und lehrhafte Dichtung des Mittelalters ist wesentlich, in Teilen sogar ausschließlich, durch den Endreim bestimmt, den gegen Ende des 9. Jahrhunderts erstmals Otfried von Weißenburg in einem Werk größeren Umfangs durchgehend verwendet. Als Vorbild haben wahrscheinlich die binnengereimten (‹leoninischen›) Hexameter der frühchristlichen Epik gedient. Nachdem dann eine ganze Weile lang (soweit wir wissen) vor allem lateinisch geschrieben worden ist, setzt gegen Ende des 11. Jahrhunderts das Dichten in Reimpaaren aufs neue ein. Die zunächst noch ziemlich ungefügen Verse gewinnen mit der Zeit beträchtlich an Glätte und Eleganz – bis hin zu den streckenweise geradezu jambischen Vierhebern im Spätwerk Konrads von Würzburg.
3.2 Prosodie
Die Prosodie der altdeutschen Endreimdichtung faßt einen Teil des Wortmaterials in Reimgruppen zusammen, zu deren Bildung zunächst schon eine ungefähre Übereinstimmung der Schlußsilben genügt. Entsprechend reimen im Evangelienbuch Otfrieds von Weißenburg etwa «fram» auf «arm», «hant» auf «gizalt», «ander» auf «mêr», «got» auf «nôt» – und zum Beispiel «alle» nicht nur auf «falle», sondern ebenso auf «snelle», «wille», «wolle», ja auf «thanne» und «giwerre» sowie auf sich selbst. Im Hinblick auf die Versbildung kommt es außer auf Anzahl und Lage der Tonsilben auch auf deren Länge oder Kürze an – weshalb zum Beispiel «singen» und «săgen» nicht von vornherein äquivalent sind. Dabei gelten als ‹kurz› nur die auf kurzen Vokal ausgehenden (‹offenen›) Silben: «săgen». Eine ‹lange› Silbe kann entweder ‹naturlang› sein, durch langen Vokal oder Diphthong: «lägen», «lāogen», oder ‹positionslang›, wenn einem kurzen Vokal mindestens ein Konsonant folgt: «măn», «hănt».
3.3 Versifikation
Dem Dichten in Reimpaaren liegt, aufs Ganze gesehen, nur eine Regel zugrunde: daß je zwei aufeinanderfolgende Segmente des Textes (die eben dadurch als Verse zu erkennen sind) durch Endreim miteinander verbunden werden. Das Reimgeschlecht des Paares (einsilbig oder zweisilbig, männlich oder weiblich) spielt keine Rolle; zunächst sind auch weder Reinheit des Reims noch gleiche Länge der Verse verlangt. Insofern ähneln die Reimpaare des frühen Mittelalters großenteils dem sogenannten Freien Knittelvers der frühen Neuzeit.
Aus dem ‚Leben Jesu’ der Frau Ava (um 1100):
Do er do zwene tage
gerŏwet in dem grabe,
in der friste
do zestorte er die helle ueste.
er uùr mit levven chreften,
die grintel mùsen bresten.
Als er da zwei Tage
in dem Grab geruht hatte,
in dieser Zeit
zerstörte er die Höllenfestung.
Er fuhr [hinein] mit Löwenkraft,
die Riegel mußten bersten.
Aus dem ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad (um 1170):
do gedachte der haiden:
«unter disen uir stainen
da erstirbet Rŏlant.
Durndarten nim ich ze miner hant
unt Oliuantem.
so sage ich dem lante,
daz wir gesiget haben
unt ich habe Rŏlanten erslagen.
des frùt sich imer mere
elliu arabiskiu erde.»
Dieser Heide dachte:
«Zwischen diesen vier Steinen
wird Roland sterben.
Dann nehme ich Dumdart
und Olifant
und melde zuhause,
daß wir gesiegt haben
und ich es war, der Roland erschlug.
Das wird alle arabischen Länder
mit nicht endendem Jubel erfüllen.»
Erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts bildet sich das Ideal des ‹reinen› Reims und der ‹gleichen› Verse heraus, und erst um 1300 gibt Heinrich von Hesler auch die Regeln an, nach denen sich (wie er meint) die «meister» gerichtet haben. Ausdrücklich verboten wird der vokalisch unreine Reim. Ein korrekter Vers soll mindestens sechs und höchstens zehn Silben umfassen, im Regelfall aber sieben bis neun – enthält also gewöhnlich nicht weniger und nicht mehr als drei oder vier Haupt- oder Nebentonsilben. Der Grundsatz dieses Dichtens, den man aber nirgends ausgesprochen findet, scheint zu lauten: Im Vers sind Anzahl und Gewicht der Silben einander umgekehrt proportional. Also: Je länger der Vers, desto leichter, im Durchschnitt, die Silben – und umgekehrt. Die mediävistische Verslehre (seit Lachmann) verfährt da etwas anders. Sie orientiert sich statt am feststellbaren Bau am mutmaßlichen Vortrag der Verse und faßt in der Annahme, daß auch eine unbetonte Silbe ‹gehoben› werden kann, wenn sie auf eine lange betonte Silbe folgt, die Reimpaarverse schon in Otfrieds Evangelienbuch, erst recht aber in den Dichtungen der ‹klassischen› Periode als viertaktig (Heusler) oder doch wenigstens als vierhebig auf. Im folgenden werden diese Hebungsstellen durch Unterstreichnung bezeichnet.
Aus der ‹Eneide› Heinrichs von Veldeke:
Du der kamp gelovet was,
des Turnus ende Eneas
beide kume erbeidden
ende sich dar tu bereidden
bit manliken sinne,
du was die koninginne
eines avundes spade
in here kemenaden.
Aus dem ‹Armen Heinrich› Hartmanns von Aue:
Ein ritter so geleret was
daz er an den buochen las
swaz er dar an geschriben vant;
der was Hartman genant,
dienstman was er ze Ouwe.
er nam ime manege schouwe
an mislichen buochen.
Kennzeichen dieser Versgestaltung sind neben der ‹gespaltenen› Hebung («săgě») insbesondere die ‹beschwerte Hebung› im Versinnern («manliken», Hartman») und die ‹klingende Kadenz› am Versende («sinne», «Ouwe») – Erscheinungen, die vorzugsweise dann bemerkt werden, wenn sich bei sprachgerechter Messung nur drei Hebungen ergäben. Reichen selbst diese Mittel nicht aus, wird bisweilen auch ‹pausierte Hebung› oder ‹stumpfe Kadenz› angenommen:
Nicht selten erlauben die Verse mehr als eine Skansion – zumal in der Behandlung des Auftakts: der auch eine Haupttonsilbe enthalten kann, sowie bei der Bestimmung des Schlusses: weil zwischen zweisilbig klingender («singen») und weiblich voller Kadenz («singen») sprachlich kein Unterschied besteht. Darum bleibt zum Beispiel offen, ob man «gote unde der werlt bewœren» oder (mit ‹Hiat›) «gotẹ unde der werlt bewœren» zu messen hat.
In der Epik der klassischen Zeit stehen vor der ersten Hebung (im ‹Auftakt›) höchstens zwei Silben («eines avundes»); auslautendes e wird vor vokalischem Anlaut in der Regel ‹elidiert› («ze Ouwe»). Die bei Gottfried von Straßburg, dann bei Konrad von Würzburg streckenweise auftretende ‹Alternation› von je einsilbiger Hebung und Senkung regiert jedoch noch in keinem Fall das Ganze eines Werks.
Aus dem ‹Tristan› Gottfrieds von Straßburg:
daz ich nie
ze keinem manne muot gewan
und hiutẹ und iemer alle man
von minem herzen sint verspart
niwan der eine, dem da wart
der erste rosebluome
von minem magetuome.
Aus dem ‹Trojanerkrieg› Konrads von Würzburg:
Was sol nu sprechen unde sanc?
man seit ir beider cleinen danc,
und ist ir zware doch unvil,
die mit getihte fröuden spil
den liuten bringen unde geben.
man siht der meister wenic leben,
die singen oder sprechen wol.
da von mich wunder nehmen sol,
daz beide richẹ und arme sint
an eren worden also blint,
daz si die wisen ringe wegent,
die wol gebluomter rede pflegent,
die schoene ist und waehe.
Gern gebrauchte Kunstmittel sind die ‹Reimbrechung›: wenn ein Satzschluß genau in die Mitte des Reimpaars...